4677/AB XX.GP
Die Abgeordneten Mag. Johann Ewald Stadler und Genossen haben am 7.Oktober 1998
an mich eine schriftliche Anfrage betreffend Benesch - Dekrete und AVNOJ - Bestimmungen
gerichtet, welche folgenden Wortlaut hat:
"1. Ist in Ihrem Ressort jemals eine politische, moralische und
vermögensrechtliche Wertung bestimmter "Benesch - Dekrete" und bestimmter
"AVNOJ - Beschlüsse" erfolgt?
- Wenn ja, wann und zu welchem Ergebnis ist Ihr Ressort gekommen?
- Wenn nein, warum nicht?
2. Der Rat der EU hat im Beisein österreichischer Vertreter die Folgerung der
Kommission, wonach der Schutz der Menschenrechte und der Minderheiten in den
Beitrittskandidatenländern den sog. Kopenhagener Kriterien entspricht,
gutgeheißen und die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit diesen Ländern
beschlossen. Warum hat Österreich diesbezüglich seine Zustimmung gegeben?
3. Bedeutet die diesbezügliche österreichische Zustimmung, daß bestimmte
"Benesch - Dekrete" und bestimmte "AVNOJ - Erlässe" mit den sog. Kopenhagener
Kriterien und den Grundsätzen der Europäischen Union vereinbar sind?
- Wenn ja, inwiefern?
4. Der Anfragebeantwortung 4519/AB ist zu entnehmen, daß gemäß Artikel 10
der tschechischen Verfassung die Bestimmungen der internationalen
Menschenrechtsübereinkünfte Vorrang vor den Bestimmungen des innerstaatlichen
Rechts
haben und unmittelbar gelten. Nach Artikel 8 der Slowenischen Verfassung
müssen Gesetze und andere Vorschriften mit den unmittelbaren völkerrechtlichen
Verträgen in Einklang stehen. Sind Sie der Auffassung, daß damit gewisse
"Benesch - Dekrete" und gewisse "AVNOJ - Beschlüsse" obsolet geworden sind und
durch diese Normen seinerzeit geschädigte Personen Anspruch auf Entschädigung
bzw. auf Klärung der Eigentumsfragen haben?
- Wenn nein, warum nicht?
5. Bundesminister Fasslabend hat jüngst die Auffassung vertreten, daß
die Benesch - Dekrete in einer rechtstaatlichen Ordnung nichts verloren haben
und deren Abschaffung gefordert (APA, 14.9.1998). Schließen Sie sich dieser
Auffassung und Forderung an? Wenn nein, warum nicht?
6. Werden Sie daher dafür eintreten, daß vor einem Beitritt der Tschechischen
Republik und Sloweniens zur Europäischen Union die völkerrechts - und
menschenrechtswidrigen Gesetze und Bestimmungen in diesen Ländern
aufgehoben werden?
- Wenn nein, warum nicht?
7. Trifft es zu, daß Österreich befürchtet, wenn es die Problematik der Benesch -
Dekrete und AVNOJ - Bestimmungen im Rat der EU zur Sprache bringt, es
Vorwürfen seitens der Bundesrepublik Deutschland ausgesetzt sein könnte?
- Wenn ja, aus welchen Gründen?
- Wenn nein, warum nicht?
8. Präsident Havel hat die Vertreibung der Sudeten deutschen nach dem Zweiten
Weltkrieg moralisch verurteilt. Aus dieser Verurteilung würden jedoch keine
Konsequenzen gezogen, weil dies den tschechoslowakisch - österreichischen
Vertrag aus dem Jahre 1974 verletzen würde (APA, 23.9.1998). Teilen Sie diese
Auffassung von Präsident Havel?
- Wenn ja, warum?
- Wenn nein, aus welchen Gründen nicht?"
Ich beantworte diese Anfrage wie folgt:
Zu den Fragen 1 und 4:
Sowohl die Benesch - Dekrete als auch die AVNOJ - Beschlüsse sind im Zusammenhang
mit den tragischen Ereignissen während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu
sehen. Die AVNOJ - Beschlüsse sind nicht Teil der heutigen Rechtsordnung Sloweniens.
Allerdings sind einzelne Gesetze der Republik Slowenien in ihren Rechtswirkungen - vor
allem im Bereich des Vermögensrechtes, nämlich der Denationalisierung
(Reprivatisierung) - indirekt auf diese Bestimmungen zurückzuführen. Die Benesch -
Dekrete wurden bisher nicht formell aus dem Rechtsbestand der Tschechischen Republik
eliminiert.
Ob die in der Tschechischen Republik und in Slowenien geltenden Rechtsvorschriften mit
den europäischen Rechtsstandards und den Grundsätzen der Europäischen Union im
Einklang stehen, kann nur auf rechtlichem Wege geklärt werden. Die abschließende
rechtliche Beurteilung würde im Falle der Beschreitung des Rechtsweges durch
betroffene Bürger im Einzelfall den unabhängigen Gerichten und in letzter Instanz dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bzw. dem Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg obliegen.
Zu den Fragen 2 und 3:
Aufgrund der Beitrittsanträge der Tschechischen Republik vom 17.1.1996 und der
Slowenischen Republik vom 10.6.1996 beschloß der Rat der EU die Einleitung des
Beitrittsverfahrens mit diesen Ländern. Dieses Beitrittsverfahren sah als ersten Schritt die
Beauftragung der Kommission durch den Rat vor, eine Stellungnahme über die einzelnen
Länder zu erstellen ("Avis"). Die Stellungnahme der Kommission zum Beitrittsantrag der
Tschechischen Republik und Sloweniens wurde dem Rat im Juli 1997 vorgelegt. Die
Gliederung der Stellungnahme berücksichtigt die Schlußfolgerungen des Europäischen
Rates in Kopenhagen und enthält somit auch eine Bewertung der Lage nach Maßgabe
der vom Europäischen Rat aufgestellten Kriterien (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Menschenrechte, Minderheitenschutz).
Die allgemeine Bewertung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Erfüllung der für
die Mitgliedschaft in der Europäischen Union erforderlichen politischen Kriterien lautet für
die Tschechische Republik und die Republik Slowenien gleichermaßen wie folgt:
Die Tschechische Republik (bzw. Slowenien) verfügt über die Merkmale einer Demokratie
mit stabilen Institutionen, die die rechtsstaatliche Ordnung, die Menschenrechte und die
Achtung von Minderheiten und ihren Schutz gewährleisten.
Aufgrund der insgesamt positiven Stellungnahme der Kommission beschloß der Rat der
EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Tschechischen Republik und der
Republik Slowenien. Die österreichische Haltung stand diesbezüglich im Einklang mit der
Beurteilung durch alle anderen Mitgliedsstaaten und die Europäische Kommission.
Zu Frage 5:
Die ständigen Bemühungen auch der österreichischen Bundesregierung haben zum
Beginn eines langsamen Umdenkprozesses in der Tschechischen Republik beigetragen
Es mehren sich die Stimmen innerhalb der Tschechischen Republik, welche die Benesch -
Dekrete in Frage stellen, so kürzlich eine Gruppe von tschechischen Intellektuellen. Diese
Entwicklung wird von Österreich
nachdrücklich begrüßt.
Zu den Fragen 6 und 7:
Die Bundesregierung wird auch weiterhin die durch die Benesch - Dekrete und die AVNOJ -
Beschlüsse entstandenen Entschädigungsinteressen österreichischer Staatsbürger
vertreten. Hinsichtlich der Möglichkeiten zur rechtlichen und völkerrechtlichen
Geltendmachung wird auf die Beantwortung der Fragen 1 und 4 verwiesen.
Österreich führt im Rahmen seiner Mitgliedschaft in der EU und anderen internationalen
Organisationen eine unabhängige und eigenständige, nicht von etwaigen Vorwürfen
bestimmte Außenpolitik. Hinsichtlich der Benesch - Dekrete und AVNOJ - Beschlüsse ist die
Bundesregierung der Auffassung, daß die Einbindung der Beitrittswerber, so auch der
Tschechischen Republik und Sloweniens, in die europäische Rechtsordnung der richtige
Weg ist, um offene Fragen in den Beziehungen mit diesen beiden Staaten zu behandeln.
Zu Frage 8:
Österreich tritt gegenüber der Tschechischen Republik für die Entschädigungsansprüche
österreichischer Staatsbürger, insbesondere auch der Heimatvertriebenen ein, soweit
diese nicht bereits durch den österreichisch - tschechoslowakischen Vermögensvertrag von
1974 entschädigt wurden. Aufgrund dieses Vertrages wurden enteignete österreichische
Staatsbürger bis zu einer Höhe von szt. 1 Mio TschKr (eine Mrd. öS) global entschädigt,
während Österreich im Gegenzug einen Interventionsverzicht für Ansprüche aus diesen
Enteignungen leistete. Nach österreichischer Rechtsauffassung umfaßt dieser Inter -
ventionsverzicht nur jene Gruppen, die aufgrund des Vertrages abschließend entschädigt
wurden, und somit weder Personen, die nach dem 27.April 1945 österreichische Staats -
bürger wurden, noch diejenigen, die nur bis in Höhe von einer Million TschKr entschädigt
wurden.