22.36

Bundesrat Mag. Sascha Obrecht (SPÖ, Wien): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister! Ich muss gestehen, ich bin ein sehr begeisterter und auf­merksamer Leser Ihrer Berichte, einerseits beruflich, andererseits weil ich oft auch den Eindruck habe, dass Minister und Ministerinnen sich nicht ganz beobachtet fühlen, wenn sie nach Brüssel fahren. So kommt es mir auch bei diesem Bericht vor.

Aber warum? Das möchte ich elaborieren. Sie haben im Jahresbericht jetzt die Richtlinie über angemessene europäische Mindestlöhne drinnen. Es ist eine Maßnahme, die von der Europäischen Kommission vorangetrieben wird, bei der die Europäische Kommis­sion ja davon ausgeht, dass sie zehn bis 20 Millionen Arbeitnehmern unmittelbar zu Vorteilen gereichen wird. Zehn bis 20 Millionen Arbeitnehmer würden von dieser Richt­linie profitieren.

Sie haben im Jahresbericht des Vorjahres geschrieben, dass Sie dieser Maßnahme sehr kritisch gegenüberstehen würden. Dabei haben Sie sich auf EU-Primärrecht rausgere­det, auf potenzielle Widersprüchlichkeiten zum Verfassungsrecht in der Europäischen Union. Diese Widersprüche wurden von fachlicher Seite nicht aufgegriffen. Alle Ex­pertInnen und alle Arbeitsrechtlerinnen und -rechtler, die ich gelesen haben, können diese Widersprüchlichkeiten nicht feststellen.

Auch die anderen Mitgliedstaaten konnten sie nicht feststellen. Das Europäische Parla­ment hat daran auch nichts auszusetzen gehabt. Und dennoch, am 6. Dezember letzten Jahres fand der Rat der Europäischen Union statt, das ist das Gremium, in dem die Fachminister der einzelnen Mitgliedstaaten tagen; und auch der österreichische Arbeits­minister war dabei. Sie sind dort gewesen und haben sich als einer der wenigen Minister dort vor Ort bei der Einführung der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne Ihrer Stimme enthalten.

Das ist nicht nur insofern bemerkenswert, als es eine Maßnahme ist, die zehn bis 20 Mil­lionen Arbeitnehmern unmittelbar zugutekommen würde, es ist auch deswegen bemer­kenswert, als Sie jetzt im Jahresbericht 2022 schreiben, dass Sie diese Maßnahme be­grüßen. Deswegen verstehe ich nicht ganz genau, was für ein Spiel da gespielt wird. 2021 schreiben Sie, Sie sind dagegen, dann fahren Sie dorthin und enthalten sich und im Bericht 2022 sagen Sie, Sie sind dafür. Also schlüssig ist das für mich nicht. (Hei­terkeit des Bundesministers Kocher.)

Es gibt noch einen zweiten Punkt aus dem Bericht, den ich aufgreifen will, dabei geht es um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen von Plattformarbeitenden. Das klingt ex­trem technisch, aber machen wir es vielleicht sehr praktisch: Wenn Sie früher Hunger gehabt haben und Sie wollten eine Pizza essen, haben Sie bei der Pizzeria angerufen, und ein Mitarbeiter der Pizzeria hat Ihnen die Pizza gebracht. Heute macht man das anders: Da geht man auf eine Website, Mjam, Lieferando, sucht sich etwas aus, das wird an das Restaurant weitergeleitet, und dann schicken Mjam oder Lieferando Fahr­radboten zu Ihnen. Das Prinzip ist relativ ähnlich.

Jetzt wird jeder davon ausgehen, dieser Bote wird doch ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin sein. Nein, es gibt zwei Studien, die die Europäische Kommission in diesem Zusammenhang in die Wege geleitet hat. Ich hoffe, Sie haben sie gelesen, denn bei den Erläuterungen zu dem Vorschlag der Kommission werden sie nämlich erwähnt, eine von Hiesel und eine von De Groen und weiteren WissenschaftlerInnen. Da wird ausgeführt, dass über 90 Prozent aller Plattformen behaupten, die Mitarbeiter ihrer Platt­form seien Selbstständige. Auf der anderen Seite sind die Arbeitnehmerinnen und Ar­beitnehmer gefragt worden. Mehr als die Hälfte der Leute, die dort beschäftigt sind, gehen davon aus, dass sie selbst ArbeitnehmerInnen sind. Das legt einen Schluss nahe: Da ist sehr viel Scheinselbstständigkeit dabei. Da wird sehr vielen Menschen der Schutz des Arbeitsrechts entzogen.

Deswegen hat die Europäische Kommission eben einen langen Prozess aufgesetzt. Zwei Konsultationsschritte gab es dafür, europäische Sozialpartner wurden eingebun­den, Expertinnen und Experten. Am Schluss ist herausgekommen, das ist der Richtli­nienvorschlag, den wollen wir jetzt in der gesamten Europäischen Union haben.

Wenn man das prüfen will, liegen zwei wichtige Fragen auf der Hand. Die eine Frage ist: Will man Scheinselbstständigen den Schutz des Arbeitsrechts gewähren, weil sie eigent­lich Arbeitnehmer sind? Wenn man das mit Ja beantworten will, findet man diesen Richtlinienvorschlag gut.

Zweiter Punkt: Im Einsatz mit Plattformen werden Algorithmen angewendet. Diese sind für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer undurchschaubar; da geht es um Trans­parenz beim Einsatz dieser Algorithmen, weil sie sie betreffen. Der Arbeitnehmer trifft nur oftmals nicht mehr die Entscheidung, sondern eine Rechenmaschine, und da sollen Arbeitnehmer Transparenz bekommen. Wenn man das will: wieder ein Ja zur Richtlinie. Viel mehr steht da nicht drinnen. Es sind 24 Artikel.

Dieser Vorschlag ist vom 9. Dezember letzten Jahres; wir haben jetzt den 9. März dieses Jahres. Das waren drei Monate. Die Stellungnahme des Arbeitsministeriums ist, man müsse diesen Richtlinienvorschlag nach wie vor prüfen. (Bundesminister Kocher: Vom Jänner! Vom Jänner!) Ich will Ihnen eines dazu sagen, wenn Sie diesen Vorschlag prü­fen: Ich glaube, langsam wird es Zeit, sich festzulegen. Ich will nämlich wirklich nicht, dass Sie wieder zum Rat der Europäischen Union fahren und dort wieder sagen, Sie müssen sich enthalten, weil irgendwelche rechtlichen Schwierigkeiten auftreten, die es in Wahrheit nicht gibt, und Österreich wieder falsch positionieren. (Bundesminister Ko­cher schüttelt den Kopf.)

Herr Minister, Sie sind aufgefordert – Sie haben eine ausgezeichnete Sektion für Arbeits­recht und ArbeitnehmerInnenschutz –: Lassen Sie die Leute dort ordentlich arbeiten, dann kommen Sie auch zu dem Schluss, dass diese Richtlinie absolut unterstützenswert ist und dass das die Position Österreichs sein muss. (Beifall bei der SPÖ.)

22.41

Vizepräsident Günther Novak: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Andreas Lackner. Ich erteile ihm das Wort.