9.42

Bundesrätin Korinna Schumann (SPÖ, Wien): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Vizekanzler! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren zu Hause! Bevor ich mit meiner Rede be­ginne, darf ich unseres vor Kurzem verstorbenen Bundesrates Dr. Gerhard Leitner ge­denken. Mit seinem Ableben verlieren wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einen starken Mitstreiter, einen versierten Redner und einen Bundesrat, dem die Anlie­gen der Menschen ganz stark am Herzen lagen. Ihn zeichnete seine große Liebe zu seinem Bundesland Kärnten aus. Gerhard gehörte zu jenen besonderen Menschen, die einen ganz feinen Humor besitzen und die, so schwer das Schicksal ihnen auch mit­spielt, nie ihre positive Einstellung verlieren. Auf seiner Parte steht: Behaltet mich so in Erinnerung, wie ich in den schönsten Stunden mit euch beisammen war. – Lieber Ger­hard, wir versprechen dir, genau das werden wir tun. Danke, dass du Bundesrat unserer Fraktion warst! (Allgemeiner Beifall.)

Bevor ich jetzt zum Thema komme, darf ich noch unserem Präsidenten Robert Seeber herzlich Dank für seine Präsidentschaft in wirklich – heute sagt man es in Neudeutsch – herausfordernder Zeit sagen, und wir wünschen der neuen Präsidentin alles, alles Gute!

Lassen Sie mich jetzt in die Rede eingehen und mit der guten Nachricht beginnen: Die Erkrankungszahlen sinken beständig, es sterben kaum noch Menschen an dem heim­tückischen Virus, und endlich sind die Spitalkapazitäten wieder für die allgemeine Ge­sundheitsversorgung da. Aber, Herr Vizekanzler, die Situation in unserem Land ist alles andere als positiv (eine Tafel mit der Aufschrift „517.221 Menschen ohne Job“, „Existen­zen sichern – Arbeitslosengeld erhöhen!“ auf das Rednerpult stellend), und die Arbeitslo­senzahlen sind enorm hoch. 517 221 Menschen sind ohne Arbeit, und die Arbeitslosen­zahlen gehen nur ganz langsam zurück. Über 1,3 Millionen Menschen sind in Kurzarbeit. Das sind alarmierende Zahlen. Insofern mag das Virus schwächer werden, aber seine verheerende Wirkung auf das Wirtschaftsleben hat es voll entfaltet.

Vielen Menschen geht es schlecht, die Sorgen sind groß. Wenn man mit den Menschen telefoniert, wenn man mit ihnen redet, dann hört man: Ich fürchte mich, dass ich meinen Job verliere! Ich fürchte mich, dass ich die Miete nicht zahlen kann! Ich habe Sorgen, dass ich meinen Kredit nicht abzahlen kann! Ich habe Sorgen, dass ich im Herbst keine Lehrstelle finden werde! – Das sind die Sorgen der Menschen. Und die Sorgen und Be­fürchtungen im Hinblick auf die Zukunft der Kinder und die eigene Zukunft haben in dieser Krise tiefe Wunden bei den Menschen hinterlassen.

Ein wesentlicher Grund, dass die Sorgen der Österreicherinnen und Österreicher so groß sind, ist, dass diese Regierung in vielen Punkten nicht genügend Maßnahmen ge­setzt hat, um die massiven Folgen der Krise rechtzeitig abzufedern. Ankündigungen von großen Hilfspaketen in x Pressekonferenzen helfen nicht, wenn das Geld nicht ankommt. Das ist ein Fleckerlteppich von angekündigten Einzelmaßnahmen, aber kein großes In­vestitionsgesamtkonzept, um die Stimmung für einen Neustart zu schaffen und die Sor­gen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu lindern.

Vielleicht ist es Ihnen nicht bewusst, aber bei vielen Regelungen kennen sich die Öster­reicherinnen und Österreicher nicht mehr aus: Was darf ich jetzt? Zu Regeln, von denen man ausgegangen ist, dass man sie einhalten muss, weil man sonst gestraft wird, heißt es plötzlich: Na, na, das ist ganz anders, man hätte das schon immer tun können, das ist nur falsch interpretiert worden! – Auf Wienerisch täte man sagen: Des is a Häkel! Erst neulich hat mir wieder jemand gesagt: Jetzt haben sie wieder was gelockert, aber ehrlich, ich kenne mich nicht mehr aus, was gilt!

Die Verunsicherung der Menschen hilft auch beim Anspringen der Wirtschaft nicht. Jetzt braucht es Klarheit, Perspektive, und diese müssen Sie schaffen. Und setzen Sie die wichtigste Maßnahme: Erhöhen Sie das Arbeitslosengeld auf 70 Prozent statt den bishe­rigen 55 Prozent! (Beifall bei der SPÖ.) Es ist längst an der Zeit. Damit können Sie den Menschen helfen, damit können Sie Existenzen sichern und damit können Sie auch der Wirtschaft helfen, weil jeder Euro, der den Arbeitslosen gegeben wird, wieder in den Wirtschaftskreislauf fließt. Ich weiß sehr wohl, dass es viele bei den Grünen gibt, die lieber heute als morgen das Arbeitslosengeld erhöhen wollen, und ich verweise auf den Beschluss des Gemeinderates in Wien – wo auch die Grünen mitgestimmt haben –: Das Arbeitslosengeld muss erhöht werden!

Oder denken wir an die Heldinnen und Helden der Krise; der Herr Präsident hat es ja wieder deutlich gesagt und seinen Dank ausgesprochen. Aber ganz ehrlich, der Dank allein wird nicht reichen. Es braucht jetzt die finanzielle Anerkennung, und es wäre auch längst an der Zeit, die Forderung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes umzu­setzen und den Coronatausender für die Heldinnen und Helden, die sich der Infektion ausgesetzt haben, auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der SPÖ.)

Wir brauchen die höchste Investition in der Geschichte der Zweiten Republik. Das Ziel muss Vollbeschäftigung sein. Deshalb heißt es jetzt, die Möglichkeiten auf allen Ebenen zu schaffen, um Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Wichtiger Partner sind dabei die Gemeinden. Ihre finanziellen Ausfälle in der Krise müssen abgedeckt werden, bevor man mit Investitionen beginnt. Das Gemeindepaket, das die Regierung präsentiert hat, ist ohne Zweifel gut gemeint, kann so stehen bleiben, aber den Gemeinden in einer schwie­rigen Finanzlage hilft es nicht. Die Übernahme einer 50-prozentigen Eigenfinanzierung können sie sich nicht leisten und so können sie nicht die wichtigen Investitionen tätigen. Hier lässt die Regierung die Gemeinden zurück. Es muss zuerst ein Fallschirm für ihre Zahlungen aufgespannt werden, und dann kann erst der Investitionsturbo gezündet wer­den. (Beifall bei der SPÖ und bei BundesrätInnen der FPÖ.)

Positiv ist, dass die Kurzarbeit jetzt in die zweite Phase geht, verlängert, noch verbessert und wieder von den Sozialpartnern gut ausverhandelt wurde. Aber der Bereich, der ganz, ganz große Sorgen macht, ist jener der Jugendarbeitslosigkeit. Rund 85 000 arbeitslose junge Menschen laufen Gefahr, die Lost Generation zu werden, wenn jetzt nicht für sie die Chance besteht, Arbeit zu bekommen. Es zerbrechen fast 85 000 Zukunftspläne, Wünsche, Perspektiven und Ziele. Hier wäre Handeln der Arbeitsministerin dringend ge­fragt. Die letzte Woche angekündigte Maßnahme einer Förderung von 2 000 Euro nach dem Gießkannenprinzip ist ja sehr nett – es sind jetzt schon sehr viele Lehrstellen gefördert –, aber es braucht ein Gesamtkonzept und es braucht Qualität in der Lehre, denn es geht um die Zukunft der jungen Menschen und es geht darum, ob wir in Zukunft jene Facharbeiterinnen und -arbeiter haben werden, die diese Wirtschaft brauchen wird. (Beifall bei der SPÖ sowie der Bundesrätin Mühlwerth.)

Besonders schwierig ist die Situation für die Klein- und Mittelbetriebe. Wer versucht, sich auf der Homepage des Wirtschaftsministeriums durch den Formulardschungel zu schla­gen, um seine dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen zu bekommen, bleibt spätestens auf halbem Weg stecken. (Beifall bei der SPÖ und bei BundesrätInnen der FPÖ.)

Zu kompliziert, zu verworren, zu bürokratisch – so kann man die Maßnahmen beschrei­ben. Für unzählige Klein- und Mittelbetriebe ist es traurige Realität, dass sie die Beantra­gungen ohne Hilfe einer Steuerberatungskanzlei überhaupt nicht schaffen, und da hilft auch nicht der zynische Satz des Kanzlers: Na ja, man muss halt seinen Namen richtig schreiben. – Das kann es doch wohl nicht sein!

Das dringend benötigte Geld kommt nur schleppend oder in vielen Fällen in einer Höhe an, die nicht weiterhilft. An jedem Unternehmen hängen Arbeitsplätze. Für Unternehmen mit 25 ArbeitnehmerInnen hätte die ursprünglich vorgesehene Entschädigungszahlung aus dem Epidemiegesetz belassen werden sollen. Das wäre der richtige Weg gewesen, aber unser Antrag wurde von den Regierungsparteien abgelehnt. (Beifall bei der SPÖ und bei BundesrätInnen der FPÖ.)

Und: Helfen Sie den Familien! Es braucht jetzt im Sommer eine flächendeckende leistba­re Kinderbetreuung mit einem Lernangebot. Viele Eltern haben keinen Urlaub mehr, weil sie ihn verbrauchen mussten. Viele Eltern haben nicht das Geld, um sich teure Ferien­betreuung zuzukaufen. Sie brauchen jetzt Unterstützung, und die Kinder, die in der Co­ronazeit Lernschwächen aufgebaut haben, brauchen auch die Unterstützung, dass sie mit vollem Schwung wieder in das neue Schuljahr gehen. Wir wollen nicht, dass Kinder zurückgelassen werden. (Beifall bei der SPÖ und bei BundesrätInnen der FPÖ. – Bun­desrat Schennach: Jawohl!)

Betreffend den Familienhärtefonds gibt es sehr, sehr viele Anträge, aber die Auszahlung stockt. So funktioniert Unterstützung für die, die sie jetzt so dringend brauchen, eindeutig nicht. Auch nicht mit Almosenfotos! Einem Baby 100 Euro in die Hand zu drücken, das war wirklich keine gute Idee. (Bundesrat Schennach: Das ist peinlich, hoch peinlich!)

Herr Vizekanzler, die Bilanz ist leider nicht zufriedenstellend. Sie sind sicher mit dieser Regierung in einer schwierigen Situation angetreten, vieles ist auch gelungen, aber jetzt, in der nächsten Phase der Coronakrise, haben Sie sich die Probleme selbst geschaffen. Die Vorkommnisse rund um das Budget im Nationalrat waren beschämend, besonders für eine Wirtschaftspartei wie die ÖVP. (Bundesrat Steiner: Das ist schon lang keine Wirtschaftspartei mehr!)

Zuerst wurden dem Nationalrat veraltete verfassungswidrige Budgetzahlen vorgelegt, dann wurden kurz vor der Beschlussfassung aktuellere Zahlen vorgelegt, die wieder nicht gestimmt haben, und weil der Finanzminister sechs Nullen im Budget vergessen hat, musste der Budgetbeschluss verschoben werden. Es entsteht der Eindruck eines völlig überforderten Finanzministers Blümel, und das in einer der größten wirtschaftli­chen Krisen, die die Republik bisher erlebt hat. Das ist wirklich bestürzend. (Beifall bei der SPÖ.)

Auch wenn die Regierung in dieser Phase jetzt die Eigenverantwortung der Menschen entdeckt, die Eigenverantwortung des Einzelnen und der Einzelnen in der Verantwortung rund um die Coronakrise, oder die der Länder, muss man sagen, der Bundeskanzler hat zu den Vorkommnissen in Ischgl nicht ein einziges Wort verloren, aber das Wienbashing ist wieder voll angelaufen, Wienbashing auch mit der Hilfe des Innenministers, der Frau­enministerin – hier wird die Coronakrise ganz ungeniert als Wahlkampfbühne genützt. Der Höhepunkt der entbehrlichen Wortspenden war das Zitat des Innenministers: „Wir sind sozusagen die Flex, die Trennscheibe für die Gesundheitsbehörden, um die Infek­tionskette rasch zu durchbrechen.“ – Eine wahrlich entbehrliche Aussage.

Aber lassen Sie mich eines über die Wienerinnen und Wiener sagen: Wir Wienerinnen und Wiener, wir motschkern gern, wie man das so sagt, wir kritisieren gern, aber was wir Wienerinnen und Wiener nicht vertragen, das ist, wenn man uns schlechtredet und wenn man unsere Stadt schlechtredet – und schon gar nicht, um politisches Kleingeld zu ma­chen, und nicht in Krisenzeiten! (Beifall bei der SPÖ.)

Die Stadt Wien ist im Vergleich zu anderen Millionenstädten von der Stadtregierung ganz wunderbar durch diese Krise geführt worden, und darauf sind wir Wienerinnen und Wiener stolz. Und es sei auch aus wirtschaftlicher Sicht davor gewarnt, die Ostregion mit ihrer bedeutenden Wirtschaftsleistung für das Land, mit den vielen Arbeitsplätzen auch für die Pendlerinnen und Pendler mit derartig herabwürdigenden politischen Äuße­rungen zu schwächen. Als grünem Vizekanzler ist Ihnen das ja natürlich völlig klar.

Jetzt müssen die richtigen Schritte für das Land gesetzt werden: milliardenstarke Job­offensiven, Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen, Konjunkturpakete un­ter Berücksichtigung des Klimaschutzes. Menschen in Krisen absichern und gut durch sozialstaatliche Leistungen und ausgezeichnete Gesundheitsversorgung unterstützen, den Menschen ihr schweres Los nehmen, ihre Sorgen nehmen, damit es wieder auf­wärtsgeht: Dafür steht die Sozialdemokratie. (Beifall bei der SPÖ.)

9.54

Präsident Robert Seeber: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Monika Mühlwerth. Ich erteile ihr dieses. (Bundesrätin Schumann eilt noch einmal zurück, um ihre am Rednerpult vergessene Tafel zu holen. – Bundesrätin Mühlwerth – auf dem Weg zum Rednerpult –: Hättest du ruhig stehen lassen können! – Vizekanzler Kogler: Habt ihr schon fusioniert?)