3383/J XX.GP

 

ANFRAGE

der Abgeordneten Gaugg

und Kollegen

an die Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales

betreffend Arbeiterkammer-Pflichtmitgliedschaft in der Europäischen Union

Anscheinend ist nach Ansicht österreichischer Kammerfunktionäre die gesetzliche Interes-

senvertretung der Arbeitnehmer und der selbständig Erwerbstätigen - und somit das Sy-

stem der Pflicht- beziehungsweise Zwangsmitgliedschaft - vereinbar mit den Grundsätzen

der Europäischen Union.

Tatsache ist jedoch, daß in der Europäischen Union selbst für die Mitgliedschaft in Interes-

senverbänden der Grundsatz der Freiwilligkeit gilt. Daher können manche österreichischen

Interessenvertretungen nicht in ihren europäischen Dachverbänden Mitglied sein. Da für die

österreichischen Unternehmen verpflichtende Mitgliedschaft in den österreichischen Wirt-

schaftskammer besteht, darf die Wirtschaftskammer Österreich nicht im Unternehmerver-

band der Europäischen Union, UNICE, Mitglied sein. Hingegen ist zum Beispiel die Vereini-

gung Österreichischen Industrieller als ein auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhender Ver-

band auch UNICE-Mitglied.

Für die Arbeiterkammer ist die Lage dadurch noch aussichtsloser, daß es nicht einmal ei-

nen Verband für sie gibt. „Lediglich für die Bundesarbeitskammer besteht, da Arbeiterkam-

mern EU-weit die Ausnahme darstellen, nicht die Möglichkeit, sich einem supranationalen

Dachverband anzuschließen.“ (Industrie, 17. April 1996)

Die Pflichtmitgliedschaft ist vom Europäischen Gerichtshof als rechtmäßig bestätigt worden.

Jedoch stehen konkrete Entscheidungen in Fällen aus, in denen die Pflichtmitgliedschaft

mit Grundsätzen wie jenen der Niederlassungsfreiheit und der Gleichheit kollidieren könnte.

Tatsache ist, daß Arbeitnehmer in Österreich eine Abgabe zu tragen haben, die Arbeitneh-

mer in anderen Ländern der Europäischen Union nicht zu tragen haben. Denkbar ist daher

eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes.

Die österreichischen Arbeiterkammern treten für eine europaweite Harmonisierung der So-

zialpolitik ein. In der Folge wird dies zu einer Angleichung der Sozialgesetzgebung führen

müssen. Es wäre naiv zu glauben, daß von einer solchen Angleichung das System der

Pflichtmitgliedschaft ausgenommen sein könnte.

Wenn jedoch der europäische Gesetzgeber vor der Wahl stehen wird, im Zuge einer ent-

sprechenden Angleichung das System der Pflichtmitgliedschaft entweder in allen anderen

Ländern der Europäischen Union zusätzlich einzuführen oder aber es in Österreich aufzu-

heben, erscheint es realistisch, die letztere Möglichkeit für wahrscheinlicher zu halten.

Insbesondere für die Arbeiterkammern fiele dabei ins Gewicht, daß diese gesetzliche Inter-

essenvertretung der Arbeitnehmer ein auf einen beschränkten Kreis — außer Österreich

betrifft es nur ein paar kleine Regionen der Europäischen Union — verbreitetes Unikum dar-

stellt.

Daher dürften die Aufwendungen für Mitgliederbefragungen und Abstimmungen darüber,

ob die Österreicher zum System der Pflichtmitgliedschaft stehen würden oder nicht, letztlich

verlorene Aufwendungen sein. Vergleichbar wäre dies offenbar mit einer eventuellen Be-

fragung darüber, ob die österreichischen Sparguthabenbesitzer an der Anonymität festhal-

ten wollten oder nicht: Eine solche Befragung wäre angesichts der Rechtslage in der Euro-

päischen Union irrelevant.

Das österreichische System der Pflichtmitgliedschaft scheint unter Wettbewerbsgesichts-

punkten bisher nur unzureichend erörtert worden zu sein. Denkbar ist zumindest, daß die

Pflichtmitgliedschaft einen Wettbewerbsnachteil für die österreichischen Wirtschaft, insbe-

sondere für den österreichischen Arbeitsmarkt bedeutet. Dieser Nachteil müßte im Verhält-

nis zu dem „Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ gewichtet werden.

Diese Formulierung gebrauchte zum Beispiel der deutsche Arbeitsminister Blüm im Zu-

sammenhang mit der Verteidigung des deutschen Entsendegesetzes: „Es ist vielmehr ein

Gesetz zur Sicherung eines fairen Wettbewerb auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Denn

fair könne dieser Wettbewerb nur sein, wenn der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit

am gleichen Ort Gültigkeit behält.“‘ (Handelsblatt, 1. Juni 1996)

Zweifellos bedeutet der Abgabenzwang infolge der Pflichtmitgliedschaft eine Belastung des

österreichischen Arbeitsmarktes, die in anderen EU-Ländern nicht besteht. Inwieweit die

Europäische Union insgesamt als „gleicher Ort" zu betrachten wäre, erscheint ebenfalls

klärungsbedürftig.

Ein möglicherweise in Ansätzen vergleichbarer Fall liegt in der Zurückweisung von Bestre-

bungen des Kreditkartenunternehmens Visa vor, den freien Markt durch Beeinflussung der

Banken zu beeinträchtigen. Eine solche Verzerrung der Wettbewerbsverhältnisse wird vom

zuständigen EU-Kommissar zurückgewiesen. ,,Mr Karel Van Miert, European competition

commissioner‘ yesterday fired a waming shot at Visa International, the credit card organisa-

tion, saying he would ‚not accept‘ any move by Visa to restrict its member banks in Europe

from issuing rival credit cards.“ (Financial Times, 31. Mai 1996)

Die negativen Auswirkungen der Pflichtmitgliedschaft lassen sich an folgendem Beispiel

darlegen. Von staatlicher Seite wird - nicht zuletzt infolge der Verpflichtungen im Rahmen

des EU-Gipfeltreffens zur Arbeitsmarktpolitik in Luxemburg - versucht, Unternehmensgrün-

dungen zu fördern. Einschneidend erschwert werden Unternehmensgründungen jedoch

durch eine bis ins kleinste reglementierte Gewerbeordnung. Die Hüter der Gewerbeordnung

sind die Kammern, insbesondere die Wirtschaftskammern. Der Staat erkennt zwar, daß

eine effiziente Gründungsförderung nur mit Hilfe einer weitreichenden Liberalisierung der

Gewerbeordnung zu erreichen wäre, jedoch besteht von Kammerseite heftiger Widerstand

gegen diese Liberalisierung. Dieser Widerstand bezieht daraus, daß sich die Wirtschafts-

kammern auf die Pflichtmitgliedschaft berufen können, seine wesentliche Substanz. Das

bedeutet, daß eine volkswirtschaftlich wünschenswerte Entwicklung, der auch große Be-

deutung für eine bessere Beschäftigungslage zukäme, durch das Faktum der Pflichtmit-

gliedschaft wesentlich behindert wird.

Denn eine solcherart verstärkte Wirkung des Widerstands der Kammer gegen eine auch

noch so vernünftige Maßnahme führt dazu, daß die politischen Anläufe, die Gewerbeord-

nung zu liberalisieren, weitgehend zum Scheitern verurteilt. Will der Staat trotzdem die Un-

ternehmensgründungen vorantreiben, ist er daher zu wesentlich höheren direkten Grün-

dungsunterstützungen gezwungen. Damit nicht genug, ist der Staat auch infolge des Ein-

flusses der Kammern zu erhöhten Aufwendungen für die Administration gedrängt. Denn

weniger gesetzliche Eingriffe würden auch weniger Kosten für Gesetzgebung sowie Über-

wachung des Gesetzesvollzugs bedeuten, auch in der Gewerbeordnung.

Zur Abschätzung der negativen Folgen dienlich sein könnte eine detaillierte Gegenüberstel-

lung der volkswirtschaftlichen Gewinne, die eine bis ins kleinste reglementierte Gewerbe-

ordnung mit sich bringt, insbesondere durch Verhinderung von Schäden infolge unzurei-

chender Gewerbeausübung, sowie der volkswirtschaftlichen Verluste, speziell der staatli-

chen Mehraufwendungen für Förderungen, jedoch auch der erhöhten Ausgaben für Sozial-

leistungen wie der Arbeitslosenunterstützung, die infolge der Beschäftigungsbeschränkun-

gen durch eine rigorose Gewerbegesetzgebung entstehen.

Es zeigt sich, daß die Pflichtmitgliedschaft strukturelle Nachteile für die österreichische

Volkswirtschaft mit sich bringt, insbesondere in der veränderten Wirtschaftswelt von heute,

die mit der interventionistischen Nachkriegswirtschaft der Preisreglementierung - als des

Kristallisationskerns der sozialpartnerschaftliche Beeinflussung der Wirtschaft - nichts mehr

zu tun hat. Denn die Pflichtmitgliedschaft bewirkt heute vor allem einen Verlust an Flexibili-

tät für die österreichische Wirtschaft gegenüber Volkswirtschaften, in denen es die Pflicht-

mitgliedschaft nicht gibt. Die „wirtschaftspolitische Reaktionsfähigkeit“ ist in anderen Län-

dern dadurch wesentlich größer. Hingegen hat Österreich einen klaren Wettbewerbsnach-

teil.

Bedenkt man dazu die Schwierigkeiten des österreichischen Wohlfahrtsstaates, dessen

Unfinanzierbarkeit zwar längst deutlich geworden ist, dessen vernünftige Adaptierung je-

doch infolge des (wegen der Pflichtmitgliedschaft in seiner Wirkung verstärkten) Widerstan-

des seitens der Arbeitnehmervertreter - und zwar auch noch, nachdem sie selbst die

Eingliederung Österreichs in die Europäische Union mitbetrieben hatten - auf unverant-

wortliche Weise in die Länge gezogen wird, so zeigt sich insgesamt eine Wirkung der

Pflichtmitgliedschaft, welche die Schlußfolgerung einer tiefgreifenden Schädigung der

österreichischen Volkswirtschaft nahelegt.

Auch von juristischer Seite ist die Haltbarkeit des Systems der Zwangsmitgliedschaft inner-

halb der Europäischen Union bereits in Zweifel gezogen worden: „Die Zwangsmitgliedschaft

in den Industrie- und Handelskammern ist europarechtlich und verfassungsrechtlich nicht

unbedenklich ... Ich habe meine Zweifel, ob der nationalstaatliche Aspekt als Legitimations-

grundlage noch greift, nachdem wirtschaftsrechtliche Kompetenzen in den letzten 33 Jah-

ren von den Mitgliedsstaaten mehr und mehr auf die EU verlagert wurden ... Literatur und

Rechtsprechung tendieren jedoch überwiegend dazu, Artikel 52 EGV als umfassendes Be-

schränkungsverbot oder als Freiheitsgrund recht zu interpretieren.“ (Hans-Wolfgang Arndt:

Verändertes Umfeld macht juristische und politische Überprüfung notwendig, in: Der Selb-

ständige, Januar/Februar 1996)

Daher richten die unterzeichneten Abgeordneten an die Bundesministerin für Arbeit, Ge-

sundheit und Soziales nachstehende

Anfrage:

1. Auf welche Rechtsgrundlagen stützt sich die Auffassung, daß das System der Zwangs-

mitgliedschaft insbesondere in Arbeiterkammern mit den Prinzipien der Europäischen Union

vereinbar sei?

2. Welche Gerichtsverfahren, die mit dieser Angelegenheit zusammenhängen, sind Ihnen

bekannt?

3. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus, daß ein institutioneller Rahmen für Arbei-

terkammern auf EU-Ebene gar nicht vorhanden ist?

4. Wie groß ist das Ausmaß der Mehrbelastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,

die sie in Ländern mit Arbeiterkammern als Zwangsmitglieder zu tragen haben?

5. Welche Wettbewerbsnachteile ergeben sich aus dem System der Pflichtmitgliedschaft?

6. In welchem Ausmaß wird die Schaffung von Arbeitsplätzen in Ländern mit gesetzlich

vorgeschriebener Arbeitnehmervertretung dadurch beeinträchtigt, daß unter den Bedingun-

gen wachsender Freizügigkeit im Personenverkehr Verschiebungen auf den Arbeitsmärkten

zugunsten jener Länder stattfinden, in denen Zwangsbeitragsfreiheit besteht?