2067/AB XX.GP

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Helmut Kukacka und Kollegen haben an

mich eine schriftliche Anfrage, betreffend Konsequenzen aus Vorkommnissen in den

österreichischen Justizstrafanstalten, gerichtet und folgende Fragen gestellt:

" 1. Wurde auch nach der Ermordung eines 13-jährigen Buben durch Karl Otto

Haas im Rahmen eines therapeutischen Freiganges an dem Instrumentarium

des therapeutischen Freiganges festgehalten?

2. Wenn ja, welche Sicherheitsmaßnahmen wurden ergriffen, damit das Ri-

siko eines Rückfalls während des Freiganges minimiert werden kann?

3. Welche Sicherheitsmaßnahmen wurden nach der Ermordung der Therapeutin

Veronika Kreuziger durch den Häftling Franz Stockreiter für die Therapeuten

und Psychologen in den österreichischen Justizanstalten ergriffen?

4. Wurden Änderungen in den Therapiemaßnahmen vorgenommen? Welche?

5. Wenn nein, warum nicht?

6. Welche Sicherheitsmaßnahmen wurden nach den Geiselnahmen in der Justiz-

anstalt Graz-Karlau vom 14.11.1996 für die Hebung des Sicherheitsstandards

in den österreichischen Justizanstalten ergriffen?

7. War Fehlverhalten der Justizwachebeamten für die Geiselnahme verantwort-

lich?

8. Wenn ja, welche dienstrechtlichen Schritte wurden ergriffen?

9. Wie war es möglich, daß Tibor Foco während eines Aufenthaltes in der Straf-

vollzugsanstalt Stein seine Flucht mit einem Handy minutiös planen konnte?

10. Welche sicherheitstechnischen und dienstrechtlichen Konsequenzen ergaben

sich aus Tibor Focos Flucht für die Strafvollzugsanstalt Stein?

11 . Welche sicherheitstechnischen und dienstrechtlichen Konsequenzen ergaben

sich aus der Flucht des Terroristen Chaovali aus der Strafvollzugsanstalt Gar-

sten für die Strafvollzugsanstalt Stein und alle anderen österreichischen Straf-

vollzugsanstalten?

12. Wurden - bedingt durch die hohe Anzahl an Entweichungen im Rahmen von

Gruppenausflügen der letzten Jahre - zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ge-

troffen?

13. Wenn ja, welche?

14. Wenn nein, warum nicht?

15. Wie viele Häftlinge sind 1996 bei Gruppenausflügen entwichen?

16. Welche Ursachen und Gründe waren dafür verantwortlich?

17. Welche legislativen Maßnahmen zur Verschärfung des Strafvollzugs sind als

Konsequenz dieser Vorkommnisse getroffen worden bzw. beabsichtigen Sie

noch zu treffen?"

Ich beantworte diese Fragen wie folgt:

Zu 1:

Die gesetzlichen Bestimmungen über die in der Anfrage als "therapeutischer Frei-

gang" apostrophierten Maßnahmen finden sich vor allem in den §§ 99, 99a, 147 und

166 Abs. 2 StVG (Unterbrechung der Freiheitsstrafe bzw. der Unterbringung, Aus-

gang). Sie sind seit dem in der Anfrage erwähnten Geschehen unverändert geblie-

ben, weil sich durch diesen Mordfall - so schrecklich er auch war - an den prinzipiel-

len Überlegungen, die zur Schaffung dieser Maßnahmen geführt hatten, im Grunde

nichts geändert hat, sondern dadurch lediglich Fragen der Sicherheit - auf die zu

Frage 2 eingegangen wird - verstärkt in das Blickfeld rückten.

Zu 2:

Die Kriminalprognostik wird international seit einiger Zeit einer intensiven Diskussion

unterzogen, an der sich auch Österreich und das Bundesministerium für Justiz be-

teiligen. Während bisher weitgehend der intuitive Erfahrungsschatz des einzelnen

Sachverständigen bei der Einzelentscheidung im Vordergrund stand, sollen nach

neuesten wissenschaftlichen Vorstellungen dynamische Diagnosen unter Zuhilfe-

nahme umfangreicher einheitlicher Diagnoseschlüssel helfen, das Risiko, das in

dem Umstand liegt, zukünftiges menschliches Verhalten vorauszusagen, nach Mög-

lichkeit einzugrenzen. Diese Methode verbindet durch einheitliche, gewichtete Pro-

gnosekriterien (Diagnoseschüssel) die Erfahrung des einzelnen Sachverständigen

mit jener von anderen Experten und Sachverständigen und ermöglicht daher eine

größere Transparenz und Nachvollziehbarkeit sowie eine breitere Fundierung der

Entscheidung. Mitarbeiter meines Ministeriums haben sich in jüngster Vergangen-

heit durch den Besuch einschlägiger Veranstaltungen im Ausland mit den Grundzü-

gen dieses Systems vertraut gemacht; erste Schritte zur Nutzbarmachung dessel-

ben für den österreichischen Strafvollzug wurden bereits in Gestalt einer Tagung

und der Einsetzung einer Arbeitsgruppe gesetzt. Das Bundesministerium für Justiz

wird im September dieses Jahres eine entsprechende Fortbildungsveranstaltung für

Strafvollzugsbedienstete und Sachverständige durchführen, bei der auch ausländi-

sche Experten, die mit diesem System bereits Erfahrungen gewonnen haben, zu

Wort kommen werden.

Dieser international neu eingeschlagene Weg, das bei Kriminalprognosen bestehen-

de Risiko einzugrenzen, verlangt die Verwertung des gesamten in einer Anstalt vor-

handenen Wissens über die Person des betreffenden Insassen. Er erfordert gleich-

zeitig einen laufenden Gedanken- und Informationsaustausch zwischen den einzel-

nen Bereichen, aber auch die Führung genauerer Aufzeichnungen über das Verhal-

ten des einzelnen Insassen. Das Bundesministerium für Justiz hat die organisatori-

schen Vorschriften zur Sicherstellung dieser Prognosegrundlagen bereits erlassen

(Punkte 1.3 und 2.3 der Vollzugsordnung für Justizanstalten, Erlaß des Bundesmini-

sters für Justiz vom 22.12.1995).

Darüber hinaus ist seither jedes Vorhaben einer Vollzugslockerung, das einen defi-

nienen Kreis besonders gefährlicher Insassen betrifft, dem Bundesministerium für

Justiz zur Genehmigung vorzulegen. Die Gewährung von Vollzugslockerungen bei

besonders gefährlichen Insassen unterliegt damit einer verstärkten Kontrolle.

Zu 3:

Die in der Anfrage angesprochene Ermordung einer Therapeutin hat aus dem Be-

mühen um bestmöglichen Schutz von Leben und Gesundheit der im Strafvollzug

Tätigen zu einer veränderten Schwerpunktsetzung geführt. Während bisher im the-

rapeutischen Bereich vor allem das Moment der Vertraulichkeit, die Bedachtnahme

auf eine möglichst unbeeinträchtigte Therapeuten-Klienten-Beziehung im Vorder-

grund stand, machte der erwähnte Anlaßfall in drastischer Weise deutlich, daß zum

Schutz der Angehörigen der Betreuungsdienste eine verstärkte Überwachung durch

Justizwachebeamte erforderlich ist. Diese erfolgt, je nach den örtlichen Gegebenhei-

ten, durch eine optische Überwachung (z.B. durch Posten) oder mit Hilfe von Perso-

nen-Notrufgeräten. Bei baulichen Änderungen wird nun auch vorgesehen, daß sich

die Zimmer, in denen Therapiesitzungen stattfinden sollen, in der Nähe von Räumen

befinden, in denen sich regelmäßig Justizwachebedienstete aufhalten, die notfalls

rasch zur Hilfe kommen können.

Zu 4 und 5:

Soweit im Strafvollzug therapeutische Inten/entionen stattfinden, folgen sie nicht et-

wa einem für alle Anstalten und alle therapierten Insassen einheitlich gültigen The-

rapiekonzept, sondern es wird die im Moment für die betreffende Person jeweils ad-

äquate Methode ausgewählt. Daher läßt sich aus dem äußerst bedauerlichen Mord-

fall auch nicht die Notwendigkeit einer inhaltlichen Änderung von Therapiemaßnah-

men auf einer generellen Ebene (etwa in dem Sinn, daß einzelne Therapiemaßnah-

men ausgeschlossen oder andere favorisiert würden) ableiten. Allerdings wurden -

wie bereits zu Frage 3 ausgeführt - die Rahmenbedingungen in Richtung einer stär-

keren Betonung des Sicherheitsaspekts modifiziert.

Zu 6:

Allgemein ist zu sagen, daß der Sicherheit in den Justizanstalten in den letzten Jah-

ren noch größere Aufmerksamkeit als zuvor zugewandt wurde. Zur Problematik von

Geiselnahmen sei darauf hingewiesen, daß der österreichische Strafvollzug - nicht

zuletzt aufgrund seiner an sich schon in der Vergangenheit hohen Sicherheitsstan-

dards - über 20 Jahre lang von Geiselnahmen in den Justizanstalten verschont ge-

blieben ist. Im selben Zeitraum fanden in der Bundesrepublik Deutschland 41, in

den Niederlanden allein in den Jahren 1992 bis 1994 13 Geiselnahmen statt. Trotz-

dem ist wegen der erhöhten Aggressionsbereitschaft der Insassen auch in Öster-

reich mit einer schwierigeren Zukunft zu rechnen. lm Hinblick darauf war bereits vor

längerer Zeit für die Justizanstalten ein Seminar über die Verhinderung von und das

Verhalten bei Geiselnahmen geplant worden, das vom 19,. bis 22. November 1996

stattfand. Neben Einzelmaßnahmen zum Ausbau der Sicherheit in den einzelnen

Anstalten (dazu sogleich im folgenden) wird künftig in verstärktem Maß auch ein in-

ternationaler Erfahrungsaustausch vor allem mit den Vollzugsverwaltungen solcher

Staaten anzustreben sein, die aufgrund häufigerer Vorfälle dieser Art in der Vergan-

genheit weiterreichende Erkenntnisse zu diesem Problemfeld gewonnen haben.

Der Vorfall in der Justizanstalt Graz-Karlau hat aber auch Anlaß geboten, die Abläu-

fe beim Bezug von Zusatz-, Nahrungs- und Genußmitteln, insbesondere durch In-

sassen von Sicherheitsabteilungen, einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Auf

deren Grundlage erließ das Bundesministerium für Justiz entsprechende Richtlinien

vor allem für bauliche und organisatorische Verbesserungen (wie etwa die Installie-

rung eines Gitters zur Sicherung des Verkaufspersonals oder die Anwendung des

"Listensystems" anstelle des "Kantinensystems" bei in Sicherheitsabteilungen ange-

haltenen Insassen), an deren Umsetzung in den Anstalten derzeit gearbeitet wird.

Zu 7 und 8:

Die abschließende Beurteilung eines Fehlverhaltens von Justizwachebeamten bleibt

einem entsprechenden Disziplinarverfahren vorbehalten; ein disziplinarrechtliches

Erkenntnis liegt zur Zeit noch nicht vor. Aufgrund der bisherigen Erhebungen ist je-

doch davon auszugehen, daß zwei Beamte unter Mißachtung einer ausdrücklichen

schriftlichen Weisung des für die betreffende Abteilung zuständigen Zellenhauskom-

mandanten vom 22. Oktober 1 996 die drei späteren Geiselnehmer ohne zahlenmä-

ßig ausreichende Bewachung in den Raum führten, wo der Verkauf der Zusatz-,

Nahrungs- und Genußmittel erfolgt, und dadurch die Geiselnahme ermöglichten.

Nachdem zunächst die beiden Justizwachebeamten, die sich zum Schutz der be-

drohten Frauen entschlossen den Geiselnehmern entgegenstellt hatten und dabei

zum Teil schwer verletzt worden waren, über längere Zeit hinweg nicht vernommen

werden konnten, liegen nun die Ergebnisse ihrer Einvernahme vor. Die endgültige

Auswertung steht jedoch noch aus, sodaß eine Entscheidung über eine Diszipli-

naranzeige noch nicht getroffen wurde.

Zu 9 und 10:

Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich zu diesen Fragen auf meine Beant-

wortung der parlamentarischen Anfrage 1823/J-NR/1997 und darin im besonderen

auf die Antworten zu den Fragen 2, 3, 14, 15, 16, 18, 19 und 20.

Zu 11:

Die Flucht des Strafgefangenen Tawfik Chaovali wurde vor allem durch bauliche

Schwachstellen und die besonderen Verhältnisse aufgrund von Bauarbeiten in der

Anstalt begünstigt. Diese baulichen Schwachstellen wurden mittlerweile beseitigt.

Darüber hinaus ist für die Justizanstalt Garsten ein umfangreiches Baukonzept, das

auch wesentlich zur Erhöhung der Sicherheit beitragen wird, im Stadium der Reali-

sierung.

Im Zusammenhang mit dieser Flucht kam es zur Disziplinaranzeige gegen einen Ju-

stizwachebeamten, der zum Zeitpunkt der Flucht Postendienst versehen hatte. Sie

führte aus Gründen der Beweislage und wegen rechtlicher Erwägungen zur Schuld-

frage nicht zu einem Disziplinarverfahren, sondern zu einer Ermahnung im Sinn des

§ 109 Abs. 2 BDG 1979.

Zu 12 bis 16:

Das Bundesministerium für Justiz führt keine eigene Statistik über Entweichungen

bei Gruppenausgängen, weil es sich bei derartigen Vorfällen um ganz wenige Ein-

zelfälle im Jahr handelt. ln der Statistik wird nur allgemein zwischen Fluchten aus

der geschlossenen Anstalt, Entweichungen (das sind Fluchten von bewachten und

begleiteten Aufenthalten außerhalb der Anstalt, wie z.B. Ausführungen und Über-

stellungen, bewachten Außenarbeiten, aber auch Gruppenausgängen) und der

Nichtrückkehr von gewährten Vollzugslockerungen (Ausgängen und Unterbrechun-

gen, wobei als "Nichtrückkehrer" auch derjenige gilt, der qualifiziert verspätet wieder

zurückkehrt) unterschieden. Insgesamt verminderte sich die Anzahl der Fälle, in de-

nen ein Insasse aus dem Strafvollzug (im weiteren Sinn) flüchtete, von 323 im Jahr

1994 auf 260 im Jahr 1995. Dabei sank die Zahl der Fluchten aus dem geschlosse-

nen Anstaltsbereich von 52 auf 24 und die der Entweichungen von 21 8 auf 54, wäh-

rend die Fälle der Nichtrückkehr im obigen Sinn aufgrund der Vermehrung der Voll-

zugslockerungen nach der Strafvollzugs-Novelle 1993 von 53 auf 182 anstiegen. Er-

fahrungsgemäß macht die Zahl der Entweichungen bei Gruppenausgängen nur ei-

nen verschwindenden Teil der Entweichungen insgesamt aus, weil die meisten Ent-

weichungen bei nicht zu umgehenden Ausführungen (z.B. ins Krankenhaus) stattfin-

den. Die Ursache für diese Relation liegt darin, daß begleitete Gruppenausgänge

nur Insassen eingeräumt werden, von denen mit hoher Sicherheit erwartet werden

kann, daß sie diese Vollzugslockerung nicht mißbrauchen, während eine Ausfüh-

rung ins Krankenhaus bei entsprechender Notwendigkeit auch mit gefährlichen In-

sassen durchgeführt werden muß.

Die Zahlen für das Jahr 1996 liegen derzeit noch nicht vor.

Zu 17:

Im Interesse der Sicherheit des Strafvollzugs wurden durch die Strafvollzugsgesetz-

novelle 1996, BGBl.Nr.763, die Befugnisse der Strafvollzugsbediensteten erweitert.

So wurde eine Rechtsgrundlage zur Personendurchsuchung (§ 101 Abs. 4 und 5

StVG), Identitätsfeststellung und Festnahme (Art. VII EGStVG) von anstaltsfremden

Personen geschaffen. Der neu eingeführte § 105a StVG normiert das Recht auf

Wegweisung Unbeteiligter, die eine (strafvollzugs-)behördliche Tätigkeit behindern,

und es wurden auch die Befugnisse, unmittelbar Zwang gegenüber Dritten oder

Strafgefangenen auszuüben, auf den Fall der Aufrechterhaltung der Sicherheit (und

Ordnung) des Strafvollzugs ausgedehnt (§ 104 Z 5 StVG).

Um flüchtiger Gefangener schneller habhaft zu werden, sieht § 106 StVG Erleichte-

rungen bei der Nacheile vor, wie etwa das Recht, Grundstücke und Räume zu be-

treten bzw. zu durchsuchen.

Zur Wahrung der Sicherheit im Strafvollzug ist nunmehr gemäß § 105 Abs. 2 StVG

der Postendienst in Anstalten, in denen dies im Hinblick auf die große Zahl und die

besondere Gefährlichkeit der dort angehaltenen Strafgefangenen erforderlich er-

scheint, auch berechtigt, Langfeuerwaffen als Dienstwaffen zu tragen und nach

Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen auch ohne Anordnung des Anstaltsleiters

zu gebrauchen.

Schließlich wurde mit der Strafvollzugsgesetznovelle 1996 auch eine gesetzliche

Grundlage für eine Innenrevision im Strafvollzug geschaffen. Ein Ziel der Innenrevi-

sion wird es auch sein, die Sicherheitsstandards zu überprüfen.

Die Erfahrungen mit der seit 1.1.1997 geltenden Strafvollzugsgesetznovelle 1996

werden zeigen, ob es über die vorstehenden Gesetzesänderungen hinaus noch zu-

sätzlicher legislativer Schritte als Grundlage für weitere faktische Maßnahmen zur

möglichst lückenlosen Gewährleistung der Sicherheit in den Justizanstalten bedarf.