3888/AB XX.GP
zur Zahl 3919/J - NR/1998
Die Abgeordneten zum Nationalrat Dr. Helene Partik - Pablé und Dr. Harald Ofner ha -
ben an mich eine schriftliche Anfrage, betreffend Einschränkung der behördlichen
Anzeigepflicht, gerichtet und folgende Frage gestellt:
“Werden Sie im Bereich der an Kindern und Jugendlichen begangenen Strafta -
ten dafür eintreten, die Anzeigepflicht der Behörden wieder zu erweitern?
Wenn nein, warum sind Sie der Meinung, daß gerade bei Straftaten mit einer
erschreckend hohen Dunkelziffer und meist wehrlosen Opfern darauf verzich -
tet werden kann, behördlich bekanntgewordene Delikte auch den Strafverfol -
gungsbehörden mitzuteilen?”
Ich beantworte diese Frage wie folgt:
Mit dem Strafprozeßänderungsgesetz 1993, BGBl. Nr. 526, das dem Anliegen des
Opferschutzes besonderes Augenmerk widmete, wurde auch die Anzeigepflicht von
Behörden und öffentlichen Dienststellen präzisiert und eingeschränkt. Dabei ging es
nicht nur darum, den Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Intimsphäre von Be -
schuldigten und Zeugen dem grundlegenden Ziel der Strafprozeßordnung, der
Wahrheitsfindung,
gegenüberzustellen, sondern auch darum, andere Prinzipien un -
serer Rechtsordnung, insbesondere den das Kindschafts - und Jugendwohlfahrts -
recht beherrschenden Grundsatz des Wohles des Kindes, auch im Strafverfahren
und im Vorfeld eines solchen zu berücksichtigen.
In Abwägung der Interessen zwischen Opferschutz, effektiver Opferhilfe und legiti -
mer Strafverfolgung kam man zum Ergebnis, Behörden und öffentliche Dienststellen
dann von der Anzeigepflicht nach § 84 StPO auszunehmen, wenn die Anzeige eine
amtliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen
Vertrauensverhältnisses bedarf. Den Vertretern der Behörden und öffentlichen
Dienststellen wurde dabei jedoch eine gewissenhafte - berufsspezifische - Interes -
senabwägung auferlegt (vgl. den Bericht des Justizausschusses, 1157 BlgNR XVIII.
GP, 8). Mit dieser Regelung wurde auch übereinstimmenden Forderungen der mit
Angelegenheiten der Jugendwohlfahrt und des Opferschutzes befaßten öffentlichen
und privaten Einrichtungen entsprochen.
Die bisherigen Erfahrungen mit der Einschränkung der Anzeigepflicht nach § 84
StPO sind positiv zu bewerten; es haben sich dadurch keineswegs Nachteile für die
Strafverfolgung ergeben. In den Jahren 1995 und 1996 ist die Zahl der bekanntge -
wordenen Fälle sexuellen Kindesmißbrauchs um 25 %, der ermittelten Tatverdäch -
tigen um 23 % und der Verurteilten um 24 % angestiegen. Diese Entwicklung ist
nach Meinung von Fachleuten auf eine allgemein erhöhte Aufmerksamkeit und Sen -
sibilität, nicht zuletzt auch bei den mit der Betreuung Jugendlicher befaßten öffent -
lichen Stellen, zurückzuführen.
Gerade im Interesse des Opferschutzes sehe ich keinen Anlaß für eine Wiederein -
führung der unbedingten Anzeigepflicht. Die betroffenen Behörden und öffentlichen
Dienststellen kommen vielfach nur dann in Kenntnis der strafbaren Handlung, wenn
die Anzeigenden eine glaubwürdige Zusicherung der Vertraulichkeit ihrer Mitteilung
erwarten können. Deren Hauptinteresse ist zumeist nicht auf die Strafverfolgung ei -
ner Person, sondern auf eine effektive Hilfe für das betroffene Kind oder den betrof -
fenen Jugendlichen gerichtet.
Eine unbedingte Anzeigepflicht brächte insbesondere auch die Gefahr mit sich, daß
ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird, ohne daß für das betroffene Kind und des -
sen Betreuungspersonen genügend Zeit bleibt, sich darauf vorzubereiten. Aner -
kannte
Experten auf dem Gebiet der Kinder - und Jugendpsychiatrie verweisen dar -
auf, daß Interventionsfehler sich für das Kind bzw. den Jugendlichen verhängnisvoll
und für die beabsichtigte strafrechtliche Verfolgung des Täters behindernd auswir -
ken können. Umsicht und Besonnenheit bei der Aufdeckung werden für die thera -
peutische Aufarbeitung eines traumatischen Erlebnisses des Opfers als besonders
wichtig beschrieben (Max Friedrich, Tatort Kinderseele - sexueller Mißbrauch und
die Folgen [1998] 99 f.). Eine unbedingte Anzeigepflicht könnte außerdem die Ge -
fahr des Abschiebens der Verantwortung an die Strafverfolgungsbehörden - gerade
in heiklen Fällen und im ungünstigsten Augenblick - hervorrufen, wenn eine ausrei -
chende Verifizierung des Tatverdachts noch nicht möglich ist, und so kontraproduk -
tive Wirkungen entfalten.
Auch die Tätigkeit von speziellen, in letzter Zeit schrittweise eingerichteten “Kinder -
schutzgruppen” in Krankenanstalten, die in erster Linie die therapeutischen und prä -
ventiven Notwendigkeiten abschätzen, mit den Jugendwohlfahrtsbehörden zusam -
menarbeiten und die Kooperation der Eltern oder Sorgeberechtigten sicherzustellen
trachten, wäre ohne Einschränkung der Anzeigepflicht stark behindert. Die Ein -
schränkung der Anzeigepflicht hat demnach nicht nur zur weiteren Sensibilisierung
der betroffenen Berufsgruppen beigetragen, sondern auch eine beträchtliche Erwei -
terung der Möglichkeiten zur Beratung, Betreuung und Prävention und damit eine
Hinwendung zu effizienter Hilfestellung bewirkt. Im übrigen wird durch die Ein -
schränkung der Anzeigepflicht weder das Recht zur Anzeigeerstattung noch die - in
vielen Fällen parallel laufende und oft unerläßliche - Strafverfolgung ausgeschlos -
sen.
Eine Rückkehr zur Rechtslage vor der Neuregelung der Anzeigepflicht nach § 84
StPO im Jahr 1993 würde eine ausschließlich repressive Betrachtungsweise in den
Vordergrund stellen, die allein weder dem vorrangigen Anliegen des Opferschutzes
noch den vielfältigen psychologischen, familiären und sozialen Problemstellungen in
diesem Deliktsbereich gerecht würde.