1897/J XX.GP

 

der Abgeordneten Dr. Graf, Haigermoser, Dr. Ofner und Kollegen

an den-Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten

betreffend Versäumnisse in der Sudetendeutschen Frage

Im Jänner 1918 verkündete der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seine 14

Punkte, die auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker als zwingenden Grundsatz

für die Lösung aller Gebietsfragen vorsahen. Die Tschechen beriefen sich im

Zusammenhang mit der Gründung eines eigenen Staates auf dieses Recht,

beanspruchten aber gleichzeitig als Staatsgebiet auch die Siedlungsbereiche von

fast 3,5 Millionen Altösterreichern deutscher Zunge - im Folgenden

zusammenfassend "Sudetendeutsche" genannt - von hunderttausenden Ungarn und

Polen etc., welche Gebiete sie militärisch besetzten, um im Hinblick auf die

bevorstehende Friedenskonferenz vollendete Tatsachen zu schaffen.

Als die Sudetendeutschen am 4. März 1919 in friedlichen Kundgebungen für ihr

Selbstbestimmungsrecht und gegen ihre zwangsweise Einverleibung in den neuen

tschechoslowakischen Staat demonstrierten, schoß "tschechische Soldateska die

Arbeiterschaft, die sich gegen die Zwangseinverleibung des deutsch-

österreichischen Sudetenlandes in die tschechoslowakische Republik wehrte",

zusammen (Salzburger Nachrichten am 22.1.1997). 54 Tote und hunderte

Verwundete wurden damals die ersten Blutzeugen des Ringens der

Sudetendeutschen um ihr Selbstbestimmungsrecht bzw. um ihren Verbleib bei

Österreich. Insgesamt verloren 117 Altösterreicher deutscher Zunge auf dem

Gebiete der damals im Entstehen begriffenen Tschechoslowakei im Zuge der

gewaltsamen Besetzung ihrer Heimat durch die Tschechen ihr Leben, Doch das

Weltgewissen blieb stumm und das Diktat von St. Germain sanktionierte das

Unrecht der Einverleibung all' dieser Gebiete in die Tschechoslowakei. Eine auf die

Entnationalisierung unter anderem der Sudetendeutschen gerichtete

Regierungspolitik Prags ließ die Spannungen in den folgenden 20 Jahren fast

unerträglich werden.

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Sudetengebiete, Südmähren etc. neuerlich der

tschechoslowakischen Republik einverleibt. Die Sudetendeutschen, die nachweislich

ohne Unterbrechung mehr als 700 Jahre in Böhmen, in Mähren, in Österreichisch-

Schlesien etc. gelebt hatten, wurden aufgrund "der berüchtigten Benesch-Dekrete,

die nicht nur die gewaltsame Vertreibung und den Raub am deutschen Nachbarn als

rechtens deklariert haben, sondern auch die Ermordung von 250.000 deutschen

Kindern, Frauen und Männern" (Salzburger Nachrichten am 22.1.1997), aus ihrer

Heimat gejagt. Ihr Eigentum, das nach heutigem Wert etwa 1.000 Milliarden Schilling

zählte, wurde konfisziert.

Trotz all, dem verzichteten die Sudetendeutschen bereits 1950 in der Charta der

Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung, jedoch nicht auf ihr Recht.

ln diesen Tagen wurden die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik

Deutschland und der Tschechischen Republik über die Sudetendeutsche Frage

abgeschlossen und die diesbezügliche "Deutsch-tschechische Erklärung" von den

Außenministern der beiden Staaten paraphiert, ohne daß jemals die

Sudetendeutschen bzw. deren Vertreter in die Verhandlungen miteinzbezogen

worden wären.

ln diesem Zusammenhang stellen die unterfertigten Abgeordneten an den

Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten folgende

Anfrage

1. Wurde die Republik Österreich eingeladen, an den Verhandlungen

teilzunehmen. um im Rahmen derselben die mehr als 160.000 in Österreich

lebenden Sudetendeutschen zu vertreten?

Wenn ja, wie wurde von Seiten Österreichs auf diese Einladung reagiert?

Wenn nein, was wurde unternommen, um zu erwirken, daß Österreich doch zu

den Verhandlungen eingeladen wird bzw. an ihnen teilnehmen kann?

2. Ist für die Zukunft geplant, mit der Tschechischen Republik in solche

Verhandlungen einzutreten, wenn ja, welche Schritte sind in dieser Richtung

wann konkret unternommen worden?

Welches Ziel wird Österreich in diesen Verhandlungen verfolgen?

Ist vorgesehen, Vertreter der Sudetendeutschen in diese Verhandlungen

einzubeziehen?

Wenn nein, warum nicht?

3. Welche Aktivitäten haben Sie in den vergangenen Jahren in der Richtung

gesetzt, die Aufhebung der nach wie vor geltenden - in jeder Hinsicht

rechtswidrigen, vor allem auch menschenrechtswidrigen - Benesch-Dekrete,

insbesondere der diesbezüglichen Dekrete Nr.12, 33 und 108, welche zur

Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen führten, gesetzt?

4. Welche Aktivitäten werden Sie in dieser Richtung konkret wann setzen?

5. Wie wird sich Österreich gegenüber den Bemühungen der Tschechischen

Republik um Aufnahme in die Europäische Union verhalten, solange die in

jeder Hinsicht rechtswidrigen, vor allem auch menschenrechtswidrigen,

Benesch-Dekrete in Gültigkeit stehen?

Wird sich Österreich in diesem Zusammenhang gegen die Beitrittsbemühungen

der tschechischen Republik wenden?

Wenn nein, warum nicht, obwohl es unerträglich erschiene, daß ein Staat, in

dem sich derart menschenverachtendes Rechtsgut in Gültigkeit befindet,

Mitglied der Europäischen Union wird?

6. Wie beurteilen Sie politisch und rechtlich den Verzicht eines Staates auf seinen

Bürgern zustehende Rechte (Recht auf Heimat, Recht auf Eigentum etc.),

welches Ziel offensichtlich durch die zitierte, Deutsch-tschechische Erklärung

erreicht werden soll?

Werden Sie für den Fall, daß es zu adäquaten Verhandlungen zwischen

Österreich einerseits und der Tschechischen Republik andererseits kommen

sollte. Im Zusammenhang mit denselben gleichfalls trachten, auf

österreichischen Staatsbürgen zustehende Rechte verzichten zu können bzw.

zu verzichten?

Wenn ja, warum?

7. Teilen Sie die Ansicht der Anfragesteller, daß begrifflich und logisch, aber auch

rechtlich. auf Rechte, die jemandem zustehen, allenfalls dieser selbst

verzichten kann, und daß dies kein dritter, auch nicht der Staat, dessen Bürger

er ist, für ihn tun kann?

8. Teilen Sie darüber hinaus die einhellige Rechtsauffassung, daß es sich beim

Selbstbestimmungsrecht überhaupt um ein unverzichtbares Recht handelt, auf

das niemand für Dritte, aber auch niemand für sich selbst und vor allem

niemand für seine Kinder und Kindeskinder rechtswirksam verzichten kann?