Nationalrat, XXIII.GPStenographisches Protokoll55. Sitzung, 9. April 2008 / Seite 90

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Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments „im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche“ tätig zu werden, auch wenn die Verträge die dafür erforderlichen Befugnisse nicht vorsehen. Auf dieser Grundlage kann sich die Union so gut wie jede Befugnis verschaffen, ohne daß die Mitgliedstaa­ten dem zustimmen müssen. Letztere können lediglich ihre (kläglichen) Einwendungen aus dem Subsidiaritätsprinzip zur Geltung bringen (Absatz 2). Diese Kompetenz-Kom­petenz geht deutlich über die bisherige Generalklausel des Art. 308 im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) hinaus, welche auf die Verwirkli­chung des Gemeinsamen Marktes beschränkt war. Lediglich Harmonisierungsverbote dürfen durch die Vorschriften nicht überspielt werden (Absatz 3) und die Verwirklichung von Zielen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik darf nicht auf diesen Arti­kel gestützt werden (Absatz 4).

4. Bundesstaatliche Zuständigkeit

Obwohl der Reformvertrag nicht mehr wie der gescheiterte Vertrag über eine Verfas­sung für Europa von „Verfassung“ spricht, um nicht deutlich werden zu lassen, dass mit dem Integrationsschritt des Reformvertrages ein Staat verfasst wird, macht der Re­formvertrag doch den Schritt vom Staatenverbund zum Bundesstaat, zum europäi­schen Unionsstaat. Das erweist (abgesehen von den staatsmäßigen weiten Aufgaben und Befugnissen der Union) die neue Zuständigkeitsordnung der Artikel 2 bis 6 VAU.

5. Vorrang der Unionsrechts

Zum Reformvertrag gehören die Erklärungen der Regierungskonferenz, die Bestandteil des Reformvertrages werden und die Verbindlichkeit dieses Vertrages entfalten. Diese Erklärungen sind (je nach ihrem Inhalt) authentische Klärungen der Rechtslage der Europäischen Union. Die 27. Erklärung befasst sich mit dem Vorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten. Sie lautet:

„Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingun­gen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“

6. Verlust der „immerwährenden Neutralität“

Der Reformvertrag entwickelt die Sicherheits- und Verteidigungsunion deutlich weiter. Zum einen schafft der Reformvertrag, wie unter Punkt 4 dargelegt, einen Bundesstaat. Dieser Bundesstaat beendet die immerwährende Neutralität Österreichs.

Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass es sich um eine Änderung der verfas­sungsrechtlichen Grundordnung handelt.

Vor dem Hintergrund des Art. 44 Abs. 3 B-VG, wonach jede Gesamtänderung der Bun­desverfassung einer Volksabstimmung bedarf, ist die Bundesregierung daher verpflich­tet, dem Bundespräsidenten die Anordnung einer Volksabstimmung vorzuschlagen (vgl. Öhlinger, RZ 58 zu Art. 50 B-VG in Korinek/Holoubek, Kommentar). Hinsichtlich des lange Zeit in der Lehre schwelenden Streits, ob eine Gesamtänderung in Form eines Staatsvertrages zulässig ist und, sofern diese Frage bejaht wird, ob eine solche beabsichtigte Gesamtänderung einer Volksabstimmung zugänglich sei, wurde durch den neuen, am 1.1.2008 in Kraft getretenen Art. 50 Abs. 4 B-VG eine Klarstellung im Sinne Öhlingers vorgenommen.

 


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