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Stenographisches Protokoll

 

 

 

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835. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich

 

 

Dienstag, 2. Dezember 2014

 

 


Stenographisches Protokoll

835. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich

Dienstag, 2. Dezember 2014

Dauer der Sitzung

Dienstag, 2. Dezember 2014: 12.03 – 14.03 Uhr

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Tagesordnung

Erklärung gemäß § 38a GO-BR des EU-Kommissars Dr. Johannes Hahn über seinen neuen Aufgabenbereich

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Inhalt

Personalien

Verhinderungen ................................................................................................................ 2

Verhandlungen

Erklärung gemäß § 38a GO-BR des EU-Kommissars Dr. Johannes Hahn über seinen neuen Aufgabenbereich .............................................................................................................. 2

Durchführung einer Debatte gemäß § 38a GO-BR ......................................................... 8

Dr. Johannes Hahn ........................................................................................................ 3

Debatte:

Gottfried Kneifel ..................................................................................................... ....... 8

Mag. Daniela Gruber-Pruner ................................................................................. ....... 9

Monika Mühlwerth .................................................................................................. ..... 11

Marco Schreuder .................................................................................................... ..... 12

Mag. Gerald Zelina .................................................................................................. ..... 14

Edgar Mayer ............................................................................................................ ..... 15

Ana Blatnik .............................................................................................................. ..... 17

Gerd Krusche .......................................................................................................... ..... 18

Efgani Dönmez, PMM ............................................................................................. ..... 19

Günther Köberl ....................................................................................................... ..... 20

Rene Pfister ............................................................................................................. ..... 22

Hans-Jörg Jenewein ............................................................................................... ..... 23

Dr. Heidelinde Reiter .............................................................................................. ..... 24

Dr. Johannes Hahn ................................................................................................. ..... 26


 


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 2

12­.02.37 Beginn der Sitzung: 12.03 Uhr

 


Präsidentin Ana Blatnik: Ich eröffne die 835. Sitzung des Bundesrates.

Die restlichen, nicht verlesenen Teile des Amtlichen Protokolls der 834. Sitzung des Bundesrates vom 6. November 2014 sind aufgelegen, unbeanstandet geblieben und gelten daher als genehmigt.

Als verhindert gemeldet sind die Mitglieder des Bundesrates Ing. Hans-Peter Bock, Gerhard Dörfler, Ilse Fetik, Mag. Susanne Kurz, Michael Lampel, Ewald Lindinger, Elisabeth Reich, Stefan Schennach und Werner Stadler.

*****

 


Präsidentin Ana Blatnik: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Spoštovane dame in gospodje! Der Lissabon-Vertrag ist nahezu auf den Tag genau vor fünf Jahren am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten. Es freut mich daher sehr, dass die Mitglieder des Bundesrates im Rahmen einer aus diesem Anlass außerplanmäßig einberufenen Sitzung des Bundesrates die Gelegenheit erhalten, mit dem österreichischen EU-Kommissar Dr. Johannes Hahn über aktuelle europäische Fragen zu diskutieren.

Lieber Herr EU-Kommissar, ich begrüße Sie in unserer Mitte! Herzlich willkommen! (All­gemeiner Beifall.)

Mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist es dem öster­reichischen Bundesrat in eindrucksvoller Weise gelungen, im Wege des Subsidiaritäts­verfahrens den politischen Dialog mit der Europäischen Kommission nachhaltig umzusetzen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Europäisierung der Debatten in der österreichischen Länderkammer zu leisten.

In einer jüngst veröffentlichten Studie zur Umsetzung der Subsidiaritätskontrolle wird das österreichische Verfahren unter besonderer Bedeutung des Bundesrates als europaweites Best-Practice-Modell hervorgehoben. Aber nicht nur der österreichische Bundesrat feiert sein 5-Jahre-Jubiläum als Europakammer, sondern auch unser österreichischer Vertreter in der Kommission feiert heute ein ganz persönliches Jubiläum. Ich darf daher Ihnen, Herr EU-Kommissar Dr. Johannes Hahn, von dieser Stelle aus sehr herzlich zum Geburtstag gratulieren. Im Namen des Bundesrates möchte ich Ihnen eine Kleinigkeit übergeben. Wenn Sie alle unsere Richtlinien unterschreiben, dass Sie an den österreichischen Bundesrat denken. (Allgemeiner Beifall. – Präsidentin Blatnik überreicht EU-Kommissar Hahn ein Präsent.)

12.05.471. Punkt

Erklärung gemäß § 38a GO-BR des EU-Kommissars Dr. Johannes Hahn über seinen neuen Aufgabenbereich

 


Präsidentin Ana Blatnik: Wir gelangen damit zum ersten und einzigen Tagesord­nungs­punkt. Es ist dies eine Erklärung gemäß § 38a der Geschäftsordnung des Bun­desrates des EU-Kommissars Dr. Johannes Hahn über seinen neuen Aufgabenbe­reich.

Bevor ich nun dem Herrn EU-Kommissar das Wort erteile, gebe ich darüber hinaus bekannt, dass gemäß § 38a GO-BR im Anschluss an diese Erklärung eine Debatte stattfinden wird.

Erheben sich Einwendungen gegen die Tagesordnung? – Das ist nicht der Fall.


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 3

Es wurde in der Präsidialkonferenz Einvernehmen darüber erzielt, dass die Debatte zirka 90 Minuten nicht überschreiten soll, wobei jeder Fraktion drei Red­ner/Red­nerinnen zu je 5 Minuten zustehen. Der Bundesrat ohne Fraktion kann sich einmal 5 Minuten zu Wort melden.

Ich erteile nunmehr Herrn EU-Kommissar Dr. Hahn das Wort.

 


12.06.48

Dr. Johannes Hahn (EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erwei­terungsverhandlungen): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielen herzlichen Dank für die Einladung, hier mit Ihnen über die aktuelle Situation in Europa, in der Europäischen Union zu reden. Ich freue mich, dass ich wieder einmal da sein darf, das ist so wie „coming home“. Ich habe den Bundesrat immer als das „Wohn­zimmer“ des österreichischen Parlaments empfunden, weil hier eine sehr angenehme Arbeitsatmo­sphäre herrscht. (Beifall bei der ÖVP sowie bei Bundesräten der SPÖ.)

Ich möchte meinen Dank auch damit verbinden und zum Ausdruck bringen, dass ich Ihnen ganz herzlich danken, aber auch gratulieren möchte für Ihr Engagement, sich mit Angelegenheiten innerhalb der Europäischen Union zu beschäftigen. Das ist nicht selbstverständlich. Es geht hier aus meiner Warte um eine immer kritische, aber durchaus positive Auseinandersetzung.

Seit dem Vertrag von Lissabon haben ja die Länderparlamente, die Länderkammern auch die Aufgabe, sich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips in die Diskussion, in die Entscheidungsfindung einzubringen. Und wir erleben Gott sei Dank eine zunehmende Zahl von Stellungnahmen der nationalen Parlamente. Seit 2006 haben wir etwa 600 dieser Stellungnahmen aus ganz Europa erhalten. Und ich freue mich sagen zu können, dass von Österreich eine erhebliche Zahl gekommen ist. Hier Lob, Anerken­nung und Respekt von mir: Der Bundesrat hat 60 Stellungnahmen abgegeben, der österreichische Nationalrat 31. Also es steht ungefähr 1 : 2. Herzliche Gratulation! Bitte fahren Sie in dieser Art und Weise fort!

Zweitens: Wir haben seit wenigen Wochen eine neue Kommission. Wir haben seit gestern einen neuen Vorsitzenden des Europäischen Rates. Wir haben seit Anfang Juli ein neu gewähltes Europäisches Parlament. Es ist auf europäischer Ebene Usance, dass alle wesentlichen Institutionen, Körperschaften um die gleiche Zeit, durchaus als Folge der europäischen Wahlen, bestellt, nominiert werden, sodass wir jetzt auf fünf Jahre Arbeit voraussehen und uns darauf einstellen können. Und das ist auch ganz wichtig, dass hier eine entsprechende Kontinuität gegeben ist.

Wir haben eine neue Kommission. Eine Kommission, die auch in ihrer Arbeitsweise, Zusammensetzung durchaus Neuland betritt. Es ist für uns alle spannend, auch spannend für die, die die Ehre haben, noch ein zweites Mandat machen zu dürfen. Ehrlich gesagt, die Zahl derer, die sozusagen überlebt haben und auch in der neuen Kommission tätig sein dürfen, ist überschaubar: von den 28 sind es 5. Das ist aber auch den erheblichen politischen Umwälzungen in Europa in den letzten Jahren sicher­lich unter dem Eindruck der Krise zu schulden. Wir haben von den 28 Regierungen, die in den letzten Jahren sich Wahlen stellen mussten, 22, wo es zu einem kompletten Wechsel gekommen ist, und in den restlichen sechs hat es entweder eine Kontinuität im Amt des Premierministers gegeben, oder die Regierungskonstellation hat sich ver­än­dert, und der Premier ist geblieben. Ich glaube, es gibt nur zwei Länder, Österreich ist eines davon, wo die Regierung inklusive dem Kanzler wiedergewählt wurde, und das zeigt doch die entsprechenden Verwerfungen, mit denen wir uns in Europa konfrontiert sehen.

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wenn Sie fünf Jahre Kommissar sind, dann erleben Sie in manchen Mitgliedsländern eine erhebliche Zahl von sogenannten Vis-à-vis-


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 4

Ministern, die Sie begrüßen dürfen. Manchmal habe ich aufgehört zu zählen, aber das ist auch eine besondere Form der Herausforderung. Deswegen ist es notwendig, so viel wie möglich Kontinuität zu haben, denn Kontinuität heißt auch Expertise, heißt Wissen, heißt institutionelles Gedächtnis, und bei der Führung einer Institution wie der Europäischen Union ist das sicherlich etwas nicht unerheblich Wichtiges.

Präsident Juncker, der neue Kommissionspräsident hat entschieden, die Kommission etwas anders zu strukturieren. Erstens ist es mir aber wichtig zu betonen, nach wie vor gilt logischerweise, dass jeder Kommissar, jede Kommissarin eine Stimme hat und es diesbezüglich keine Veränderungen gegeben hat. Zweitens ist wichtig, in Erinnerung zu rufen, dass alle Entscheidungen auf europäischer Ebene kollegial zu treffen sind, also mit Zustimmung, Konsultierung aller Kommissarinnen und Kommissare.

Drittens, und das ist schon das Interessante und sicherlich Herausfordernde: Juncker hat, wie ich meine, zu Recht festgelegt, dass wir uns auf europäischer Ebene mit einigen wenigen Themen, aber dafür umso intensiver zu beschäftigen haben. Das ist natürlich die Frage der wirtschaftlichen Konsolidierung, der wirtschaftlichen Neuaus­richtung, aber auch der sozialen Dimension. Ein dritter Bereich ist der gesamte Bereich der Digitalen Agenda, etwas, was, wie ich glaube, auf der politischen Seite in seiner Bedeutung noch nicht ausreichend registriert worden ist. Von würdigen brauchen wir nicht zu reden, aber sich damit zu beschäftigen, das hat in der bisherigen Form, glaube ich, noch nicht so stattgefunden. Hier sehen wir ganz massive technologische Herausforderungen und Spannungen, etwa mit unseren amerikanischen Freunden.

Und ein vierter Bereich, der logischerweise wieder an Bedeutung gewinnt, und da komme ich jetzt zu meinem engeren Wirkungsfeld, das ist die europäische Außen- und Sicherheitspolitik, wo die Nachbarschaftspolitik und die Erweiterungsverhandlungen einen zentralen Rahmen unserer Arbeit darstellen.

Vor wenigen Tagen hat Jean-Claude Juncker im Europäischen Parlament in Straßburg das 315-Milliarden-Investitionspaket präsentiert. Da geht es ganz einfach darum, und auf das wollte ich noch einmal aufmerksam machen, die europäische Wirtschaft zu stimulieren, zu unterstützen, zu pushen, hier Arbeitsplätze zu schaffen, aber auch durch die Unterstützung der Gründung neuer Unternehmen zusätzliche Arbeitsplätze zu generieren.

Wir haben ja in Europa eine sehr unterschiedliche Entwicklung oder Situation der industriellen Ausgestaltung. In Mittel- und Nordeuropa haben wir einen etwa doppelt so hohen Industrialisierungsgrad wie im Süden. Wir haben in Mittel- und Nordeuropa auch eine wesentlich bessere Diversifizierung der Wirtschaft. Wir haben eine viel stärkere Forschungs- und Innovationsgetriebenheit. Daher ist nicht ganz durch Zufall die Arbeitslosensituation in Mittel- und Nordeuropa eine wesentlich bessere, als das in Südosteuropa der Fall ist.

Daher besteht da eben die Notwendigkeit – wir haben das auch schon in der Ver­gan­genheit versucht –, mit den Möglichkeiten der Regionalpolitik hier ganz intensiv auf die Entwicklung der einzelnen Regionen und ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten uns hier auszurichten und zu konzentrieren. Ich hoffe, mit dieser Maßnahme kann ein wesent­licher zusätzlicher Schwung erzielt werden, um dieser Aufgabenstellung gerecht zu werden.

Nur zur Illustration: Wir haben in ganz Europa etwa 23 Millionen Klein- und Mittel­betriebe, und wir haben gegenwärtig ungefähr 26 Millionen Arbeitslose. Also das ist eine Milchmädchenrechnung, die ich hier präsentiere, Sie können sich vorstellen, worauf ich abziele: Wenn nur jeder der existierenden Klein- und Mittelbetriebe einen Arbeitslosen oder eine Arbeitslose aufnehmen könnte, dann wäre das Problem der


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Arbeitslosigkeit schon fast beseitigt. Da sich das aber nicht gleichmäßig auf Europa verteilt, funktioniert das nicht.

Wenn man auch nur theoretisch dieses Thema den 500 größten Unternehmen, die in Europa tätig sind, überlassen würde, dann müssten mehr als 50 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Unternehmen aufgenommen werden, was ja nicht einmal theore­tisch denkbar ist.

Also es zeigt sich, die Klein- und Mittelbetriebe sind das Rückgrat der Wirtschaft, das heißt aber nicht, dass wir die Industrie aus den Augen verlieren dürfen. Im Gegenteil: Beides ist notwendig, beides bedingt sich, und man kann in vielen Bereichen Klein- und Mittelbetriebe nur unterstützen und forcieren, wenn es eben auch eine starke Industrie gibt, die die Zulieferung, das Service et cetera braucht. Viele Dinge werden heutzutage auch ausgelagert. Also da gibt es Interdependenzen, und auf das muss Europa, glaube ich, stärker reagieren. Ich hoffe, dass mit diesem Investitionsprogramm entsprechende Schwerpunktsetzungen stattfinden.

Wir haben in Europa ein, wie ich meine, sehr positives Beispiel, das uns eigentlich Motivation genug sein sollte, Ähnliches zu probieren, und das ist der europäische Flugzeugcluster Airbus. Das war seinerzeit eine Initiative zwischen Deutschland und Frankreich, heute ist auch UK mit eingeschlossen, aber wenn Sie sich die Zuliefer­betriebe anschauen, dann reicht das weit über diese drei Länder hinaus. Es ist das wahrscheinlich das beste Beispiel für eine gelungene industrielle Kooperation in Europa über die Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten hinaus. Und ehrlich gesagt, würde es Airbus heute nicht geben, würde Boeing den Markt völlig monopolisieren, auf Kosten wahrscheinlich auch der Anschaffung von Fluggeräten und damit eben auch der Flugtarife und so weiter. Das hat ja alles sehr umfangreiche Auswirkungen. Damit ist jetzt sichergestellt, dass es global zwei Player gibt, und das kann und sollte uns eigentlich Ansporn sein, Ähnliches in anderen Bereichen zu entwickeln.

Die europäische Wirtschaft, Industrie und Forschung stehen viel besser da, als wir uns das eigentlich immer selbst vor Augen halten.

Mein Plädoyer heute auch an Sie ist: Wir Europäer müssen und können viel selbst­bewusster sein angesichts dessen, was wir geleistet haben, auch in der Geschichte. Wir stellen als Europäische Union 7 Prozent der Weltbevölkerung, wir sind zusammen­gerechnet mit 22, 23 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der mit Abstand globalste Player, die USA bringen es auf 12 Prozent, und – ich sage das schon mit einem Stolz als Europäer – wir finanzieren 50 Prozent der globalen Sozialleistungen. Da könnten manche sagen: Das ist zu viel. Ich sage: Weltweit schauen alle auf das Modell Europa.

Schauen Sie sich an, wer aller Mitglied der Europäischen Union werden will! Weil eben hier so ein hoher Lebensstandard gegeben ist, weil es hier so eine hohe Lebens­qualität gibt, weil es hier Absicherungen im Krankheitsfall, im Falle von Arbeitslosigkeit gibt. Wir haben hier ein Niveau erreicht, um das uns praktisch die ganze Welt beneidet, aber wir müssen uns auch täglich engagieren, um dieses Niveau zu halten, und auch die Fähigkeit haben, Dinge, sogenannte wohlerworbene Rechte, wie ich meine, auf den Prüfstand zu stellen, ob sie noch adäquat sind, ob wir sie uns noch leisten können, ob wir sie modifizieren müssen. Wir brauchen jedenfalls die Fähigkeit, uns immer wieder selbst zu erneuern, damit wir nicht von anderen überholt werden und im globalen Wettbewerb unter die Räder kommen.

Stichwort globaler Wettbewerb. Ich werde mich jetzt nicht über TTIP und so weiter auslassen, ich sage Ihnen nur: Europa ist der mit Abstand internationalste Kontinent der Welt. Es gibt keinen Kontinent, der dermaßen viele externe Investoren anlockt, und Europa ist auch jener Kontinent, der am meisten außerhalb investiert hat. Also es gibt


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keine Region weltweit, die dermaßen von internationalen Waren- und Finanzströmen abhängig ist wie die Europäische Union. Dessen muss man sich bewusst sein, das müssen wir in Rechnung stellen.

Jeder fünfte Arbeitsplatz in der Europäischen Union – und in Österreich ist es jeder vierte Arbeitsplatz – ist mehr oder weniger vom jeweiligen Export abhängig. Damit schaffen wir eine Internationalisierung, die ihresgleichen sucht. In dieser Hinsicht, glaube ich, sollen wir Europäerinnen und Europäer unser Licht nicht unter den Scheffel stellen und können, müssen und sollen international, wie ich meine, viel selbst­bewuss­ter auftreten.

Gestatten Sie mir einige Worte zu meiner eigentlichen Aufgabenstellung als Nach­barschaftskommissar und als Kommissar für Erweiterungsverhandlungen. Es hat bei unseren Freunden insbesondere am Balkan, am West-Balkan, etwas Irritation gegeben, als der damals neu gewählte Präsident Juncker gesagt hat oder angekündigt hat, es wird in seiner Amtszeit keine Erweiterung geben. Da sind einige nervös gewor­den.

All jene, die sich mit der Materie intensiv beschäftigen, wissen, dass es, wie es so schön heißt, aus technischen Gründen praktisch nicht möglich ist, dass es in den nächsten Jahren eine Erweiterung gibt. Wenn Sie sich nur in Erinnerung rufen: Die Verhandlungen mit Kroatien haben acht Jahre gedauert. Und wir haben aktuell drei Verhandlungen: Die Türkei ist ein Sonderfall, aber mit Serbien und Montenegro haben wir die Verhandlungen eigentlich erst gestartet, und nach allen zur Verfügung stehen­den Informationen ist es nach menschlichem Ermessen unwahrscheinlich, dass es hier zu einem Beitritt kommen kann. Was aber nicht heißt – und das zu betonen ist mir ganz wichtig –, dass wir diese Verhandlungen nicht ganz intensiv führen, denn ich sage auch ganz offen, aus meiner Warte ist das Jahr 1989 noch nicht vollendet.

1989 war die große positive Zäsur in Europa mit dem Fall des Eisernen Vorhanges, und die Vollendung dieses Annus mirabilis 1989 steht noch an, nämlich dann, wenn es uns gelungen sein wird, dass alle in Europa existierenden Staaten auch Mitglieder der Europäischen Union sein werden. Das ist noch ein Prozess, der viele Jahre dauern wird, aber ich glaube, als politisches Ziel, als Vision ist er berechtigt.

Das führt mich gleich zu einem wesentlichen Punkt: Aus meiner Warte und in meinem Herangehen in dieser Frage der Erweiterungsverhandlungen steht für mich der Pro­zess im Vordergrund und weniger die Verhandlungen, was die Übernahme des Rechtsbestandes anbelangt. Das ist Teil des Prozesses. Aber wenn wir uns etwa auf dem Balkan ganz intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, wie man der Korruption Herr werden kann, die dort in einem Umfang anzutreffen ist, der weit über Ausmaße hinausgeht, mit denen wir letztlich auch in Österreich und in anderen Mitgliedstaaten konfrontiert sind, dann ist das nicht etwas, was man einfach mit einem Gesetz besei­tigen kann, sondern dann geht es darum, dass diese gesetzlichen Bestim­mungen, wie es so schön heißt, auch implementiert werden.

Da muss Nachhaltigkeit bewiesen werden, dass die Korruption weniger geworden ist – und in einer idealen Welt nicht mehr existiert, aber deutlich geringer muss sie werden. Die Unabhängigkeit der Gerichte muss dokumentiert – nicht per Gesetz nur fest­geschrieben – werden. Die entsprechenden rechtsstaatlichen Bestimmungen sind nicht nur geduldig auf dem Papier zu ertragen, sondern müssen auch gelebt werden. Die sukzessive Übereinstimmung der Außen- und Sicherheitspolitik eines Landes mit den außen- und sicherheitspolitischen Überlegungen und schlussendlich Beschlüssen der Europäischen Union muss hergestellt werden, wenn Sie sich etwa, aktuellerweise, die Situation in Serbien vor Augen halten.


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Es ist hier daher vielmehr angebracht, von einem Prozess zu sprechen als von Ver­handlungen. Und dazu gehört auch, dass wir die Wirtschaft dieser Regionen pushen und stimulieren müssen, denn europaweit, unter unseren Mitgliedsländern, bei unseren Bürgerinnen und Bürgern sehen wir ganz eindeutig, dass es eine Erweiterungsmüdig­keit gibt. Wenn wir heute abstimmen würden, dann gäbe es, glaube ich, kein Mitglieds­land, wo es eine Mehrheit für die Erweiterung gäbe, auch weil wahrscheinlich bei unseren Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck vorherrscht, jedes neue Mitglied ist eine finanzielle Belastung.

Daher müssen wir, um unsere Bürgerinnen und Bürger an Bord zu holen – denn Sie müssen ja einen allfälligen neuen Beitritt dann auch hier ratifizieren, und das kann man nur, wenn man sich eben auch der Mehrheit der Bevölkerung, der Wählerinnen und Wähler sicher sein kann –, die Voraussetzung schaffen, dass eben ein neues Mitglied nicht als Last, sondern als eine zusätzliche Verstärkung der europäischen Familie verstanden wird. Und das funktioniert nur dann, wenn wir die Wirtschaft entsprechend pushen, wenn wir hier dafür Sorge tragen, dass sich das Wohlstandsniveau in diesen Ländern verbessert, dass wir imstande sind, den Brain Drain in eine Brain Circulation umzuwandeln, sodass die Menschen dort eine Perspektive haben und nicht gezwun­gen sind, zu emigrieren – auch innerhalb Europas.

Lettland, Litauen haben seit dem Beitritt vor zehn Jahren 10 Prozent ihrer Bevölkerung verloren – und Sie können davon ausgehen, nicht die schlechtesten. Jene, die gut ausgebildet, jung, mobil, dynamisch sind, etwas weiterbringen wollen, die sind in andere Länder Europas gegangen, primär in den Westen, weil sie dort Perspektiven vorfinden. Unser Ziel muss es sein, diesen Immigrationsdruck herauszunehmen und sicherzustellen, dass wir in ganz Europa entsprechende Perspektiven und Möglich­keiten für die Menschen haben.

Abschließend kann ich nur sagen: Jedes künftige Mitgliedsland, jedes Land, das Mitglied werden will, bestimmt die Geschwindigkeit seiner Annäherung an Europa, an die Europäische Union selbst. Das Land legt selbst fest, wie schnell ein allfälliger Prozess vonstattengeht.

Das führt mich in die Nachbarschaft. Der Kommissionspräsident hat mich ja beauftragt, innerhalb des ersten Jahres eine Überarbeitung der Europäischen Nachbarschafts­politik vorzunehmen. Die Europäische Nachbarschaftspolitik umfasst 16 Länder. Aus einem Ring von Freunden ist, um ein Lied von Johnny Cash zu zitieren, ein „Ring of Fire“ geworden, denn unsere Nachbarländer gehen von Weißrussland bis Marokko, und dazwischen liegen die Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Palästina, Lybien, Tunesien, Algerien. Also es wird mir nicht fad in meiner Arbeit.

Ich komme gerade aus der Ukraine, ich fahre diese Woche noch gemeinsam mit der Hohen Beauftragten nach Sarajevo und bin Anfang der Woche in der Türkei und dann auch in Marokko. In Marokko zum Beispiel deshalb, um klarzustellen, dass die südliche Nachbarschaftspolitik genauso wichtig ist wie die östliche. Wir haben momentan in der europäischen Dimension und Diskussion eine Wahrnehmung, dass wir nur auf den Osten hin konzentriert sind. Natürlich, dort sind die momentan zentralsten und für uns Europäer relevantesten Konflikte, insbesondere mit der Krim und mit der Ostukraine und mit dem Verhalten Russlands und der Frage, wie wir wieder eine Möglichkeit finden, nicht nur die Sanktionen aufzuheben, sondern zu einem friedlichen Miteinander zu kommen.

Denn das ist die Politik der Europäischen Union: Wir sind nicht nur ein Friedensprojekt, wir agieren auch friedlich. Wir haben keine imperialistischen, expansionistischen Ten­denzen. Was wir wollen, sind Frieden und Wohlstand für unsere Bürgerinnen und


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Bürger und auch für unsere Nachbarn, denn wenn es unseren Nachbarn gut geht, geht es uns auch gut, und das ist das, was uns auch in der Nachbarschaftspolitik leitet.

Wir werden daher die Nachbarschaftspolitik so gestalten, dass wir uns zunächst die Frage stellen: Was sind die europäischen Interessen? – ich habe sie im Wesentlichen schon skizziert –, und dann müssen wir für jedes Land eine Art, einen Modus Vivendi der Zusammenarbeit identifizieren. Es gibt manche, die à la longue Mitglied der Euro­päischen Union werden wollen, manche, die eine ausbalancierte Relation zwischen uns und ihren östlichen Nachbarn suchen, und manche, die eben, um den ehemaligen polnischen Außenminister Sikorski zu zitieren, „Nachbarn Europas“ sind und die immer Nachbarn bleiben werden – das sind eben die im Süden. Und hier gilt es, für jeden Bereich eine individuelle, maßgeschneiderte Lösung zu finden.

Ich möchte jetzt nicht die einzelnen Länder durchgehen. Wenn sich in der Diskussion da und dort ein Schwerpunkt ergibt, dann bin ich gerne bereit, zu dem einen oder anderen Land noch etwas Zusätzliches zu sagen.

Ich möchte einfach damit schließen, mich nochmals bei Ihnen zu bedanken für Ihr Interesse, für Ihr Engagement. Das ist nicht selbstverständlich. Europa ist noch nicht überall angekommen, Europa kann aber nur funktionieren, wenn sich alle Europäerin­nen und Europäer auch so fühlen und entsprechend agieren. Ich kann nur sagen, es gibt zugegebenermaßen wenige, die so wie ich in allen Winkeln Europas herum­gekommen sind – diese Gnade hat ja nicht jeder –, und der Befund, den ich geben kann, ist: Eines unserer Hauptprobleme ist, dass wir uns gegenseitig zu wenig kennen. Und weil wir uns gegenseitig zu wenig kennen, unterliegen wir auch immer wieder Fehleinschätzungen.

Daher freue ich mich über jede Initiative, die dazu beiträgt, diesem Mangel abzuhelfen und uns gegenseitig besser zu verstehen. Ich weiß nicht, ob das jetzt etwas zu expo­niert ist, was ich sage, aber es würde mich freuen, wenn sich zum Beispiel einmal der österreichische Bundesrat auf eine kollektive Dienstreise nach Brüssel oder Straßburg begeben würde, um die Einrichtungen vor Ort zu besichtigen. Herzlich willkommen! – Vielen Dank. (Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen.)

12.32


Präsidentin Ana Blatnik: Ich danke dem Herrn EU-Kommissar für seine Ausführun­gen.

Wir gehen in die Debatte ein.

Zu Wort gemeldet hat sich Herr Bundesrat Kneifel. Ich erteile es ihm.

 


12.32.38

Bundesrat Gottfried Kneifel (ÖVP, Oberösterreich): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kommissar! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat! Sie sind heute alle, auch die Damen und Herren an den Bildschirmen, Zeugen einer Premiere, eines besonderen Anlasses: Ein neu gewählter – oder: wieder gewählter und mit neuen Auf­gaben betrauter – Kommissar präsentiert sich auf unsere Einladung in der Länder­kammer. Ich freue mich, dass diese Initiative gelungen ist. Ich freue mich auch, dass prominente Zuhörerinnen und Zuhörer heute anwesend sind. Ich begrüße ganz besonders Herrn Professor Herbert Schambeck, der sich immer wieder bemüht hat, in seinen politischen und wissenschaftlichen Arbeiten die Rolle des Bundesrates in der europäischen Dimension zu beleuchten. – Herzlich willkommen, Herr Professor Schambeck! (Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar, dass Kommissar Hahn nicht nur institutionelle, sondern auch aktuelle Aspekte angeschnitten hat. – Übrigens, zur Einladung darf ich sagen, wir nehmen das gerne an. Wir werden schauen, wie sich


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das terminlich vereinbaren lässt. Wir werden gerne gemeinsam mit dem EU-Aus­schuss­vorsitzenden Edgar Mayer eine derartige Reise planen und uns an Ort und Stelle noch mehr in die europäische Materie vertiefen.

Fünf Jahre Lissabon-Vertrag, meine sehr geehrten Damen und Herren – die damit zusammenhängenden Kompetenzen sind in den Staatsbürgerkunde-Lehrbüchern noch nicht untergebracht. Das weiß niemand. Niemand kennt die Kompetenzen des Bun­desrates im Mitgestaltungsprozess der europäischen Gesetzgebung, und wir haben hier auch einiges vorzuweisen. Ich danke allen, die da mitgewirkt haben.

Wir stehen in einer Phase des Umbruchs in Europa – Kommissar Hahn hat darauf hin­ge­wiesen. 1989 war der unblutige Umbruch, eine Spezialität in der europäischen Gesamtgeschichte. Herr Kommissar, Sie haben darauf hingewiesen, dass das noch nicht abgeschlossen ist. Wir sind immer noch in diesem Prozess, und wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass dieser auch in Zukunft gelingt.

Arbeit und Beschäftigung ist das Hauptthema, das uns derzeit berührt. Danke für den Hinweis auf das 315-Milliarden-€-Investitionsprogramm. Es wird an uns liegen, aus dieser Ankündigung, aus der Bereitstellung dieser Mittel Arbeit und Beschäftigung zu machen, auch mit Forschung und Entwicklung. Arbeit, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist mehr als nur Beschäftigung. Arbeit ist Sinn, Arbeit ist Lebenssinn, ist Aufgabe. Das brauchen unsere Menschen und unsere Bürgerinnen und Bürger in Europa. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Sinn des Mehrwerts, den wir mit Europa unseren Bürgern vermitteln können, wenn wir entsprechende Antworten geben können in diesem Bereich, wenn es um Arbeit und Beschäftigung geht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Bürgerinnen und Bürger haben auch wesentliches Interesse an einer Identität – Identität der Regionen als Antwort auf die globale Bewegung und auch die globalen Tendenzen. Wir merken das an födera­listischen Initiativen – Stichwort Katalonien, Stichwort Nordengland (Ruf: Schottland!), wo die letzten Abstimmungen ja in eine entsprechende Richtung gegan­gen sind.

Ich glaube, wir sollten diese Tendenzen ernst nehmen. Und wenn es uns als Bundes­räten und Bundesrätinnen gelingt, die europäischen Aspekte den Bürgerinnen und Bürgern entsprechend zu vermitteln, dann ist mir um den Mehrwert, den wir den Bürgerinnen und Bürgern überbringen, nicht bange. Ich glaube, es geht auch um mehr Vertrauen in die Politik, insbesondere um mehr Vertrauen in die europäische Politik. Ich glaube, wir stellen uns dieser Aufgabe, und diese heutige Sondersitzung mit der Begegnung mit Kommissar Gio Hahn ist ein wesentlicher, konkreter Beitrag dazu. (Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen.)

12.37


Präsidentin Ana Blatnik: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Mag. Gruber-Pruner. Ich erteile es ihr.

 


12.37.47

Bundesrätin Mag. Daniela Gruber-Pruner (SPÖ, Wien): Sehr geehrte Frau Präsi­dentin! Sehr geehrter Herr Kommissar Hahn! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich mich bei Ihnen, Herr Kommissar, herzlich bedanken, dass Sie heute bei uns im Bundesrat sind. Ich verstehe Ihre Aufgabe auch als Wahr­nehmung einer Vermittlerrolle zwischen der EU und ihren Nachbarländern. Diese Vermittlerrolle hat Österreich in den letzten Jahrzehnten sehr gut zu Gesicht gestan­den. Hier besteht aus meiner Sicht großes Potenzial für neue Vernetzungen und Koope­rationen hinsichtlich gemeinsamer Weiterentwicklung, aber auch der Bearbei­tung gemeinsamer Problem­felder.


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 10

Ich möchte den Fokus meines Beitrages heute auf ein solches Problemfeld lenken, das meiner Interpretation nach mit einem Ihrer Schwerpunkte, nämlich der Stärkung der Demokratie und der Förderung der Zivilgesellschaft, zu tun hat, möchte meinen Fokus auf ein Thema richten, das für Europa und seine Nachbarländer aktuell eine enorme Herausforderung darstellt und zu dem es, soweit ich informiert bin, auf EU-Ebene dieser Tage etwas Bewegung gibt, nämlich das Thema Gewalt, und im Speziellen Gewalt an Kindern.

Österreich hat die Gewalt an Kindern vor 25 Jahren gesetzlich verboten und war damals unter den Vorreitern weltweit. Angesichts dessen, dass dieses Verbot von Gewalt an Kindern im selben Jahr, nämlich 1989, auch in Form der UN-Kinder­rechts­konvention beschlossen wurde, würde man meinen, dass inzwischen alle Länder in dieser Frage nachgezogen haben. Das ist allerdings ein trauriger Irrglaube.

Allein innerhalb der Europäischen Union gibt es nach wie vor zehn Länder, in denen Gewalt als legitimes Erziehungsmittel anerkannt ist, darunter Länder wie England, Belgien, Italien, Frankreich. Nur 40 Länder weltweit haben Gewalt als legitimes Erzie­hungs­mittel bisher verboten.

Das bedeutet laut UNICEF, dass weltweit nur 5 Prozent aller Kinder in Ländern leben, in denen Gewalt an Minderjährigen verboten ist.

Gewalt kennt bekannterweise verschiedene Formen. Neben der physischen und psychischen Gewalt an jungen Menschen gibt es auch in Europa beispielsweise den Bereich des Kinderhandels und seiner grauenhaften Formen: die Kinderpornographie und die Kinderprostitution.

Laut neuestem UNO-Bericht zum Menschenhandel wächst dieses Problem derzeit sogar an. In den Jahren 2010 bis 2012 waren ein Drittel der Opfer von Menschen­handel Kinder. Das ist ein Anstieg von 5 Prozent zum vorherigen Vergleichszeitraum.

Zurück zu Österreich: Die gesetzliche Lage in Österreich ist, wie schon berichtet, vorbildlich. Dennoch klaffen die Realität für Kinder in Österreich und die theoretische Gesetzeslage weit auseinander. Im Jahr 2011 gab es – wieder laut UNICEF Öster­reich – über 10 000 Anzeigen von Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Die genaue Dunkelziffer kennt man nicht.

Eine kürzlich vom Familien- und Jugendministerium veröffentlichte Umfrage zeigt, dass zwei Drittel der Österreicher und Österreicherinnen einen leichten Klaps als Erzie­hungsmaßnahme für zulässig halten. Auch das Schlagen mit der Hand – sagen 20 Pro­zent – und heftige Ohrfeigen – 5 Prozent – sind legitim, trotz 25-jährigen Ver­botes.

Am Beispiel Schweden könnten wir lernen, dass es einer Reihe bewusstseinsbildender Maßnahmen bedarf, um die Gewaltrate tatsächlich zu senken. Hier müssen Österreich und viele andere europäische Länder aktiver werden. Als Pädagogin und Politikerin muss ich darauf hinweisen, dass Gewalt immer auch neue Gewalt auslöst. Gene­rationen, die unter Gewalterfahrung heranwachsen, werden selbst auch gewaltbereit sein – und das nicht nur in den eigenen vier Wänden. Sie lernen, dass Gewalt ein adäquates Mittel zur Lösung von Konflikten darstellt – für welche Konflikte auch immer –, aber wir wünschen uns doch alle ein Europa des Friedens in jeder Hinsicht.

Das Friedensprojekt Europa ist die Kernidee der EU. Daher ist es aus meiner Sicht unumgänglich, dass sich Europa, die EU und wir dieses Themas „Gewalt an jungen Menschen“ annehmen. Österreich kann da, was die gesetzliche Lage betrifft, mit gutem Beispiel vorangehen. Es gibt europaweit in der Zivilgesellschaft unzählige ExpertInnen und Einrichtungen, die sich diesem Thema verschrieben haben. Diese gilt es zu stärken und zu unterstützen.


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 11

Herr Kommissar Hahn, Ausbau und Stärkung der demokratischen Strukturen gehören auch zu Ihrem Ressort. Ich bin überzeugt davon, Demokratie funktioniert nur ohne Gewalt. Junge Menschen müssen lernen und erleben, dass demokratische Prozesse nicht durch Anwendung von Gewalt funktionieren, sondern durch Verhandeln, Zuhören, Argumentieren, Kompromisse finden – durch Wertschätzung.

Wer das nie erleben und erfahren durfte, wird schwer eine demokratische Grund­gesinnung entwickeln können. Ich würde mich daher besonders freuen, wenn Sie dieses Thema in Ihren Wirkungsbereich mitnehmen könnten, Initiativen auf euro­pä­ischer Ebene unterstützen, aber auch alle Mitgliedsländer und Anwärterländer der EU nach Ihren Möglichkeiten dazu anstoßen würden, bei der Lösung des Problems „Gewalt an Kindern“ eine aktive Rolle zu spielen. – Herzlichen Dank. (Beifall bei SPÖ, ÖVP und Grünen sowie des Bundesrates Zelina.)

12.43


Präsidentin Ana Blatnik: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Mühlwerth. Ich erteile es ihr.

 


12.44.06

Bundesrätin Monika Mühlwerth (FPÖ, Wien): Sehr geehrter Herr Kommissar! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Professor Schambeck! Der EU-Ausschuss des Bundesrates – auch als europakritische Partei kann man dem Bundesratsausschuss in EU-Angelegenheiten sehr viel abge­winnen; auch wenn wir unterschiedliche Zugänge haben, wie wir heute bei der Pressekonferenz schon festgestellt haben. Die Regierungsparteien sehen nämlich alles, was aus der Europäischen Union kommt, sehr positiv und sagen, dass man ein Schreiben nach Brüssel schicken muss, falls ein Teil nicht gut ist. Wir sehen es von Haus aus kritisch und sagen, dass wir da den Beweis, das immer schon gewusst und quasi einen Punkt mehr auf unserer Stricherlliste haben. Das hindert uns aber nicht daran, uns dort konstruktiv einzubringen und den EU-Ausschuss als ein wichtiges Instrument für die Vertretung der Länder zu betrachten. Als Länderkammer sind wir nun einmal für die Vertretung der Länder zuständig.

Was uns nicht so erfreut oder weshalb wir heute nicht diese Glückmomente, wie manch andere, erleben, ist, dass dieser Tage fünf Jahre Lissabon-Vertrag gefeiert wird. Wir sind dem bei dessen Einführung schon kritisch gegenübergestanden und haben ihn abgelehnt – wie wir meinen, zu Recht –, und fünf Jahre danach sehen wir uns in diesem „zu Recht“ auch noch bestätigt.

Der Lissabon-Vertrag, der zum Beispiel in seinem Vertragswerk festgelegt hat, dass man die Schulden anderer Länder nicht übernimmt, hat dazu geführt, dass wir Ret­tungs­schirme und Haftungsschirme übernommen haben. Wir haben Milliarden einge­zahlt und haften für andere Milliarden, ohne dass die Bevölkerung der betroffenen Länder und schon gar nicht die eigene Bevölkerung, die Lohn- und Vermögensverluste in Kauf nehmen musste, irgendetwas davon gehabt hätte. Das sind reine Bankenret­tungsaktionen. (Beifall bei der FPÖ.) Das ist für uns also kein Grund zur Freude.

Wenn Sie, Herr Kommissar Hahn, sagen, die Welt schaut nach Europa – bis jetzt haben wir immer gehört, ganz Europa schaut nach Österreich, und jetzt schaut die ganze Welt nach Europa –, dann stellt sich für mich und übrigens auch für meinen Kollegen Jenewein automatisch die Frage, wo die jetzt genau hinschauen: in den Norden oder eher in den Süden? – In Europa ist nicht alles so „Happy Pepi“, dass man sagen kann, die ganze Welt schaut sich da etwas Positives ab. Man sollte das viel­leicht einmal konkretisieren.


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 12

Die Internationalisierung, auf die wir so stolz sind, ist aber auch eine Globalisierung, die nun wirklich nicht zum Wohle aller stattgefunden hat. Sie haben es ja richtig angesprochen. Würden wir uns heute anschauen, wie viele Arbeitslose es insgesamt in Europa und wie viele Arbeitslose es mittlerweile im eigenen Land gibt und wie der Wirtschaftsmotor Europas stottert und vom Stillstand bedroht ist, dann würden wir uns wahrscheinlich fragen, ob die Internationalisierung – ist gleich Globalisierung – wirklich das ist, worüber wir uns uneingeschränkt freuen können. Ein Großteil der Bevölkerung Europas kann sich darüber nämlich leider nicht freuen. (Beifall bei der FPÖ.)

Das bringt mich zu dem, wofür Sie eigentlich zuständig sind: Nachbarschaftspolitik und künftige EU-Erweiterungen. Ich kann nur hoffen, dass man bei künftigen EU-Erweite­rungen wirklich sehr auf der Bremse steht, weil – wir haben es ja gesehen – trotz schneller Südosteuropaerweiterung diese Region immer noch Standards vermis­sen lässt, die für uns heute in Mittel- und Westeuropa selbstverständlich sind.

Es gibt in Rumänien immer noch Korruption, Kriminalität und organisierte Kriminalität. Das gilt auch für andere EU-Länder. Für Bulgarien gilt das Gleiche. Man kann nicht sagen, dass man sich da dem westlichen Standard wirklich schon sehr angenähert hat.

Was den Beitritt der Türkei betrifft, lese ich jetzt in den Medien, dass zwei neue Verhandlungskapitel aufgeschlagen werden. Wir bleiben bei unserem Standpunkt, dass die Türkei kein – oder nur zu einem ganz kleinen Teil – Teil Europas ist. Die Politik Erdoğans lässt auch nicht vermuten, dass die Türkei versucht, sich euro­päischen Werten anzunähern, sondern ganz im Gegenteil. Daher sind und bleiben wir dabei: kein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union! (Beifall bei der FPÖ.)

12.48


Präsidentin Ana Blatnik: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Schreuder. Ich erteile es ihm.

 


12.48.54

Bundesrat Marco Schreuder (Grüne, Wien): Frau Präsidentin! Herr Kommissar! Herzlich willkommen im Bundesrat! Es freut mich wirklich sehr, dass wir hier in dieser mittlerweile doch nicht nur Länderkammer, sondern auch Europakammer, europäische Politik machen können. Ich halte das für enorm wichtig, weil Europapolitik – das ist auch in der Medienlandschaft noch nicht ganz angekommen – einfach g’standene Innenpolitik und keine Außenpolitik ist. Ihr Ressort ist natürlich sehr wohl außen­politisch, aber EU-Politik ist in erheblichem Maße Innenpolitik. Das darf man nie ver­gessen.

Ich freue mich natürlich auch sehr, dass Sie die Digitale Agenda angesprochen haben. Das ist auch eines meiner wichtigsten Themen – das ich auch betreue –, weil uns aus meiner Sicht der digitale Wandel der Gesellschaft – was er global bedeutet, welcher aber nur europäisch beantwortet werden kann – alle in einer ganz enormen Weise betrifft.

Die Europäische Union kann, was die Netzneutralität betrifft, sehr beispielhaft voran­gehen. Ich hoffe schon, dass Sie eine Stimme für die tatsächliche Netzneutralität innerhalb der Kommission sein werden. Das, was man von Kommissar Oettinger gehört hat, war ja nicht unbedingt das – wie soll ich sagen? –, was man Netzneutralität nennen könnte; sagen wir es einmal so.

Aber kommen wir zu dem, wofür Sie, Herr Kommissar Hahn, zuständig sind, nämlich zur Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union. Ich war noch im Wiener Gemein­derat – das war damals sogar zu der Zeit, als Sie, glaube ich, auch noch im Wiener Gemeinderat als Stadtrat vertreten waren –, als ich einmal bei einer Veranstaltung war, bei einem Round Table mit der Wiener Polizei, und es ging dabei um die Frage, was


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 13

das Beste zum Schutz einer Wohnung wäre. Ist es die Alarmanlage? Ist es ein bes­seres Schloss? Ist es die Tür? Sind es andere Fenster? – Die Antwort des Kriminal­beamten der Wiener Polizei war: Das Sicherste für die eigene Wohnung ist, wenn man Nachbarn hat, mit denen man sich verständigt, wenn man aufeinander aufpasst!

Wenn man das, was für die eigene Wohnung gilt, nämlich dass die Nachbarn aufeinan­der aufpassen, sozusagen im Großen sieht, was das für Europa und die Nachbarn rund um Europa herum bedeutet, dann, finde ich, ist dieses Bild ein sehr gutes Bild, zumal wir ja sehen, was derzeit rund um Europa, aber leider auch teilweise innerhalb der Europäischen Union passiert. Innerhalb der Europäischen Union – und das möchte ich schon ganz kurz ansprechen, wenn wir auch nur 5 Minuten Redezeit haben – ist das Mitgliedsland Ungarn schon auch ein Land, das in den Grundrechten, im Medien­recht, in Pressefragen, in Menschenrechtsfragen derzeit einen Weg betritt, der uns mit Sorge erfüllen muss, wenn sich Gedanken, dass der liberale, demokratische Staat sozusagen ausgedient hätte, breit machen.

Aber reden wir darüber, was Sie „Ring of Fire“ genannt haben. Ein Land wird dabei ja öfter vergessen, auch wenn die Beitrittsverhandlungen derzeit auf Eis gelegt sind. Ich beginne mit dem hohen Norden, und da ist Island als ein möglicher europäischer Partner. Die dortige neue Regierung hat Anfang dieses Jahres die Beitrittsverhand­lungen auf Eis gelegt. Obwohl das „Fire“ dort eher aus vulkanischer Asche besteht, ist das immer noch ein Thema für die Europäische Union, denn wenn es dort eine Volksabstimmung geben sollte, die, wie wir aus Umfragen wissen, durchaus knapp für den EU-Beitritt ausgehen könnte, wenn man nicht genau weiß, wie das enden würde, dann wäre natürlich eine Aussage wie: Wir machen einen Erweiterungsstopp!, eine sehr unglückliche Aussage, wenn ich das einmal so sagen darf.

Aber natürlich betreffen die Hauptfragen, die wir zu behandeln haben, derzeit Ost­europa, allen voran die Ukraine, verbunden und verknüpft mit Fragen wie: Wie gehen wir weiter mit Russland um? Was bedeutet das auch für den direkten Nachbarstaat Moldawien? In der Republik Moldau haben gerade Wahlen stattgefunden. Die proeuro­päischen Kräfte konnten sich durchsetzen, aber das Land ist zutiefst gespalten, auch ethnisch. Das und auch der Umstand, dass Russland zunehmend das Völkerrecht – das muss man einfach so sagen – auch innerhalb Europas missachtet, bedeuten große Herausforderungen.

Österreich wird nächstes Jahr Gastgeber eines großen europäischen Events abseits von Politik und Sport sein, nämlich des Song Contests. „Building Bridges“ wird das Motto sein. – Gerade in diesem Sinne, glaube ich, kann Österreich eine Rolle spielen, und auch wir hier im Bundesrat können Brückenbauer dahin gehend sein, dass europäische Politik ganz stark von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen werden kann, dass sie wahrgenommen wird als innenpolitische Frage, als etwas, das die Bürgerinnen und Bürger direkt angeht, das deren Leben direkt beeinflusst.

Es ist nicht wurscht, wie die Kommunikationsrichtlinie ausgeht. Es ist nicht egal, wie Netzneutralität gestaltet wird. Es ist nicht egal, ob Gigaliner über die Straße fahren können oder nicht. – Das alles sind ganz erhebliche Fragen, die wir alle hier behandeln müssen.

Natürlich ist auch Nordafrika ein wesentlicher Punkt. Natürlich stellt sich die große Frage, wie es in Zukunft weitergeht, was zum Beispiel in Ägypten los ist. (Bundesrat Himmer:  Redezeit!)

Ich komme zum Schluss. Die Türkei ist auch ein großes Thema, und darauf wird dann mein Kollege Efgani Dönmez näher eingehen. – Danke schön. (Beifall bei den Grünen und bei Bundesräten der SPÖ.)

12.54



BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 14

Präsidentin Ana Blatnik: Als Nächster zu Wort gemeldet hat sich Herr Bundesrat Mag. Zelina. Ich erteile es ihm.

 


12.54.42

Bundesrat Mag. Gerald Zelina (STRONACH, Niederösterreich): Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr EU-Kommissar! Liebe Mitglieder des Bundesrates! – Herr Dr. Hahn, in Ihrer Anwesenheit als für Nachbarschaftspolitik zuständiger Kommissar müssen wir natürlich die Nachbarländer und die Krise Ukraine/Russland ansprechen, und ich bitte Sie, im Anschluss dazu Stellung zu nehmen.

Die Krise innerhalb der Ukraine hat sich zu einer Krise zwischen den USA mit Anhängsel EU und Russland ausgeweitet.

Die EU hat keine klare einheitliche Führung und verhält sich in diesem Konflikt teil­weise wie ein unterwürfiger Kolonialstaat der USA. Hinter der EU geben die USA, die NATO und die Hochfinanz den Ton an.

Die US-Regierung hat die EU mehr oder weniger dazu gedrängt, bei den Wirtschafts­sanktionen gegen Russland mitzumachen.

Die Sanktionen gegen Russland arten bereits in einen Wirtschaftskrieg aus. Denken Sie an den Preisverfall des Rubels – fast 40 Prozent minus –, der sämtliche Import­ware, wie etwa Obst und Nahrungsmittel, verteuert und für das russische Volk uner­schwinglich macht! Denken Sie auch an den Ölpreisrückgang – seit Juni minus 37 Pro­zent –, der die Staatseinnahmen von Russland drastisch verringert! Denken Sie an die Herabstufung bei der Kreditwürdigkeit von Russland!

Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind für Europa und Österreich extrem kontraproduktiv. Die Sanktionen gegen Russland schaden Österreich und kosten öster­reichi­sche Arbeitsplätze. Die Rubelschwäche ist für die österreichische Exportwirt­schaft katastrophal. Das Ausbleiben zahlungskräftiger russischer Gäste wird unseren Wintertourismus treffen. Unsere Obst- und Agrarexporte nach Russland sind bereits eingebrochen.

Die Raiffeisenbank International hat in Russland ein gewaltiges Credit-Exposure. Wenn es zu Komplikationen bei der Rückzahlung von gewährten Krediten innerhalb Russ­lands kommt, waren das Desaster der Hypo und deren faule Kredite dagegen Peanuts.

Die EU-Politik soll die österreichische Wirtschaft nicht in Geiselhaft nehmen. Österreich soll den positiven wechselseitigen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland hohe Priorität einräumen.

Die Sicherheit der Energieversorgung durch russische Gas- und Ölimporte darf nicht gefährdet werden. Die EU bezieht ein Drittel ihres Bedarfs an Gas aus Russland, Österreich sogar die Hälfte.

Russland ist der drittgrößte Handelspartner der EU, und die EU ist der größte Handels­partner Russlands. Die EU braucht Russland, und Russland braucht die EU. Russland ist Teil von Europa, Russland ist unser europäischer Nachbar, und mit seinen Nach­barn sollte man gut auskommen.

Jede mediale Darstellung von Russland als Feind und alleinigen Aggressor ist sachlich nicht gerechtfertigt.

1990 wurde im Rahmen der Wiedervereinigung von Deutschland vereinbart, dass die NATO nach dem Rückzug des Warschauer Paktes militärisch nicht weiter nach Ost­europa in Richtung Russland expandieren wird. – Passiert ist aber genau das Gegenteil! Die NATO hat militärisch kräftig nach Osteuropa expandiert. Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Estland, Lettland,


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 15

Litauen, Albanien, Kroatien: sie alle sind jetzt NATO-Mitgliedstaaten. (Vizepräsident Himmer übernimmt den Vorsitz.)

Die USA und die EU haben mit voller Absicht und in voller Kenntnis der Sicherheits­interessen Russlands die Ostausdehnung der NATO in Verbindung mit der EU-Erweiterung vorangetrieben, um letzten Endes auch die Ukraine für den Westen zu gewinnen.

Eine NATO-Ukraine-Erweiterung ist eine völlig unnötige und für Europa gefährliche Provokation Russlands. Die Ukraine ist als Puffer für Russlands Sicherheitsbedürfnis unabdingbar. Die Ukraine muss neutral bleiben.

Diplomatie und die ukrainische Neutralität sind notwendig, um die Krise zu deeska­lieren und wieder Stabilität herzustellen. Diplomatischer Dialog, Aufrechterhaltung der Kommunikation, regelmäßige Abstimmungsgespräche und Respektierung der Sicher­heits­interessen Russlands haben absolute Priorität. Russland auszugrenzen ist eine völlig verfehlte Strategie. Die Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland gehören im Interesse aller Europäer zurückgenommen.

Die EU und Russland befinden sich in Europa in einer Schicksalsgemeinschaft. Ein gemeinsames, vereintes, friedliches Europa inklusive und nicht exklusive Russland muss unser aller Ziel sein.

Nur die Integration von Russland in Europa sichert dauerhaften Frieden!

Die Ukraine als Staat zu erhalten, sollte Priorität haben, aber nicht um jeden Preis. – Danke schön. (Beifall bei Bundesräten von ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grünen.)

13.00


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächster ist Herr Bundesrat Mayer zu Wort gemeldet. – Bitte.

 


13.00.36

Bundesrat Edgar Mayer (ÖVP, Vorarlberg): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kommissar! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich grüße auch alle, die unsere Debatte via Fernsehschirm verfolgen! Und ganz besonders herzlich möchte ich nochmals unseren Herrn Professor Herbert Schambeck begrüßen! Ich möchte jetzt nicht auf die zelinaischen Untergangsszenarien eingehen, wenn es sich auch anbieten würde, weil ja doch der Erweiterungskommissar beziehungsweise der Kommissar für Nachbarschaftspolitik hier ist, sondern es geht mir als Vorsitzender des EU-Ausschus­ses – das wurde auch vom Kommissar angesprochen – darum, zu sagen, dass der Bundesrat sehr viele Stellungnahmen nach Brüssel übermittelt hat, natürlich auch begründete Stellungnahmen, nicht nur Mitteilungen.

Dabei sind wir in guter Gesellschaft von anderen Staaten. Wir sind zum Beispiel im Jahr 2013 hinter Schweden an zweiter Stelle gelandet, und das spricht schon auch sehr für diesen kleinen österreichischen Bundesrat, der aber in Europa und auch bei COSAC und ähnlichen Institutionen hohes Ansehen genießt. Also ... (Beifall des Bundesrates Pum.) – Ja, da kann man auch applaudieren, selbstverständlich. (Beifall bei ÖVP und SPÖ.) Ich möchte niemanden von seinen Emotionen zurückhalten.

Es freut uns natürlich sehr – das hat Kollege Kneifel schon angesprochen –, Herr Kommissar, dass du ausgerechnet an deinem Geburtstag bei uns bist und dir somit auch das größte Geburtstagsgeschenk bereitest, indem du mit dem Bundesrat sozu­sagen in eine Diskussion eintrittst. Das ist ein besonderes Präsent für uns, das wir natürlich gerne auch so entgegennehmen. Dennoch möchte ich als Vorsitzender des EU-Ausschusses auch einige Themen transportieren und natürlich dich ersuchen, das


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 16

auch in der Kommission entsprechend zu unterstützen – deshalb auch ein paar Inhalte, die aus der Praxis kommen.

Wir sind natürlich für die Stärkung der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – selbstverständlich stehen wir dafür! –, und wir sind uns auch dessen bewusst, dass wir sozusagen mit den Instrumenten, die es dafür gibt, relativ gut bedient sind, obwohl sie natürlich europaweit besser genutzt werden können. Das gilt insbesondere auch für die Folgenabschätzungen.

Im Zuge des Verhandlungsprozesses substanziell geänderte Gesetzgebungsvor­schläge sollten von der Europäischen Kommission neuerlich vorgelegt werden, um den nationalen Parlamenten die Möglichkeiten der Subsidiaritätsprüfung des voraussicht­lichen Letztstandes dieser Gesetzgebungsvorschläge zu ermöglichen. Wir bekommen oft Materien in einem wirklich sehr, sehr frühen Stadium, zu dem dann noch Rats­arbeits­gruppen ihre Stellungnahmen und Mitteilungen abgeben. Das würde schluss­endlich auch zu einer besseren Qualität dieser Gesetzesvorschläge führen.

Auch die Antworten der Kommission und Stellungnahmen an die nationalen Parla­mente sollten rascher übermittelt werden. Wir warten oft drei bis manchmal sechs Monate auf derartige Stellungnahmen, wobei Vizepräsident Šefcovic im Rahmen von COSAC versprochen hat, dass sich das ändern sollte.

Andererseits ist die Frist von acht Wochen für die Subsidiaritätsprüfungen oftmals wirklich kurz. Da sollte es mehr Flexibilität geben, weil wir natürlich mit den Ländern in einem sehr intensiven Kontakt stehen und diese Acht-Wochen-Frist oft wirklich sehr, sehr kurz gegriffen ist. Diesbezüglich sind wir als österreichischer Bundesrat schon auch auf einem sehr guten Weg, denn wir wurden vom AdR, was Kontakte zu den Ländern, zu den Institutionen und auch zu den NGOs anbelangt, als Best-Practice-Beispiel bezeichnet, und das hat natürlich in Europa auch einen entsprechenden Stellenwert.

Zur Rolle der nationalen Parlamente: Ich denke, die Zusammenarbeit sollte verbessert, intensiviert werden. Diesbezüglich sind die Erwartungen an die Kommission – ich bringe das auch von COSAC mit an den Vizepräsident Frans Timmermans – groß. Und weil ich erwähnt habe, dass ich von der COSAC komme: Ich denke, es gibt in der Kommission auch eine große Aufbruchsstimmung. Frans Timmermans hat sich in seinen Statements als glühender Europäer dargestellt, und das kommt natürlich auch von (in Richtung Kommissar Hahn) dir immer wieder. Da hat man jetzt das Gefühl, es gibt eine neue Stimmung, auch mit Jean-Claude Juncker. Ich denke, da wird wirklich eine sehr gute, eine ausgezeichnete Arbeit, zusammen auch mit den nationalen Parlamenten, stattfinden.

Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte – das wurde auch bei COSAC intensiv kritisiert –, ist die Transparenz. Da gibt es offensichtlich nicht nur Defizite bei den nationalen Parlamenten, auch die Bevölkerung wünscht sich, mehr eingebunden und informiert zu werden. Ich möchte hier nur in einem Nebensatz CETA und natürlich TTIP erwähnen – die Diskussion ist bekannt.

Letzter Punkt: eine bessere Rechtsetzung. – Die Folgenabschätzung und Evaluierung von Gesetzgebungsakten sollte zur Vermeidung von Überregulierungsszenarien intensiviert werden. Gefordert wird weiters eine bessere Abgrenzung von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten, mehr Transparenz bei ihrer Vorbereitung und eine bessere Rechenschaftspflicht der Europäischen Kommission in Bezug auf delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte. Diesbezüglich gibt es aber offen­sichtlich von der Kommission jetzt eine klare Aussage, dass man da mehr einbinden möchte, nationale Experten mehr einbinden möchte bei der Ausarbeitung von dele­gierten Rechtsakten. All das dürfen wir sehr begrüßen!


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 17

Es gibt viel zu tun, Herr Kommissar! Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit. Wir wünschen alles Gute und viel Erfolg! (Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen.)

13.06


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächste gelangt Frau Präsidentin Blatnik zu Wort. – Bitte.

 


13.06.35

Bundesrätin Ana Blatnik (SPÖ, Kärnten): Herr Präsident! Gospod president! Herr EU-Kommissar! Gospod evropski komisar! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drage kolegice in kolegi! Als amtierende Präsidentin möchte ich mich noch einmal bei (in Richtung Kommissar Hahn) Ihnen bedanken, dass Sie mit uns über EU-Themen und vor allem auch über die Wichtigkeit nachbarschaftlicher Beziehungen – sowohl regional, bilateral, als auch auf der internationalen Ebene – diskutieren.

Und gerade diese Themen – das gemeinsame Europa, gutnachbarschaftliche Bezie­hungen – waren Schwerpunkte meiner Präsidentschaft. Ich hatte in Klagenfurt eine große Konferenz – Balkan als Chance, Balkan kot možnost –, bei der wir mit Vertretern und Vertreterinnen aus Bosnien-Herzegowina, aus Kroatien, aus Serbien, aus Slo­wenien und Kärnten über die gemeinsame europäische Zukunft diskutiert haben – mit all den Problemen, die noch vor uns liegen.

Wir haben gemeinsam mit den Bundesräten aus Kärnten sowie Reinhard Todt Slowenien besucht und haben wirklich mit der Politspitze diskutiert. Dabei konnten wir feststellen, dass zwischen Kärnten und Slowenien die nachbarschaftlichen Beziehun­gen sehr gut funktionieren. Und es hat mich sehr gefreut, dass es unsere Kärntner Kollegen aus dem Bundesrat waren, die zusätzliche konkrete Projekte angesprochen haben, die weiterentwickelt werden.

Slowenien und Kärnten haben gute Beziehungen auf der politischen Ebene, auf der wirtschaftlichen Ebene, aber auch auf der bilateralen Ebene. Lassen Sie mich nur ein paar Punkte aufzählen, zum Beispiel den Geopark oder die tolle Zusammenarbeit auf der kulturellen, auf der sportlichen Ebene, aber auch die Partnerschaftsgemeinden, die zusammen eine tolle Arbeit machen und sehr viele Projekte gemeinsam gestalten.

Diese Zusammenarbeit darf aber nicht in Slowenien aufhören, sondern diese Zusam­menarbeit muss zwischen allen europäischen Ländern stattfinden. Wir haben erkannt, dass sich unsere Probleme, unsere Herausforderungen eigentlich sehr ähneln: Es geht um die Wirtschaftsproblematik, es geht um die große Arbeitslosigkeit – vor allem die Jugendarbeitslosigkeit –, es geht um den Klimawandel, es geht um die Probleme Asyl, Migration, um nur einige Punkte zu nennen.

Ich glaube – nein, ich bin davon überzeugt! –, dass wir diese Probleme nur gemeinsam in einem gemeinsamen Europa lösen können. Ein einzelnes europäisches Land wird das, glaube ich, nicht bewältigen können. Wir brauchen die Kraft und die Anstrengung eines gemeinsamen Europas. Ja, wir brauchen europäische Regeln, vielleicht auch weltweite Regeln, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden.

Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das gemeinsame Europa ist mit dem Friedens­nobelpreis ausgezeichnet worden – ein einzigartiges Projekt, eine faszinierende Idee von Solidarität und Frieden. Der innere Frieden, so glaube ich, kann jedoch nur bestehen, wenn es soziale Gerechtigkeit gibt, weil gerade diese soziale Gerechtigkeit Stabilität und Solidarität vermittelt, Stabilität und Solidarität in unseren Gesellschaften.

Wer Gerechtigkeit will, wer Frieden will, der muss sich – sowohl in Europa als auch in Österreich – hinter die gemeinsame Europäische Union stellen, auch wenn es schwie­rige Zeiten gibt. Eine Krise kann man überwinden, wenn wir aber ein gemeinsames


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 18

Europa nicht verteidigen, dann verlieren wir eine der erfolgreichsten Ideen dieses Kontinents, dessen müssen wir uns bewusst werden.

Ich bin auch davon überzeugt, dass wir dann, wenn wir dieses gemeinsame Europa richtig weiterentwickeln, wenn wir besser informieren, wenn wir die Bürger und Bür­gerinnen mehr einbinden, wenn wir Vertrauen wecken, die Lösung haben für die große Herausforderung und Aufgabe des 21. Jahrhunderts, nämlich die Beantwortung der Frage, die wir uns stellen müssen: Wie können unsere Kinder und deren Kinder in dieser globalisierten Welt auf der Grundlage von Werten wie Demokratie und sozialer Gerechtigkeit leben? – Für mich gibt es nur eine Antwort: durch eine starke, friedliche, demokratische, gemeinsame Europäische Union, ein gemeinsames Europa, denn Europa, das sind wir.

(Die Rednerin setzt ihre Ausführungen in slowenischer Sprache fort.)

Herr EU-Kommissar, ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Bei der Konferenz „Balkan als Chance“ haben Jugendliche einen Brief an Europa formuliert – einen Brief an Europa, in dem Visionen der Jugend formuliert worden sind, in dem Wünsche, Anregungen stehen, aber auch die Ängste, die sie haben. Sie haben ihn mir gegeben, und ich habe ihnen versprochen, dass ich Ihnen diesen Brief heute übergebe.

Diese Vision Europas, die von den Jugendlichen formuliert wurde: Sorgen wir dafür, dass diese Vision Realität wird! – Danke. Hvala lepa. (Beifall bei SPÖ, ÖVP und Grünen sowie des Bundesrates Zelina. – Bundesrätin Blatnik überreicht Kommissar Hahn eine Mappe.)

13.13


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächster ist Herr Bundesrat Krusche zu Wort gemeldet. – Bitte.

 


13.13.26

Bundesrat Gerd Krusche (FPÖ, Steiermark): Herr Präsident! Herr Kommissar! Kolle­ginnen und Kollegen! Werte Zuseherinnen und Zuseher zu Hause! Ich möchte das Thema aufgreifen aus (in Richtung Kommissar Hahn) Ihrem Zuständigkeitsbereich, mit dem meine Fraktionskollegin geendet hat, nämlich die Türkei.

Sie haben am heutigen Tag dazu nur gesagt, dass die Türkei ein Sonderfall ist, und im Hearing im EU-Parlament am 30. September haben Sie zur Türkei sehr allgemein gemeint, die EU müsse Anker und Motor für Reformen sein, es solle eine Modernisie­rung der Zollunion mit Ausweitung auf landwirtschaftliche Produkte erfolgen und die Beitrittsverhandlungen dürfen nur weitergehen, wenn sich die Führung der Türkei zu den – was auch immer Sie darunter verstehen, ich nehme an, es sind Menschen­rechte – „universal rights“ und zu Reformen bekennt.

Ich frage mich: Ist das wirklich alles, was zum Thema Türkei zu sagen ist angesichts der jüngsten Entwicklungen, Aussagen und Taten des Präsidenten Erdoğan? – Und da sind es nicht nur die Gesetze, sondern auch die Prozesse, die ein entsprechendes Bild vermitteln.

„Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die Verunglimpfung von Journalisten und eine islamistisch-autoritäre Rhetorik führen die Türkei immer weiter von Europa weg. Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, die aussichtslosen Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu beenden und unsere Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen“.

Das hat Graf Lambsdorff im August in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des Europäischen Parlaments gesagt.


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 19

Im Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist von „großer Sorge mit Blick auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ... und der Rechtsstaatlichkeit“ die Rede. Es werden Mängel in der Korruptionsbekämpfung, der Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten kritisiert und natürlich die Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. – Ausgerechnet jetzt sind die Kapitel Justiz, Grundrechte, Freiheit und Sicherheit in den Verhandlungen eröffnet worden, wo man sich fragt, ob die nicht schon von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.

Aber die Türkei verstößt auch gegen bereits geschlossene Verträge mit der EU. – Ende 2013 wurde ein Rücknahmeübereinkommen betreffend illegale Immigranten, die über die Türkei in die EU kommen, abgeschlossen, aber leider hält sich die Türkei nicht daran. Und im Gegenzug verhandelt die EU mit Ankara über Visafreiheit mit dem Ziel, in drei Jahren zu einem Abkommen zu gelangen.

Das fasse ich eigentlich als gefährliche Drohung auf, denn laut türkischen Medien­berichten gibt es zahlreiche Türken, die IS-Ausbildungslager in Syrien besucht haben und mittlerweile wieder in die Türkei zurückgekehrt sind. Das alles sind Personen, die nirgendwo registriert und erfasst sind und die dann ohne ein Visum in die Europäische Union einreisen könnten. Was das für die Sicherheit in Europa bedeuten würde, brauche ich, wie ich glaube, nicht näher zu erläutern.

Herr Kommissar, es ist mir nicht ganz klar, wie Ihr Motto „quality before speed“ in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. Heißt es: Zeit gewinnen und darauf hoffen, dass ohnehin Zypern die Verhandlungen blockieren wird!? – denn die Kanonen­boot­politik der Türkei vor der zypriotischen Küste, weil sie dort Erdgasvorkommen aus­beuten will, hat ja den Unwillen Zyperns erregt.

Qualität in der Politik heißt für uns auch, klare Positionen zu beziehen und sich nicht nur hinter schönen Worten zu verschanzen, Herr Kommissar. Das fordern wir in diesem Zusammenhang dringend ein. – Danke. (Beifall bei der FPÖ.)

13.18


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Dönmez. – Bitte, Herr Kollege.

 


13.18.24

Bundesrat Efgani Dönmez, PMM (Grüne, Oberösterreich): Hohes Präsidium! Sehr geehrter Herr Kommissar! Sehr geehrter Herr Professor Schambeck! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Werte ZuseherInnen zu Hause! Eine der überzeugendsten und wirkvollsten Antworten auf die historische Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre gab der damalige US-Präsident Roosevelt, der sinngemäß sagte:

Wir müssen Perspektiven für die Zukunft schaffen! Wir müssen Depression und Angst bekämpfen! Die größtmögliche Zahl soll darin einen Vorteil haben!

Die Botschaften kamen an und zeigten auch Wirkung. – 80 Jahre später und in einem Europa, das ganz anderen Traditionen verpflichtet ist und in dem das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, nicht allgemein verbreitet ist, scheint dieses Rezept entweder allzu simpel oder viel zu kompliziert, um ihm Realisierbarkeit einzuräumen. Und dennoch wird sich Europa mit Vernunft auf die Vorteile eines „New Deal“ besinnen müssen, um nicht in ein paar Jahrzehnten all seine Vorteile verspielt zu haben. Dazu gehören keineswegs nur ökonomische Vorteile.

Die geschätzte Kollegin Blatnik hat es schon erwähnt: Wir sind eine Wirtschaftsunion, aber das ist zu wenig. Wir müssen auch zu einer Sozialunion werden. Hier müssen wir sehr viele Akzente und noch weitere Schritte setzen, damit dieses Projekt, dieses Friedensprojekt Europa auch viel mehr bei den Menschen ankommt, als das jetzt der Fall ist.


BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 20

Dieses Friedensprojekt Europa sehe ich in Gefahr, und zwar von innen und von außen. Von innen sehe ich es in Gefahr – und das erkennen wir ganz deutlich, wenn wir uns die Wahlergebnisse der letzten Jahre ansehen – durch das Erstarken einer euro­päischen Rechten, finanziert teilweise vom Ausland. Wer die Financiers sind, das wissen wir. Das ist äußerst gefährlich und birgt ein großes Gefährdungspotenzial in sich. Die Gefahr von außen sind terroristische Gruppierungen wie die ISIS oder andere Bedrohungen, das kann man nicht von der Hand weisen.

Das beste Rezept, das da wirkt – das hat auch meine Vorrednerin, Frau Blatnik, schon gesagt –, ist immer noch eine gute Sozialpolitik, aber auch eine gute Bildungspolitik. In Gegenden, wo jetzt die heißen Konflikte vorherrschen, ist ein mögliches Mittel die militärische Bekämpfung. Das sage ich als jemand, der Gewalt wirklich zutiefst ablehnt, aber es gibt gewisse Gruppierungen, die man leider Gottes nur mit militärischen Mitteln bekämpfen kann, das ist eine schmerzliche Realität.

Der sinnvollere Weg wäre aber, neben Waffenlieferungen auch diese Gebiete mit Glasfaserkabeln zu erobern, denn überall dort, wohin wir die Leitungen legen und wo wir am Ende dieser Leitung einen Computer aufstellen, haben die Menschen einen Zugang zu Informationen. Auf diesem Wege können wir uns besser gegenseitig kennenlernen und miteinander in Verbindung treten. Und dann wird man sehen, dass sich auch dort etwas Positives entwickeln wird.

Mein Vorredner, Kollege Krusche, hat unter anderem die Türkei angesprochen. Ich bin einer der schärfsten Kritiker der Vorgänge, die in der Türkei passieren, und zwar nicht deshalb, weil ich die gleichen Intentionen wie Sie, Herr Kollege Krusche, habe – ich bin selber türkisch-stämmig und muslimisch-stämmig –, sondern weil, was ich schärfstens kritisiere, in der Türkei die Demokratie beziehungsweise die Demokratiebewegung mit Füßen getreten wird, die Meinungsfreiheit keinen Stellenwert hat und die Türkei mittlerweile ein Land ist, wo die meisten JournalistInnen inhaftiert sind. Das ist äußerst bedenklich!

Da gibt es jetzt Stimmen wie die Ihre, die sagen: Wir müssen die Verhandlungen beziehungsweise die Beitrittsgespräche auf Eis legen! – Das ist ein sehr einfacher Weg, aber es ist nicht der richtige Weg, Herr Kollege, denn es wäre ein Schlag in das Gesicht der dortigen Demokratiebewegung, wenn jetzt, gerade in dieser Phase, die Verhandlungen auf Eis gelegt oder beendet würden. Ich halte es eher mit Ihrem Vorgänger als Erweiterungskommissar Štefan Füle, der gesagt hat: „Die Türkei braucht mehr europäisches Engagement und nicht weniger, um dem Land zu helfen, ein moderner europäischer Staat zu werden.“ Deshalb empfiehlt die Kommission, mög­lichst bald neue Beitrittskapitel zu eröffnen, und zwar die Kapitel 23 und 24, nämlich die Themen Justiz, Grundrechte, Freiheit und Sicherheit.

Das ist sehr, sehr wichtig. Ich kann Sie darin, diesen Weg zu gehen, nur bestärken und hoffe, dass wir mit der notwendigen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit diese Gespräche fortführen werden. – Herzlichen Dank. (Beifall bei Grünen, ÖVP und SPÖ.)

13.23


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächster zu Wort gelangt Herr Bundesrat Köberl. – Bitte.

 


13.23.35

Bundesrat Günther Köberl (ÖVP, Steiermark): Geschätzter Herr Vizepräsident! Ge­schätzter Herr Kommissar! Wenn jemand an einem Tag seinen Jahrgang und das Alter gleichzeitig feiern darf, dann ist das ein besonderer Tag – ein besonderer Tag für den österreichischen Bundesrat! Ich meine, gerade Veranstaltungen wie diese sind ein Beitrag zur diskutierten Aufwertung der Länderkammer in diesem Hohen Haus.


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Ich sage dies auch unter dem Eindruck der Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, kurz GASP genannt, die vom 5. bis 7. November in Rom stattgefunden hat. Dort hat es den ersten offiziellen Auftritt der neuen Hohen Vertreterin der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini, der ehemaligen italienischen Außenministerin, gegeben – einer coura­gierten Dame, die sich auch äußerst lobenswert über unseren Kommissar Johannes Hahn geäußert hat. Sie schätzt ihn nicht nur als Profi, der weiß, wie vieles in der EU läuft, sondern auch als einen, der gerade jene Regionen, die in der Entwicklung der EU in den nächsten fünf Jahren eine wichtige Rolle spielen werden, besonders gut kennt. Ich komme darauf noch zu sprechen.

Eine Arbeitsgruppe bei dieser Tagung hat den Titel „Europäische Union und der Westbalkan“ getragen, und ich habe dort ein Referat von einem Österreicher, nämlich von Gerald Knaus, der Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative ist, gehört. Er hat dort den Tagungsteilnehmern aus der Innensicht der Länder des Westbalkans die Ereignisse und die Entwicklungen in denselben geschildert. Es ist interessant, immer auch den anderen Standpunkt zu hören.

Es gibt europaweit ein großes Interesse und ein gemeinsames Bekenntnis zu einer gemeinsamen Außenpolitik der EU, aber wer diese gestalten soll, darüber gehen – je nachdem, mit wem man spricht – die Meinungen auseinander: der Europäische Rat, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament oder eine engagierte Federica Mogherini, die sich wirklich viel vorgenommen hat. Aber auch die einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem die Schwergewichte wie Frankreich, das Vereinigte König­reich oder Deutschland wollen ihre spezifischen Interessen nicht aus der Hand geben und ihre Außenpolitik eigenständig gestalten.

Im Gedenkjahr 2014 kommt man nicht an 1914 vorbei, und wer das Buch „Die Schlaf­wandler“ vom australischen Historiker Christopher Clark gelesen hat, dem wurde vor Augen geführt, wie feine Rädchen in dieser Zeit ineinandergegriffen haben und letzten Endes etwas ausgelöst wurde, das unseren Kontinent für immer verändert hat.

Die Schlafwandler sind all jene, die angeblich nichtwissend in etwas hineingetappt sind, weil keiner vom anderen gewusst hat, was er wirklich vorhat. Das passierte auf europäischer Ebene. Diese Region, von der diese Krise ausgegangen ist, liegt im Herzen des europäischen Kontinents. Und viele Außenstehende sagen zur EU: Wenn ihr das nicht lösen könnt, in einem Gebiet, das ohne Zweifel zur EU gehört, dann werdet ihr wahrscheinlich auch global nicht ganz ernst genommen!

Es gibt dahin gehende Bemühungen, es gibt auch Erfolge, Herr Kommissar, Sie haben sie angesprochen: Kroatien ist seit 2014 als 28. Land bei der EU. Es gibt einen Kandidatenstatus für Albanien, auch seit 2014. Und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien ist Kandidat seit 2005.

Gestatten Sie mir einen Sidestep: Es ist interessant und entmutigend zugleich, mitver­folgen zu müssen, wie sich um die Namensgebung eines Landes herum traditionelle Länder der EU wie Griechenland und weitere an einem Namen festklammern und nicht die Bedeutung oder die Chance sehen, die die Entwicklung dieser gesamten Region – und dazu gehören alle Länder in dieser Region, von Albanien bis hin zu Bosnien-Herzegowina und zum Kosovo – für Europa bietet.

Herr Kommissar, Sie haben es angesprochen: Der Prozess wird das Entscheidende sein, nicht die formellen Dinge, denn so ein Prozess muss gelebt werden. Auch Gerald Knaus hat es angesprochen, indem er sagte: Es ist den Menschen bewusst, und sie sind auch nicht enttäuscht, aber sie wollen eine realistische Einschätzung. Und wenn


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sie wissen, es wird eine Zeit dauern – es wurde eine Zeitdauer von fünf Jahren angesprochen –, dann darf diesen Menschen dort doch nicht die Perspektive genom­men werden, dass sie am Ende des Weges das Ziel erreichen, Teil eines vereinten Europas zu sein. – Das geschieht auf vielen Ebenen, und dafür bin ich Ihnen sehr, sehr dankbar.

Eines sei mir noch gestattet, nämlich ein kurzer Seitenhieb: Herr Kollege Krusche, wenn Sie die Türkei hier kritisieren, dann erwarte ich mir von Ihnen, dass Sie das mit gleichen Worten auch bezüglich Russland und Präsident Putin machen. (Bundesrat Krusche: Gibt es da Verhandlungen mit der EU?) Das würde mich sehr, sehr freuen. (Bundesrat Krusche: Ist Russland Beitrittskandidat bei der EU?)

Ihnen, Herr Kommissar Hahn, wünsche ich alles Gute nicht nur zum Geburtstag, son­dern auch für Ihren Weg! Es wird ein erfolgreicher sein – ein Weg zu einem gemeinsamen Europa! (Beifall bei ÖVP und Grünen sowie bei Bundesräten der SPÖ.)

13.29


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächster zu Wort gelangt Herr Bundesrat Pfister. – Bitte.

 


13.30.33

Bundesrat Rene Pfister (SPÖ, Niederösterreich): Wertes Präsidium! Werter Herr Kommissar! Auch von meiner Seite alles Gute zum Geburtstag! Es kommt ja jetzt die Zeit des Wünschens, die Zeit vor Weihnachten, und da fällt ein Geburtstag natürlich sehr gut hinein.

Herr Kommissar, wenn es um Nachbarschaftspolitik geht, so richten sich meine Wün-sche und meine Anliegen betreffend die Zusammenarbeit mit Ihnen – und Sie haben als ÖAAB-Obmann, der Sie kurzzeitig waren, auch dem Arbeitnehmerflügel angehört – auch auf die Weiterentwicklung des europäischen Arbeitsmarktes im Hinblick auf die sozialen Standards.

Weil Sie eingangs das nach Ihrer Meinung sehr tolle Projekt „Airbus“ oder das Unter­nehmen EADS angesprochen haben, und zwar als jemand, der sich mit der Luftfahrt sicher das eine oder andere Mal beschäftigt hat, muss ich sagen – und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen –: 150 000 Beschäftigte mit verschiedenen Fir­men­sitzen in Ländern mit den unterschiedlichsten Kulturen sind im EADS-Konzern vereint, und zwar in Deutschland, Frankreich, England, Italien. Bei der Zusam­men­arbeit gibt es natürlich diverse Auseinandersetzungen, wo es darum geht, diesen Konzern so fit zu machen, dass er nicht nur ein internationaler Player ist, sondern auch zu den Top-Playern im Luftverkehrsbereich zählt. Wir müssen uns da nicht verstecken am europäischen Luftfahrtsektor, wenn es um den Airbus und zukunftsträchtige Projekte geht, denn die Weiterentwicklung geschieht in Europa, die Technologie­entwicklung findet in Europa statt. Genau das ist es, was wir nicht nur für die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern auch für den Erfolg des Wirtschaftsstandorts benötigen!

Vom großen Konzern EADS komme ich jetzt zu den etwas kleineren Bereichen. Auch bei uns gibt es in den Grenzgebieten, wenn ich etwa an Niederösterreich oder an das Burgenland denke, diverse Projekte, die den Arbeitsmarkt, die Arbeitsplätze und auch natürlich die Nachbarschaft betreffen. Wenn ich nur als Beispiel das Burgenland her­nehme: Da gibt es sehr viele Pendlerinnen und Pendler, und zwar zirka 18 000 Ungarinnen und Ungarn, die tagtäglich in das Burgenland oder nach Niederösterreich fahren, um dort zu arbeiten. Dort gibt es sehr zukunftsträchtige Projekte, die gemein­sam mit den Arbeiterkammern und mit dem Gewerkschaftsbund vorangetrieben wur­den und wo auch die Integration sehr gut funktioniert hat, und zwar nicht nur auf dem


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österreichischen Arbeitsmarkt, sondern auch dahin gehend, die Zusammenarbeit zu forcieren. Doch durch das Verschieben der Außengrenzen im europäischen Raum drohen auch mitunter solche Projekte zu leiden.

Ich ersuche Sie, Herr Kommissar, der Sie jetzt in Ihrer neuen Periode auch für die Nachbarschaftspolitik zuständig sind, dass Sie großes Augenmerk auch auf jene Themen richten, wo es um Nachbarschaftspolitik beziehungsweise um Nachbarschaft geht, wo es um soziale Standards, um Arbeitnehmerfragen und vor allem um den Interessenausgleich zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen geht.

Die Probleme sind natürlich nicht weniger geworden, sondern man hat eher den Ein­druck, dass die Probleme auf dem Arbeitsmarkt sehr viel größer geworden sind. Auch meine Vorrednerinnen und Vorredner haben das angesprochen. Ich habe auch sehr oft den Eindruck, dass sozialrechtliche Standards in Osteuropa nicht immer mit den westlichen Standards harmonieren beziehungsweise nicht immer mit diesen im Einklang sind und dass wir uns in den Verhandlungen, wenn es um Kollektivvertrags­auseinandersetzungen geht oder wenn es um große Lohnrunden geht, die Konzerne betreffen, nicht an den hohen und guten Standards orientieren, sondern immer über­legen müssen, welche Grundlagen wir heranziehen, und da bewegen wir uns immer weiter Richtung Osteuropa.

Sie haben, Herr Kommissar, die verschiedenen Erweiterungsländer angesprochen, wie etwa Serbien, Montenegro oder Mazedonien. Die Liste ist da sehr lang. Ich ersuche Sie, wenn Sie die Möglichkeit dazu haben, darauf einzuwirken – und das gebe ich Ihnen als einen großen Wunsch von mir mit –, denn solange nicht ein entschiedenes Auftreten gegen diverse Steuerbegünstigungen und Steuerzuckerln, die es in den verschiedenen europäischen Ländern gibt, erfolgt und solange das gegenseitige Ausspielen nicht beendet wird und die unterschiedlichen Standards nicht verändert werden, so lange kann das mit der Erweiterung nicht funktionieren.

Mein weiterer Wunsch an Sie, Herr Kommissar, der Sie für Erweiterungsfragen zuständig sind, betrifft Folgendes: In Österreich gibt es ein tolles Gesetz, nämlich das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz, das erst vor Kurzem beschlossen worden ist. Wir wissen aus Studien, dass dieses Gesetz exzellent wirkt. Damit ist Österreich Vorreiter genau bei solchen Gesetzen, und ich ersuche Sie, dass wir das als Vorbild auch für die EU-Erweiterung oder für Erweiterungsregelungen heranziehen, dass Sie genau diese Grundlagen, die wir damit in Österreich bereits geschaffen haben, für Ihre diesbezüglichen Überlegungen heranziehen.

Ich darf mit diesem Wunsch schließen und meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass Sie, Herr Kommissar, in Ihrer neuen Periode, in den nächsten fünf Jahren, genau diesen Weg gehen, nämlich soziale Standards in Europa hochzuhalten und nicht nach unten zu nivellieren. (Beifall bei SPÖ und Grünen sowie bei Bundesräten der ÖVP.)

13.36


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächster zu Wort gelangt Herr Bundesrat Jenewein. – Bitte, Herr Kollege.

 


13.36.44

Bundesrat Hans-Jörg Jenewein (FPÖ, Wien): Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Kommissar! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute schon so viel gehört, wie toll nicht alles funktioniert und was wir nicht alles tun müssen und was nicht alles passieren sollte und was nicht alles notwendig wäre, das umgesetzt wird, aber kommen wir vielleicht ganz kurz wieder auf den Boden der Realität zurück, kommen wir vielleicht ganz kurz darauf zu sprechen, dass


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bekanntgegeben wurde, dass wir mit dem heutigen Tag in Österreich rund 407 000 Arbeitslose haben!

Ich darf nur ganz kurz in Erinnerung rufen: Wir haben letztes Jahr einen sehr guten Winter gehabt, es gab fast keinen Schnee. Es ist daher damit zu rechnen, dass die Bauwirtschaft heuer wesentlich stärkere Einbrüche erleiden wird, wenn wieder mehr Schnee in Österreich fällt. Das heißt, wenn wir nicht aufpassen, dann haben wir im Frühjahr nächsten Jahres 500 000 Arbeitslose. (Zwischenrufe bei Bundesräten der ÖVP.)

Der Zuwachs an Arbeitskräften aus Osteuropa, meine sehr geehrten Damen und Herren, vor allem jene von der ÖVP, ist genau das, wo Sie uns in den letzten Monaten immer gesagt haben: Na wo sind denn die Zuwanderer aufgrund der Ost­erweiterung? – Tatsache ist: In der Ostregion gibt es ein Plus von 36 Prozent. – Großartig gemacht, gratuliere! Es freut sich darüber jeder Arbeitslose von den 407 000!

Zu dem, was Kollege Köberl angesprochen hat, wo er gemeint hat: Sagen Sie doch etwas zur Menschenrechtssituation in Russland! – Herr Kollege, ich werde Ihnen ein­mal etwas sagen: Vielleicht wäre es gescheit, uns einmal über die Menschenrechts­situation in der Europäischen Union Gedanken zu machen! Ich sage das, weil der Herr Kommissar Hahn hier sitzt. Im Jahre 2011 hat der EuGH festgestellt, dass Griechen­land kein sicheres Drittland ist. Das liegt aber in unserer eigenen Verantwortung, in der Verantwortung der Europäischen Union. Es sind genau wir, die dafür verantwortlich sind! Auf der anderen Seite provoziert man mit einer völlig irrwitzigen Russlandpolitik, dass jetzt zum Beispiel die (zögerliche Aussprache des Redners) South-Stream-Pipeline (ironische Heiterkeit und Zwischenrufe bei der ÖVP) gestrichen wurde, wie gestern bekanntgegeben wurde. – Dass Sie sich darüber erheitern können, spricht für Ihren Horizont.

Die voestalpine, Herr Kollege Köberl, Sie kommen aus Oberösterreich  (Rufe bei der ÖVP: Aus der Steiermark!) Sie sind aus der Steiermark. Egal, es wird genug Kollegen hier aus Oberösterreich geben. (Neuerliche Zwischenrufe bei der ÖVP.) Ja, das ist doch völlig egal, hören Sie lieber zu! Die voestalpine verliert dadurch rund 200 Mil­lionen €. Das ist Ihrer Politik zu verdanken, meine Damen und Herren! Vielleicht sollten Sie mehr Anleihe bei dem nehmen, was Ihr Kollege, der Wirtschaftskammerpräsident Leitl, zu diesem Thema sagt. Das wäre weit sinnvoller und würde wahrscheinlich auch für den Wirtschaftsstandort Österreich sehr sinnvoll erscheinen. (Beifall bei der FPÖ.)

Denn Leitl sagt, rund 55 000 Arbeitsplätze sind mit Russland direkt verwoben. – Da ist es ja „großartig“, wenn die Europäische Union, allen voran die Europäische Kom­mission, an weiteren Sanktionen gegen Russland bastelt! Im Endeffekt basteln Sie damit an den künftigen Arbeitslosenzahlen in Österreich und in der Europäischen Union! Ob das wirklich die Politik ist, die nachhaltig ist, steht auf einem anderen Blatt! – Herzlichen Dank. (Beifall bei der FPÖ.)

13.39


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Als Nächste zu Wort gelangt Frau Bundesrätin Dr. Reiter. – Bitte, Frau Kollegin.

 


13.40.01

Bundesrätin Dr. Heidelinde Reiter (Grüne, Salzburg): Hohes Haus! Herr Kommissar! Werte Kollegen und Kolleginnen! Werte Zuseher und Zuseherinnen! In Anbetracht des Themas, muss ich sagen, habe ich große Achtung vor der Größe dieser Aufgabe und vor der Schwierigkeit dieser Aufgabe, die Ihnen, Herr Kommissar, hier übertragen wurde, mit vergleichsweise geringem Budget, muss man eigentlich auch dazusagen.


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Diese Aufgabe feiert ja auch ein Jubiläum. 2004 gab es die ENP, also die ersten Pläne, Nachbarschaftsprogramme mit 16 Ländern, das hat also vor zehn Jahren begonnen. Somit wird auch in dieser Hinsicht ein Jubiläum gefeiert. Diese Aktionspläne wurden inzwischen auch schon revidiert und überarbeitet, und es gibt das Nachfolgeprogramm, das ENI, das European Neighbourhood Instrument, von 2014 bis 2020. Es hätte mich schon interessiert, inwieweit das revidiert wird oder was da Ihre Aufgabe jetzt im nächsten halben Jahr sein wird. Sie haben angeschnitten, dass es Ihre Aufgabe ist, das erneut zu revidieren.

Die Größe dieser Aufgabe oder die Schwierigkeit dieser Aufgabe zeigt sich ja dort, wo es gelungen ist oder wo man entsprechende Assoziationsabkommen abgeschlossen hat, also daran, was das in Ländern wie der Ukraine und Moldawien an politischen Umwälzungen, an Veränderungen ausgelöst hat. Ich finde es eigentlich schrecklich, dass mit dem Abschluss solcher Assoziationsabkommen oder mit diesen Verhandlun­gen diese Länder dazu gezwungen werden oder anscheinend vor die Wahl gestellt werden, einen neuen Zaun, eine neue Mauer gegenüber ihren Nachbarn zu errichten. Das betrifft auch Serbien.

Sie haben sehr richtig gesagt, für Sie ist 1989 noch nicht vollendet, sondern erst dann, wenn alle Mitglieder der EU sind. Wer ist alle? Wo sind eben diese Grenzen? Und es scheint jetzt so zu sein, dass wir dabei sind, neue Grenzen zu errichten. 1989 ist der Eiserne Vorhang gefallen. Errichten wir nicht neue Eiserne Vorhänge rund um dieses Europa und seine noch teilweise unklaren Grenzen!

Ist das Mittelmeer nicht jetzt schon eine neue Grenze, eine neue Mauer gegen viele Staaten, mit denen wir versuchen, Assoziationsabkommen oder Zusammenarbeit aufzu­bauen und voranzutreiben? Sind wir nicht dabei, eben auch im Osten, auf dem Balkan und so weiter neue Grenzen zu errichten? Das kann es nicht sein!

Es ist sicher richtig, was schon angeklungen ist, am sichersten ist man dort, wo man sich mit den Nachbarn einigt, wo die Nachbarn aufeinander aufpassen, wo die Nach­barn miteinander kooperieren. Das gilt im Wohnblock, das gilt im Dorf und das gilt auch zwischen Staaten, davon bin ich fest überzeugt. Die Nachbarn kann sich aber ein Staat nicht aussuchen, sondern diese Nachbarn gibt es eben, und es muss gelingen zusam­menzuarbeiten.

Ein Gedanke noch über die Rolle des Bundesrates hier in diesem Bereich und seine Rolle in der EU oder bei der Umsetzung dieser Problematik, der Frage der Subsi­diarität. Wenn es der EU nicht gelingt, diesen Begriff der Subsidiarität tatsächlich mit Leben zu erfüllen und bei all den Vorschriften, die jetzt auch immer wieder kommen, sei es mit neuen Assoziationsabkommen für die Wirtschaft, mit TTIP und Ähnlichem, den Gestaltungsspielraum gerade für die KMUs, dieses Rückgrat der Wirtschaft zu erhalten und noch weiter auszubauen, also Subsidiarität zu leben, dann ist das Projekt, wie ich meine, als Ganzes zum Scheitern verurteilt. Und darin sehe ich die wichtige Zukunftsaufgabe auch des Bundesrates, diesen Begriff zu leben und ihm zum Leben zu verhelfen.

Ich glaube, dass es dazu tiefgreifender Reformen auch des Bundesrates und einer Weiterentwicklung dieses Gremiums bedarf. Aber es erfüllt mich mit Hoffnung, dass sich der Bundesrat das als Aufgabe vornimmt und auch versucht, dieser Aufgabe gerecht zu werden. – Danke. (Beifall bei den Grünen sowie bei Bundesräten von SPÖ und ÖVP.)

13.45



BundesratStenographisches Protokoll835. Sitzung / Seite 26

Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Zur Abgabe eines Schlusswortes hat sich nochmals der Herr EU-Kommissar Dr. Hahn zu Wort gemeldet. – Bitte, Herr Kom­missar.

 


13.45.40

Dr. Johannes Hahn (EU-Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erwei­terungsverhandlungen): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ausdrücklich für diese Diskussion bedanken und bei den Ausführungen der letzten Rednerin anknüpfen: Die Europäische Union sind wir alle. Also wenn es darum geht, etwas zu schaffen oder etwas zu riskieren, dann riskieren wir es alle oder dann schaffen wir es hoffentlich alle. Gerade die Erfüllung oder Ausgestaltung des Subsidi­aritäts­prinzips ist unser aller Aufgabe, das ist auch eine ganz wesentliche Aufgabe Ihres Hauses, und Sie nehmen sie ja wahr.

Ich habe das jetzt ganz bewusst an den Beginn meiner Ausführungen gestellt, weil es mir immer ein Anliegen ist zu sagen, wenn wir die Kommunikation über die Euro­päische Union nur den offiziellen europäischen Funktionären überlassen, dann würden wir scheitern, einfach aus Kapazitätsgründen. Ich glaube, auf jeden Kommissar kom­men rund 18 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger. Also die Wahrscheinlichkeit, dass ich während meines fünfjährigen Mandates nur einen Bruchteil der Menschen, dieser rund 18 Millionen persönlich erreichen und mit ihnen über die EU kommu­nizieren kann, ist nicht sehr hoch. Über Europa, über das eigene Bundesland, über die eigene Gemeinde kommunizieren ja alle in einer durchaus positiven, auch kritischen Art und Weise. Und ich warne wirklich davor zu sagen: da die EU, da wir. Wir sind die Europäische Union, und wir sind Teil dieser Europäischen Union.

Daher auch die Frage, auf welches Europa wir schauen. Na ja, ich glaube, die Erfah­rung machen wir alle, je weiter weg wir von Europa kommen, desto einheitlicher wird Europa gesehen. Auch in Europa wird Österreich einheitlich gesehen. Erst wenn jemand ein näherer Nachbar von Österreich ist, dann ist er vielleicht auch imstande zu differenzieren. Ich glaube, das sollten wir auch so stehen lassen.

Ich möchte ein paar Dinge nur kurz ansprechen, und das ist das Wesen solcher Diskussionen, dass man eben nicht sehr lange über ein Thema reden kann. Daher werde ich zwar über die Türkei etwas sagen, aber mich hier nicht unendlich auslassen können.

Aber zunächst zu Russland. Halten wir schon fest, dass die Krim und Teile der Ostukraine annektiert wurden und dass wir gerade wieder Bewegungen in Abchasien erlebt haben, die jetzt nicht unter – wie soll ich sagen? – freundschaftliche Initiative fallen können. Also diese Dinge sollten wir schon einmal außer Streit stellen.

Worüber ich gerne auch Aufklärung hätte von unserem russischen Partner, ist, ob das, was sich hier durch verschiedene Maßnahmen offenbart, Teil einer Strategie ist, das Territorium der früheren Sowjetunion wieder zurückzugewinnen, oder ob es, was ja auch legitim wäre, eine berechtigte Sorge ist, was die eigene Sicherheit betrifft. Wenn es darüber Aufschlüsse gäbe, dann könnte man auch vernünftige Gespräche führen. Ich sage nur ganz offen, das, was wir in den letzten Monaten gesehen haben, veranlasst mich eher anzunehmen, es geht um Ersteres, denn für die Europäische Union war immer klar und deutlich, was ich schon eingangs gesagt habe, dass wir da überhaupt keine expansionistischen Bestrebungen haben.

Es liegt im Übrigen an jedem Nicht-EU-Mitgliedsland, einen Beitrittsantrag zu stellen. Aber, bitte, die Europäische Union und ihre Funktionäre shoppen nicht herum, klopfen nicht an und sagen: Du bist noch nicht Mitglied, willst du nicht Mitglied werden? Also


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dafür gibt es kein Beispiel, sondern der Weg geht in die andere Richtung. Und dann hat man sich auch seriös damit auseinanderzusetzen.

Übrigens: Russland hat – soweit ich es überblicke – zu keiner Zeit gesagt, es wolle Mitglied der Europäischen Union werden, weil es sich in seinem Selbstverständnis sozusagen als das natürliche Visavis sieht. In diese Richtung gibt es also überhaupt keine wie immer gearteten Überlegungen, und jeder, der meint, das wäre eine gute Idee, kennt die realpolitischen Gegebenheiten nicht.

Zweitens – auch das habe ich eingangs gesagt –: Es ist immer wichtig, auch die jeweiligen Befindlichkeiten unserer Mitgliedsländer zu kennen, und da muss ich auch mit einem Mythos aufräumen: Der frühere sowjetische Parteichef Gorbatschow hat in den letzten 25 Jahren wiederholt klargestellt, dass es anlässlich der Zusammen­führung der beiden deutschen Staaten niemals eine Vereinbarung gegeben hat, dass es nicht zu einer sozusagen Ausdehnung der NATO kommen könnte. Ich möchte das nur der historischen Korrektheit halber festhalten.

Natürlich kann man da aus politischen Gründen unterschiedlicher Auffassung sein, und wir in Österreich haben zu sicherheitspolitischen Fragen aufgrund unserer Tradition einen anderen Zugang. Ich kann Ihnen nur sagen, für die baltischen Staaten war die Mitgliedschaft in der NATO wichtiger als die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. In Polen, das bekanntlich eines der besten Beispiele für die gelungene europäische Integration ist, ist es erst seit ein oder zwei Jahren so, dass die Bevölkerung die Mitgliedschaft in der Europäischen Union höher einstuft als die Mitgliedschaft in der NATO.

Für alle früheren Staaten des Warschauer Paktes, insbesondere für jene, die sogar zur Sowjetunion gehört haben, ist die NATO – ob wir das wollen oder nicht, das ist Faktum – sozusagen eine Lebensversicherung. Ob der Wunsch, da Mitglied zu werden, insgesamt gesehen immer als der smarteste Move betrachtet werden kann, das ist eine andere Frage, aber wir können nicht ignorieren, wie Befindlichkeiten – nicht nur von Politikern und Politikerinnen, sondern in der Bevölkerung – sich dar­stellen. Darauf gilt es zu reagieren, deswegen ist ja unser Ansatz als Europäische Union, als Kommission immer, zum Ersten Gespräche zu führen, zum Zweiten auf das friedliche Zusammenwirken abzustellen und immer wieder den Beweis zu führen: Wir haben hier keine Interessen, die über die territorialen Fragen hinausgehen.

Nochmals: Unser Interesse ist ein friedliches Zusammenleben, ist eine Prosperität. Geht es unseren Nachbarn gut, geht es uns auch gut – und unter Nachbarschaft reihe ich auch Russland ein. Aus unserer Warte sind die Türen nie zugeschlagen, aber in der aktuellen Situation liegt es aufgrund der jüngsten Ereignisse wohl doch an Russ­land, die Initiative zu ergreifen.

Einige Sätze zu South Stream, weil das gerade aktuell ist: Ich weiß, da gibt es aus österreichischer Warte Interessen, als europäischer Funktionär muss ich Ihnen aber sagen, es gilt wie in allen Bereichen europäische Regeln zu respektieren. Wir hätten hier einen erheblichen Fall von Wettbewerbsverstoß, so wie das Konzept aufgesetzt ist. Auch das europäische Energiepaket, die europäische Energieeinheit ist da nicht ausreichend respektiert, und wahrscheinlich – und insoweit ist die Aussage von Putin und anderen russischen Vertretern nicht unberechtigt – stellt sich natürlich auch die Frage der Wirtschaftlichkeit, denn in erster Linie wäre South Stream im Großen und Ganzen eine Substitution der bestehenden Versorgungsstränge durch die Ukraine. Das wäre also nicht dazu angetan, mehr zu transportieren, sondern anders, und das muss eben auch kalkuliert und finanziert werden. Ich habe aber verstanden, das


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Ganze ist einmal in den Raum gestellt worden und wartet darauf, dass jemand anderer es vielleicht abholt.

Zur Türkei: Als zuständiger Kommissar habe ich zu respektieren, dass es eine auf­rechte Beschlusslage des Europäischen Rates gibt, ergebnisoffene Verhandlungen zu führen. Ich glaube, in diesem Fall sind wir einer Meinung, dass es nur fair ist, diese Verhandlungen endlich zu einem Ende zu bringen, weil seit 1999 verhandelt wird. Verhandlungen zu Ende zu bringen heißt eben auch, die unterschiedlichen Kapitel zu eröffnen und zu verhandeln, damit wir irgendwann einmal einen Bericht liefern können, wie die Verhandlungsergebnisse sich darstellen und was die nächsten Schlussfolge­run­gen sind. Bei allen Schwierigkeiten – und ich habe überhaupt nicht die geringste Neigung, negative Entwicklungen in der Türkei zu leugnen – muss man aber sagen, viele Entwicklungen in den letzten Jahren in der Türkei sind auch das Ergebnis der Verhandlungen mit der Europäischen Union.

Für die Türkei gilt das Gleiche wie für die meisten Nachbarländer – ich glaube, ein Redner oder eine Rednerin hat es angesprochen –: Die Europäische Union ist für die meisten Nachbarn – ich glaube, das einzige Land, für das das nicht gilt, ist Weiß­russland – der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner. Serbien zum Beispiel, nur als Illustration: Zwei Drittel der Importe und Exporte kommen aus beziehungsweise gehen in die Europäische Union; zwei Drittel der ausländischen Investitionen kommen aus der Europäischen Union. By the way: Der mit Abstand größte Investor ist Österreich mit 18 Prozent, der Anteil der russischen Investitionen in Serbien liegt bei 4 Prozent. Österreich investiert also viermal stärker in Serbien als Russland – Quelle: serbische Daten –, nur damit wir eine Vorstellung davon haben, in welchen Strukturen wir uns befinden.

Zum Thema ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien – ich muss offiziell diese Langform wählen –: Auch da gilt es die Befindlichkeiten in den Regionen zu verstehen. Ich war vor wenigen Wochen in der Region Westmazedonien, die zu Griechenland gehört und die einzige Region ist, die keinen Seeanschluss hat. Neben den Ge­sprächen war das Erste, das man mir gezeigt hat, das Grab Philipps des Großen – weil die Befindlichkeiten so sind. In der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien wird der Flughafen „Philipp II.“ genannt, auch Autobahnen, glaube ich, und Univer­sitäten. Es gibt da also viele Emotionen, und gleichzeitig hört man, dass die Wirtschaft natürlich ein legitimes Interesse an einem sehr intensiven grenzüberschreitenden Austausch hat, diesen auch heute schon praktiziert und sich mehr wünschen würde. Im selben Gespräch treten sozusagen Ratio und Emotio gemeinsam zutage, und das sind Dinge, die wir hoffentlich in den nächsten fünf Jahren so weit aussortieren können, dass wir tatsächlich Verhandlungen aufnehmen können.

Zum Thema Ukraine habe ich schon viel gesagt.

Ganz kurz noch zu Island – es ist interessant, Ihre Kollegin Lunacek hat mich das im Europäischen Parlament auch gefragt –: Ehrlich gesagt, ich war dort, ich kenne das. Also selbst wenn Island der Meinung wäre, es würde mit uns verhandeln wollen, haben wir zwei so kleine Themen wie die Fischfangquote und den Lebendviehimport, die dort ein Tabu sind. Daher glaube ich auch da sagen zu können, dass es unrealistisch ist, dass sich das während dieser Periode ausgeht.

Aber nochmals: Die Aussage von Juncker hat auch Druck herausgenommen, denn bisher war es so, dass jeder Kommissionspräsident in seinem Track Record einen Beitritt haben wollte. Jetzt steht einer auf und sagt: Ich brauche keinen Beitritt, damit ich auf ein erfolgreiches Mandat verweisen kann! – Das eröffnet uns die Möglichkeit,


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diese Verhandlungen, diesen Prozess solide zu führen, die Länder so heranzuführen, dass sie – wenn sie einmal beitreten – zum Zeitpunkt ihres Beitritts am ersten Tag Vollmitglied sind – Vollmitglied im wahrsten Sinne des Wortes – und sich nicht noch innerhalb ihrer Mitgliedschaft entwickeln müssen, wie wir das bei einigen jüngeren Mitgliedern zu beobachten haben.

Ganz kurz noch zur Frage der Mitwirkung der Länderkammern und der nationalen Einrichtungen und des Noch-einmal-gehört-Werdens: Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich als nationaler Minister in der Nacht aufwachen würde und eine Idee hätte, die man in Gesetzesform gießen müsste, so würde das ungefähr ein Dreivierteljahr dauern. Auf europäischer Ebene dauert das heute im Schnitt etwa eineinhalb Jahre, weil eben umfangreiche Konsultationsprozesse vorgesehen sind. Ich denke, diese eineinhalb Jahre sind schon ein beachtlicher Zeitraum. Und wir müssen natürlich die richtige Balance finden zwischen Mitwirkung und einer Erledigung, die in einem über­schaubaren Zeitrahmen erfolgt, da wir andernfalls automatisch mit dem Vorwurf konfrontiert werden: Die Dinge dauern zu lange! Es geht zu wenig vonstatten!

Letzter Punkt: Ich bitte Sie, sich mit Ihrer ganzen Expertise, mit Ihrer ganzen Erfahrung als Bundesrat beziehungsweise als Mitglied dieser Länderkammer in Ländern zur Verfügung zu stellen, die Interesse an einer föderalen, an einer dezentralen Struktur haben, die aber des Know-how bedürfen.

Professor Schambeck ist heute schon öfters angesprochen worden. Herbert, ich möchte mich auch bei dir ganz ausdrücklich bedanken. Professor Schambeck war und ist einer jener, die sich extrem engagiert haben und es noch immer tun, um zum Beispiel die Transformation der Akademien der Wissenschaften in den früheren kommunistischen Ländern zu begleiten, was eine ganz wesentliche Aufgabe ist, weil historisch die Forschungsarbeit an der Akademie war und die Lehre an der Universität. Und wenn wir ein erfolgreiches Zusammenwirken von Lehre und Forschung haben wollen, dann brauchen wir Übergänge, Transformationen.

Herbert, in diesem Zusammenhang allerherzlichsten Dank für deine Unermüdlichkeit! Ich weiß, dass Reisen gerade in diese Länder nicht zu den einfachsten Übungen gehören, wenn man nicht mehr der Allerjüngste ist. Also vielen herzlichen Dank, dass du das immer noch unternimmst! (Allgemeiner Beifall.)

Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich noch einmal. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre politische Arbeit und möchte anbieten, dass wir in diesen fünf Jahren weiter im Gespräch bleiben. – Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen.)

14.02


Vizepräsident Mag. Harald Himmer: Ich darf mich dem Dank anschließen und mich beim Herrn EU-Kommissar noch einmal sehr herzlich für seine informativen Aus­führungen bedanken.

Ich denke, ich spreche im Namen von uns allen, wenn ich dir für deine so wichtige Aufgabe sehr viel Erfolg wünsche.

Beim Österreichischen Rundfunk darf ich mich dafür bedanken, dass er diese wichtige Debatte den Zuseherinnen und Zusehern via Bildschirm zugänglich gemacht hat.

*****

Die Einberufung der nächsten Sitzung des Bundesrates wird auf schriftlichem Wege erfolgen. Als Sitzungstermin ist Donnerstag, 4. Dezember 2014, 9 Uhr, in Aussicht genommen.


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Die Tagesordnung ist Ihnen zugegangen.

Die Ausschussvorberatungen sind für heute, im Anschluss an diese Sitzung, vorgesehen.

Diese Sitzung ist geschlossen.

14.03.12Schluss der Sitzung: 14.03 Uhr

 

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