8859/AB XXIV. GP

Eingelangt am 02.09.2011
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BM für Gesundheit

Anfragebeantwortung

 

 

 

Frau

Präsidentin des Nationalrates

Mag.a Barbara Prammer

Parlament

1017 Wien

Alois Stöger

Bundesminister

 

 

 

GZ: BMG-11001/0250-I/A/15/2011

Wien, am 1. September 2011

 

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin!

 

Ich beantworte die an mich gerichtete schriftliche parlamentarische

Anfrage Nr. 9186/J des Abgeordneten Grünewald, Freundinnen und Freunde nach den mir vorliegenden Informationen wie folgt:

 

Fragen 1 und 2:

Zunächst möchte ich betonen, dass MCS- und CFS-Patientinnen und Patienten nach der WHO Gesundheitsdefinition[1] kranke Menschen und keine „Hypochonder“ sind.

 

Für beide Erkrankungen (MCS und CFS) sind jedoch dieselben Aussagen zu treffen, nämlich dass die klinischen Befunde und Forschergruppen im Bereich „Medical Unexplained Symptoms“ keine Schlüsse zulassen, dass es sich dabei um jeweils eigenständige Erkrankungen handelt.

Dazu ist Folgendes zu erläutern:

In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde den mit Umweltbelastungen durch diverse Schadstoffe einhergehenden Auswirkungen auf die Gesundheit zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. In diesem Zeitraum wurden zahlreiche Studien zu epidemiologischen und toxikologischen Aspekten der umweltmedizinischen Problematik durchgeführt. Parallel dazu entwickelte sich auf individualmedizinischer Ebene ein breites umweltmedizinisches Untersuchungsangebot und umweltbezogene Gesundheitsstörungen rückten verstärkt in den Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Damit einhergehend wurde zunehmend über Patient/inn/en berichtet, die bei sich selbst eine Chemikalienunverträglichkeit vermuteten oder von einzelnen Ärzt/inn/en attestiert bekamen.

 

Seinen Ausgang nahm dieses Phänomen in den USA, wo es als „Multiple Chemical Sensitivity = MCS“ bezeichnet wurde. Die betroffenen Personen wiesen eine Vielzahl von unspezifischen Symptomen auf wie Müdigkeit, Krankheitsgefühl, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Haut- und Schleimhautreizungen etc. Gemeinsam war, dass die Patient/inn/en ihre Beschwerden vor allem mit der Einwirkung von subjektiv durch Geruch feststellbaren Substanzen wie Parfums, Wasch- und Putzmitteln, KFZ-Abgasen usw. assoziierten.

 

Von Beginn an gab es in der medizinischen Fachwelt eine Kontroverse über die tatsächlichen Ursachen. Von Umweltmediziner/inne/n wurde eine Reaktion des Organismus auf Chemikalien und Schadstoffe vermutet, andere deuteten dies als Ausdruck eines psychischen Geschehens (Somatisierung: seelische Konflikte und Belastungen äußern sich in Organerkrankungen). Zahlreiche Studien dazu sowie zur Epidemiologie wurden durchgeführt. Ausgangspunkt fast aller dieser Studien waren die subjektiven Empfindungen der Patient/inn/en, was zu einem erheblichen Bias führt und daher die Ergebnisse etwa über die Häufigkeit in der Bevölkerung nicht aussagefähig macht.

 

Bezogen auf die Mechanismen, die umwelt- bzw. schadstoffbedingten Erkrankungen üblicherweise zugrundeliegen, gelang es in der Regel nicht, bei den Betroffenen eine tatsächliche relevante Schadstoffbelastung nachzuweisen. Allergische Reaktionsmuster liegen nahe, es fehlen aber die für eine Allergie typischen immunologischen Parameter. Das Konzept einer besonderen Überempfindlichkeit auf spezielle Stoffe ist zwar subjektiv (etwa bei Geruchsstoffen) scheinbar plausibel, bei Anlegen moderner Forschungsinstrumente (kontrollierte, verblindete Studien) nicht bewiesen. Es verbleibt schlussendlich eine psychische Genese der Erkrankung, was jedoch von den Betroffenen vehement abgelehnt wird.

 

In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde MCS - bedingt durch die Aktivitäten von Selbsthilfegruppen - auch in Europa (vor allem in Deutschland) in der Öffentlichkeit thematisiert. Das deutsche Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Umweltbundesamt hat daher 1999 eine große Studie zu diesem Thema in Auftrag gegeben, welche 2005 abgeschlossen wurde (Untersuchungen zur Aufklärung der Ursachen des MCS-Syndroms bzw. der IEI unter

besonderer Berücksichtigung des Beitrages von Umweltchemikalien; Studie zum Verlauf und zur Prognose des MCS-Syndroms). Diese kommt zu folgenden Schlüssen:

 

Die Auswertung zeigt, dass sich aus den außerordentlich heterogenen Beschwerdenennungen der Patient/inn/en kein abgrenzbares Symptommuster erkennen lässt, welches für die Beschreibung des MCS-Phänomens als charakteristisch gelten könnte. Ein Zusammenhang zwischen den geschilderten Beschwerden und den angeschuldigten Auslösern konnte ebensowenig gefunden werden, wie eine erhöhte Schadstoffbelastung. Die Studie lieferte auch keinen Hinweis auf eine besondere genetische Prädisposition bei den Patient/inn/en. Auch eine Störung des olfaktorischen Systems bestand nicht. Wohl aber leiden derartige Patient/inn/en signifikant häufiger unter psychischen Störungen, die den umweltmedizinischen Beschwerden oft sehr lang vorausgehen. Bei den MCS-Patient/inn/en zeigen sich vergleichsweise starke Somatisierungs- und Umweltattribuierungstendenzen.

 

Bei den im Rahmen der Studie durchgeführten Untersuchungen wiesen rund 84 % der MCS-Patienten eine psychische Störung auf, wobei in rund 82 % diese Störung lange (im Mittel über 17 Jahre) vor dem Auftreten von umweltmedizinisch begründeten Beschwerden bestand.

 

Somit ist festzuhalten, dass Patient/inn/en, die angeben, an einer Unverträglichkeit gegenüber Chemikalien oder Umweltschadstoffen zu leiden - hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang: ohne dass tatsächlich eine entsprechende Exposition als Ursache der Beschwerden nachgewiesen werden kann - auf jeden Fall einer psychologischen Begutachtung und Behandlung bedürfen. Ansätze, die lediglich auf der Vermeidung von Chemikalieneinwirkungen beruhen, sind wirkungslos, da sie einerseits im praktischen Leben nicht durchführbar sind (es gibt keine von chemischen Stoffen freie Umwelt) und andererseits die tatsächliche Ursache (die in der Vorstellung des Betroffenen liegt) nicht ausschalten und damit nur eine allenfalls vorübergehende Minderung der Symptomatik bringen.

 

Das Bundesministerium für Gesundheit hat die Initiative zur Entwicklung von Gesundheitszielen für Österreich ergriffen, auf den Beschluss des Ministerrates 109/45 vom 20. Juli 2011 darf hingewiesen werden. Um das übergeordnete Ziel - die Gesundheit der Bevölkerung - zu erreichen, müssen die Gesundheitsziele unter Einbezug aller relevanten Akteurinnen und Akteure des Gesundheitsbereichs, aber auch unter Beteiligung der anderen Sektoren entwickelt werden.

 

Eines der zu berücksichtigenden Themenfelder heißt Gesunde Lebensbedingungen/Gesunde Verhältnisse (z.B. Gesundheit in allen Politikfeldern; gesunde Lebenswelten wie Schule, Arbeitsplatz, Gemeinde, Umwelt).

 

Die konkrete Erarbeitung der Gesundheitsziele erfolgt in einem Plenum aus Vertreterinnen und Vertretern von ca. 30 Organisationen bzw. Gebietskörperschaften. Auch das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft hat hierzu Vertreter/innen entsandt.


Frage 3:

Nachdem es nach wie vor keine wissenschaftlich begründeten und allgemein akzeptierten diagnostischen Tests hinsichtlich physiologischer und biochemischer Parameter gibt, ist eine Diagnose für MCS und CFS nicht möglich.

 

Die Krankheitsbilder (die Symptomkomplexe), die eine äußerst individuelle Ausprägung zeigen, sind mit anderen Symptomkomplexen, die ebenfalls auf Umwelteinflüsse zurückgeführt werden, vergesellschaftet. Die „Anerkennung als eigenes Krankheitsbild“ würde eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, symptomatisch und nosologisch beschreibbarer Erscheinungen voraussetzen. Wie in der Anfrage ausgeführt, liegen diesbezügliche Erkenntnisse bisher nur in sehr unzureichendem Maße vor. Die Schaffung eines eigenen Erkrankungsbildes ist nicht indiziert und würde im Übrigen nicht im Einklang mit den wissenschaftlichen Richtlinien der Klassifikationssysteme stehen.

 

Als Berufskrankheiten kommen grundsätzlich Krankheiten in Betracht, wenn sie durch Ausübung der die gesetzliche Unfallversicherung begründenden Beschäftigung verursacht sind (§ 177 Abs. 1 ASVG).

Eine Krankheit, die nicht in der Liste der Berufskrankheiten (Anlage 1 zum ASVG) enthalten ist, gilt im Einzelfall als Berufskrankheit, wenn der Träger der Unfallversicherung auf Grund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse feststellt, dass diese Krankheit ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist. Diese Feststellung bedarf zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung des Bundesministers für Gesundheit (§ 177 Abs. 2 ASVG).

Für die Anerkennung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist daher die Erfüllung der Kausalitätskriterien notwendig. Das heißt, es muss ein Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung sowie mit der die Versicherung begründenden Tätigkeit gegeben sein.

Die Ursachen von MCS und CFS sind (bisher) unbekannt und werden im Umwelt- als auch im Arbeitsbereich vermutet, eine Abgrenzung ist nicht möglich. Es ist auch nicht bekannt, welche schädigenden Einwirkungen im Rahmen der die Versicherung begründenden Tätigkeit vorliegen (müssen), die nach Umfang und Intensität geeignet sind, einen Gesundheitsschaden im Sinne von MCS oder CFS zu bewirken.

 

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die vorgeschlagenen Syndrome bei derzeitigem Kenntnisstand die Bedingungen für eine Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten (Anlage 1 zum ASVG) nicht erfüllen. Wenn im Einzelfall jedoch auf Grund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse gezeigt wird, dass eine Erkrankung an MCS oder CFS ausschließlich oder überwiegend durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen bei einer vom Versicherten ausgeübten Beschäftigung entstanden ist, ist sie gemäß § 177 Abs. 2 ASVG als Berufskrankheit anzuerkennen.


Solange keine eindeutigen wissenschaftlich nachvollziehbaren Daten vorhanden sind, die - mit Einbeziehung erkennbarer Qualitätsstandards - eine ursächliche Verknüpfung zwischen der beruflichen Exposition gegenüber den am Arbeitsplatz vorkommenden Stoffen und der Entstehung belegen, ist eine Anerkennung als Berufskrankheit nicht zu erwarten.

 

Frage 4:

Sofern ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand im Sinn des § 120 Z 1 ASVG vorliegt, welcher eine „medizinische oder psychotherapeutische“ Versorgung erfordert, werden die Kosten für evidenzbasierte Diagnose- und Behandlungsmethoden seitens der Krankenversicherungsträger übernommen. Die Krankenbehandlung umfasst alle Maßnahmen im Sinne des § 133 Abs. 2 ASVG.

 

Frage 5:

MCS wird dem ICD-10-Code „T78.4: Allergie nicht näher bezeichnet“ zugeordnet. Unter diesem Code werden auch andere diverse allergische Reaktionen erfasst. Eine eigene Codierung für MCS gibt es nicht.

CFS wird unter dem ICD-10-Code „G93.3: Postvirales Ermüdungssyndrom“ verschlüsselt.

Aus dem niedergelassenen und spitalsambulanten Bereich stehen entsprechende Daten nicht zur Verfügung, da Diagnosen nicht in elektronisch auswertbarer Form übermittelt werden. Es stehen nur Daten von stationären Krankenhausaufenthalten sowie der Arbeitsunfähigkeit zur Verfügung; eine konkrete und seriöse Anzahl von betroffenen Menschen in Österreich kann daher nicht festgestellt werden.

 

Frage 6:

Es handelt sich insgesamt um seltene Krankheitsbilder mit kontrovers diskutierten Ursachen, weshalb sich vor allem Spezialabteilungen mit der Erforschung dieses Themengebietes beschäftigen (z. B. Arbeitsmedizinische Ambulanz der Universitätsklinik Wien).

 

Frage 7:

Eine Befassung des OSR in dieser Angelegenheit ist derzeit nicht geplant, da es momentan keine einschlägige Fragestellung gibt, die von diesem Gremium beantwortet werden könnte.

 

Frage 8:

Aufgrund des Mangels an vorliegenden gesicherten Erkenntnissen zur Ätiologie dieser Syndrome ist das MCS kein eigenes Krankheitsbild, dies gilt für alle Länder gleichermaßen. Zur Frage der Anerkennung verweise ich auf meine Ausführungen zu Frage 3.

 

Frage 9:

Betroffene können sich beispielsweise an die Universitätsklinik Wien/Abteilung Arbeitsmedizin wenden. Umweltbezogene Beratung finden Betroffene an den einschlägigen Universitätsinstituten in Graz, Innsbruck und Wien. Da für eine eigenständige Diagnosegruppe "MCS/CFS" die grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisse noch zu heterogen sind, ist eine Zuordnung zu bestimmten Abteilungen, Kliniken oder Behandlungsformen nicht ausreichend wissenschaftlich belegt. Zudem ist zu differenzieren, ob eine körperliche Grunderkrankung (z.B. Tumor) vorliegt oder nicht, da sich daraus entsprechend andere Behandlungsregimen ergeben. Aus der Heterogenität der Befundlage und dadurch, dass MCS/CFS kein einheitliches Erkrankungsbild darstellt, ergibt sich somit, dass die unterschiedlichsten Disziplinen Anlaufstellen für diese Patient/inn/engruppe darstellen.

 

Frage 10:

Ärztliche Gutachtertätigkeit ist im Ärztegesetz 1998 und in der Ärzteausbildungsordnung definiert und ist im Fortbildungsspektrum der Österreichischen Ärztekammer enthalten. Ärztliche amtliche Sachverständige werden von Gerichten bzw. Behörden ernannt und beeidet.

 

Frage 11:

Umweltmedizinische Fragestellungen sind Bestandteil sowohl der universitären (z. B. Fach Umwelthygiene) als auch der postpromotionellen Ausbildung (z.B. ÖÄK-Diplom Umweltmedizin).

 

Frage 12:

Diese Aussage ist nach wie vor zutreffend.

 

Frage 13:

Entsprechende Informationen liegen meinem Ressort nicht vor.

 

 



[1][1] Definition von Gesundheit laut Weltgesundheitsorganisation (WHO): „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ („Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.”)