2627/AB XX.GP
zur Zahl 2764/J-NR/1997
Die Abgeordneten zum Nationalrat Edeltraud Gatterer und Kollegen haben an mich
eine schriftliche Anfrage betreffend Weglegung von Kindern, gerichtet und folgende
Fragen gestellt:
„1. Wie viele Kinder wurden in den letzten 5 Jahren weggelegt?
2. Bei wie vielen Kindern kam es durch die Weglegung zur Todesfolge?
3. Welche strafrechtlichen Konsequenzen entstanden dadurch für die Eltern?
4. Wie beurteilen Sie aus rechtlicher Sicht die Schaffung einer Art „Kinderplatz“ in
den öffentlichen Krankenhäusern, wo anonym Kinder abgegeben werden kön-
nen, die dann zur Adoption freigegeben werden, ohne daß die Mütter von der
Justiz belangt werden?“
Zu 1 bis 3:
Vorerst sei darauf hingewiesen, daß die als Grundlage für die Beantwortung dieser
Fragen eingeholten Berichte der staatsanwaltschaftlichen Behörden keinen An-
spruch auf Vollständigkeit erheben können, weil Fälle von Kindesweglegung - für
deren strafrechtliche Qualifikation vor allem die Tatbestände des Verlassens eines
Unmündigen nach § 197 StGB und der Aussetzung nach § 82 StGB in Betracht
kommen - statistisch nicht erfaßt werden (dies mit Ausnahme der Fälle im Bereich
der Staatsanwaltschaft Wien).
Nach diesen Berichten waren im Bereich der Oberstaatsanwaltschaften Graz, Linz
und Innsbruck in den letzten fünf Jahren keine Anzeigen wegen Kindesweglegung
zu bearbeiten. Eine bei der Staatsanwaltschaft Salzburg eingelangte Anzeige wurde
an die Staatsanwaltschaft Wien abgetreten. Von der Oberstaatsanwaltschaft Wien
wurden folgende Strafsachen berichtet:
Staatsanwaltschaft Korneuburg:
Zwei Fälle von Kindesweglegung. In einem Fall wurde das Kind tot aufgefunden;
das Verfahren wurde gemäß § 412 StPO abgebrochen. Im zweiten Fall, in dem es
zu keiner Todesfolge kam, ist das gerichtliche Vorverfahren noch nicht abgeschlos-
sen.
Staatsanwaltschaft Krems an der Donau:
Ein Fall von Kindesweglegung. Das Kind war bei der Auffindung tot. Das Verfahren
wurde gemäß § 412 StPO abgebrochen.
Staatsanwaltschaft St. Pölten:
Ein Fall von Kindesweglegung. Das Kind hat überlebt. Das Strafverfahren wurde ge-
mäß § 412 StPO abgebrochen.
Staatsanwaltschaft Wien:
Es fielen 16 Anzeigen nach § 197 StGB an, jedoch keine Anzeigen nach § 82 StGB,
die Kinder betroffen hätten. Von den 16 Anzeigen waren 24 Kinder betroffen.
Todesfolgen traten nicht ein. In einem Fall kam es zu einem Schuldspruch, in drei
Fällen zu Freisprüchen. Ein Strafverfahren wurde gemäß § 412 StPO abgebrochen.
In den übrigen Fällen wurde von der Staatsanwaltschaft Wien kein Anlaß zur weite-
ren Verfolgung gefunden.
Zu 4:
Es gibt zwar in einem europäischen Land (Frankreich) das Rechtsinstitut der
„anonymen Geburt", das mit der in der Anfrage angesprochenen Idee eines „Kinder-
platzes“ entfernt vergleichbar scheint. Nach der in nahezu allen europäischen
Rechtsordnungen zum Ausdruck kommenden Auffassung widerspricht aber eine
„anonyme Abgabe von Kindern“ sowohl der Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten (MRK) als auch dem Übereinkommen über die Rechte
des Kindes (KRK).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im-
pliziert das durch Art. 8 MRK geschützte Privat- und Familienleben auch eine mit
den Rechten der Eltern korrespondierende elterliche Verantwortung. Der Staat hat
für die Wahrnehmung dieser Verantwortung ebenso vorzusorgen, wie er die Eingrif-
fe in die Befugnisse der Eltern auf das unabdingbar notwendige Maß beschränken
muß. Das bedeutet, daß auch das Recht des Kindes auf Familienleben durch
Art. 8 MRK geschützt ist. Art. 7 Abs. 1 KRK schreibt das Recht des Kindes, seine El-
tern zu kennen, darüber hinaus ausdrücklich fest.
Unter Bedachtnahme auf diese Rechte des Kindes verbietet sich der Versuch, eine -
auf welchen Umständen immer beruhende - Krisen- oder Konfliktsituation der Mutter
(der Eltern) durch eine Beeinträchtigung der Interessen des Kindes zu bewältigen.
Demgemäß faßt auch das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch die Obsorge der El-
tern für ihre Kinder nicht primär als Recht, sondern als Verpflichtung gegenüber den
Kindern auf. Meiner Auffassung nach wäre es nicht vertretbar, den Eltern die Mög-
lichkeit einzuräumen, sich ohne weiteres dieser ihrer Verpflichtung zu entledigen,
und kann daher die in der Anfrage angesprochene Schaffung eines „Kinderplatzes“
nicht gutgeheißen werden.
Für jene Fälle, in denen eine werdende Mutter (oder die Eltern) sich in schwierigen
Situationen befinden, sieht das geltende Recht zahlreiche Hilfs- und Unterstützungs-
möglichkeiten vor. Einrichtungen zur Beratung und Hilfe bestehen und funktionieren
gut. So ist es nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz 1989 vorrangige Aufgabe der öf-
fentlichen Jugendwohlfahrt, Beratung und Unterstützung zu leisten. Auch Beratung
bezüglich einer Adoption und deren Vermittlung ist Aufgabe der öffentlichen Jugend-
wohlfahrt.
Ich sehe in den bedauerlichen Fällen der „Kindesweglegung“ kein Defizit in der
Rechtsordnung oder in sozialen Institutionen, sondern ein Bedürfnis an verstärkter
Information über bestehende Beratungs- und Hilfseinrichtungen, durch die eine lei-
der noch immer vorhandene „Schwellenangst" vor der Inanspruchnahme dieser Ein-
richtungen weiter abgebaut werden könnte.
Es darf auch nicht übersehen werden, daß mit der Schaffung einer Möglichkeit zur
„anonymen Abgabe von Kindern“ auch die der Mutter oder den Eltern zur Last lie-
genden Probleme, die zu einer solchen Handlung Veranlassung gegeben haben,
keineswegs gelöst werden. In vielen Fällen könnte und würde diese vordergründig
einfache Lösung im nachhinein zu besonders schwerwiegenden Problemen führen.
Zumeist würde eine noch unter dem Eindruck des Geburtsvorgangs oder in einer
scheinbar ausweglosen Situation vorgenommene „Kindesweglegung“ von der Mut-
ter oder den Eltern später zutiefst bereut werden.