Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 76. Sitzung / Seite 80

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Zweitens: Im letzten Absatz zur Frage 3 heißt es: "Zusätzlich zu den von der Staatsanwaltschaft Wien angestellten Überlegungen hielt das Bundesministerium für Justiz das Vorhaben der Anklagebehörden schon deshalb für zutreffend, weil eine allenfalls erweisbare Mitwirkung von Dr. Gross an Euthanasiehandlungen im Jahr 1944 rechtlich ebenfalls nach § 212 Reichsstrafgesetzbuch zu beurteilen und damit verjährt sei."

Herr Justizminister! Da muß etwas passiert sein. In Österreich gilt nicht – Gott sei Dank – das Reichsstrafgesetzbuch, und es hat auch nie gegolten, selbst während der Nazi-Justiz nicht. Das ist der Punkt: Die österreichische Justiz, die Staatsanwaltschaft sagt im Jahr 1995: Wir können den Dr. Gross nicht verurteilen, das war im Tatbild des NS-Rechtes nur Totschlag – kein Totschlag aus sogenannten niederen Beweggründen, sondern nur ein einfacher Totschlag mit Vorsatz.

Herr Justizminister! Sie wissen, denke ich, daß auch nach 1938 in Österreich das österreichische Strafgesetz gegolten hat, es wurde von den Nazis nicht kassiert. Auch wissen Sie, vermute ich, daß der Anstaltsleiter Dr. Illing, der nach 1945, im Jahr 1946, wegen Meuchelmordes zum Tode verurteilt wurde, aufgrund österreichischer Strafgesetzbestimmungen zum Tode verurteilt worden ist – und nicht deshalb, weil er das NS-Strafrecht verletzt hat!

Herr Bundesminister! Was im konkreten Fall der Justiz wie auch Ihnen bei Ihrer Anfragebeantwortung vorzuwerfen ist, ist der Umstand, daß Sie den entscheidenden Fragen ausweichen, daß es die österreichische Justiz über Jahrzehnte hinweg nicht der Mühe wert gefunden hat, zu prüfen und auch die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß auch in Zeiten der NS-Justiz das Strafrecht jener Justiz nicht gegolten hat und, selbst wenn es so gewesen wäre, in völkerrechtlichen Fragen, in Fragen des Völkermordes – da sind wir inzwischen schon einen Schritt weiter – auch nicht gelten durfte. Es geht in diesem Zusammenhang um eine solche Frage.

Ich will mich aber nicht nur auf den Völkermord berufen, auf die Tatsache, daß die Euthanasie im Rahmen eines Holocaust-Programmes entwickelt und fortgeführt wurde, sondern es geht darum, daß die Justiz ihre Verantwortung über Jahrzehnte hinweg immer wieder von sich gewiesen hat und gleichzeitig dieser Dr. Gross, den die Justiz geschützt hat, im Auftrag dieser Justiz für diese Justiz jahrzehntelang als Gutachter tätig war.

Wenn Sie das "NEWS" vom heutigen Tag lesen, dann finden Sie darin eine erschreckende Geschichte, wonach der Herr Dr. Gross jemandem, den er damals gequält hat, ...

Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Herr Abgeordneter, den Schlußsatz bitte!

Abgeordneter Karl Öllinger (fortsetzend): ... vor Gericht gegenübergetreten ist und in einer "Seitenbemerkung" gefragt hat: Leben da noch andere?

Herr Justizminister! Im Interesse der Betroffenen, im Interesse des Rechtes in diesem Land fordere ich Sie auf, erstens die Angelegenheit Dr. Gross ernsthaft zu prüfen, medizinische und historische Gutachten einzuholen und zweitens dem Recht der Betroffenen und der Hinterbliebenen zum Durchbruch zu verhelfen sowie auch die Rolle der Justiz in dieser Angelegenheit zu klären. (Beifall bei den Grünen und beim Liberalen Forum.)

14.35

Präsident MMag. Dr. Willi Brauneder: Zu Wort gemeldet ist der Herr Justizminister. – Bitte, Herr Justizminister.

14.35

Bundesminister für Justiz Dr. Nikolaus Michalek: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In wenigen Sätzen werde ich jetzt nicht auf mir bisher in der Fragestellung nicht nähergebrachte, weitreichende rechtliche Überlegungen, die darlegen, welche Rechtsvorschriften auf die damalige Zeit anzuwenden sind, eingehen können.

Nach den mir vorliegenden Unterlagen sind in Österreich sehr wohl für den in Beobachtung stehenden Zeitraum die §§ 211 und 212 Reichsstrafgesetzbuch in vorläufiger Geltung ge


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