1703/AB XXI.GP
Eingelangt am:02.03.2001
Die Bundesministerin
für auswärtige Angelegenheiten
Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Johann Maier und Genossen haben am
19. Jänner 2001 unter der Nr.1779/J - NR/2001 an mich eine schriftliche parlamentarische
Anfrage betreffend „Europäischer Rat in Nizza - Auswirkungen auf nationale Politik"
gerichtet.
Diese Anfrage beantworte ich wie folgt:
Die Grundlage der österreichischen Position in den Verhandlungen zum Vertrag von Nizza
bildete die von der Bundesregierung beschlossene Grundsatzposition, die unter der
Federführung von Bundeskanzleramt und Bundesministerium für auswärtige
Angelegenheiten mit allen zuständigen Bundesministerien. den Sozialpartnern, den
Ländern, der Österreichischen Nationalbank, dem Österreichischen Gemeindebund, dem
Österreichischen Städtebund und anderen betroffenen Stellen abgestimmt wurde. Die
darin festgelegten grundsätzlichen Positionen bildeten den Rahmen für die konkrete
österreichische Position in Nizza, die entsprechend dem Verhandlungsfortgang
weiterentwickelt wurde und in Einklang mit der Stellungnahme des Hauptausschusses
vom 6.12.2000 stand.
Von dieser grundsätzlichen Position mussten im Wesentlichen keine Abstriche
vorgenommen werden.
Zu Fragen 1 - 3:
Ausgangspunkt der österreichischen Haltung in der Frage der Stimmgewichtung beim
ER Nizza war das „Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der
Europäischen Union“, demzufolge jene Mitgliedstaaten, die auf das Nominierungsrecht für
einen zweiten Kommissar verzichten, im Rahmen der Stimmgewichtung im Rat
kompensiert werden sollen. Österreich machte klar, daß diese Kompensation maßvoll
ausfallen und die Balance zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten wahren mußte.
Österreich ist dafür eingetreten, dass jeder Beschluss von einer Mehrheit der
Mitgliedstaaten und einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden muß. Hinsichtlich
der in Frage kommenden Modelle - Einführung einer doppelten Mehrheit oder
Neugewichtung der Stimmen - hat sich Österreich gegenüber beiden Alternativen offen
gezeigt, solange die vorher genannten
Bedingungen erfüllt würden.
Der österreichischen Forderung nach einer „Mehrheit der Mitgliedstaaten und einer
Mehrheit der Bevölkerung“ wird im neuen System durch eine explizite vertragliche
Festlegung Rechnung getragen. Der Vertrag von Nizza legt fest, dass jede Entscheidung
zumindest von der Mehrheit der Mitgliedstaaten mitgetragen werden muß und ermöglicht
die Überprüfung, ob eine Entscheidung zumindest 62 % der Bevölkerung repräsentiert.
Die in Nizza beschlossene neue Stimmverteilung wahrt die Balance zwischen den großen
Staaten und den kleineren und mittleren Staaten und ändert das Stimmenverhältnis von
kleinen und großen Mitgliedstaaten in einer erweiterten Union leicht zugunsten der
Gruppe der kleineren Staaten: Während im derzeitigen Stimmgewichtungssystem die
großen Mitgliedstaaten zusammen 55 % der Gesamtstimmen erreichen, können die
kleineren und mittleren Unionsmitglieder lediglich 45 % der Gesamtstimmen auf sich
vereinen. Das neue System bewirkt in einer Union von 27 Mitgliedern eine Annäherung
dieser Zahlen: Die Gruppe der großen Mitgliedstaaten wird dann über 49 % der Stimmen
verfügen, während der Anteil der kleineren und mittleren Staaten auf 51 % der
Gesamtstimmen steigt.
Aufgrund der äußerst schwierigen Verhandlungssituation, in der sich die
Stimmgewichtung zur Schlüsselfrage des gesamten Verhandlungspakets entwickelt hatte,
konnte ein Abschluss der Regierungskonferenz erst erzielt werden, nachdem alle
Mitgliedstaaten in dieser Frage Beweglichkeit gezeigt und ihre Forderungen auf die
jeweiligen Kernanliegen reduziert hatten. Insofern ist das neue Entscheidungsmodell,
demzufolge Ratsbeschlüsse künftig - bis zu - drei Mehrheiten erfordern, zwar kein ideales
Ergebnis, etwa was seine Verständlichkeit für die Öffentlichkeit anlangt; es war jedoch
jener Kompromiss, der letztlich eine Gesamteinigung auf die Reform der Institutionen
ermöglichte. Auch im Bereich der Entscheidungseffizienz wird der Kompromisscharakter
der Einigung deutlich: In Nizza wurde zwar vereinbart, daß die Stimmenschwelle nach
dem ersten Beitritt unter den derzeitigen Wert abgesenkt werden soll, was die
Entscheidungseffizienz erhöht, allerdings wird die Stimmenschwelle in einer Union von 27
Mitgliedstaaten - auf Drängen der größeren Mitgliedstaaten - einen höheren Wert
erreichen als den derzeitigen.
Entsprechend seiner Grundsatzposition ist Österreich in Nizza für das Recht jedes
Mitgliedstaates eingetreten, jedenfalls ein Mitglied der Kommission zu stellen.
Ansatzpunkt für eine Lösung war für Österreich das dem Vertrag von Amsterdam
beigefügte „Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen
Union", wonach die fünf größten Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich,
Großbritannien, Italien und Spanien) - im Gegenzug zu einer für alle Mitgliedstaaten
annehmbaren Änderung der Stimmgewichtung - auf ihr Recht verzichten könnten, ein
zweites Kommissionsmitglied zu nominieren.
Darüber hinaus hat sich Österreich für den Fortbestand der Kommission als
Kollegialorgan und damit die Wahrung des gleichberechtigten Status aller ihrer Mitglieder
mit Sitz und Stimme im Kollegium ausgesprochen.
Schließlich hat Österreich eine weitere Stärkung der Rolle des Kommissionspräsidenten,
insbesondere durch die Verankerung der individuellen Verantwortlichkeit jedes einzelnen
Kommissars im Vertrag, gefordert.
Da die großen Mitgliedstaaten ab dem Jahr 2005 auf ihr zweites Kommissionsmitglied
verzichten, wird ab diesem Zeitpunkt bis zum Abschluss des laufenden
Erweiterungsprozesses jeder Mitgliedstaat
jeweils einen Kommissar stellen. Damit konnte
Österreich sicherstellen, dass es auch in weiterer Zukunft mit einem Mitglied in der
Kommission vertreten sein wird.
Erst nach der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags des 27. Unionsmitglieds wird der Rat
eine einstimmige Entscheidung über eine Begrenzung der Kommission und die präzisen
Modalitäten eines gleichberechtigten Rotationsprinzips treffen. Die neue Regelung wird
erst in Kraft treten, wenn nach dem erfolgten Beitritt des 27. Mitgliedstaates eine neue
Kommission ihr Amt antritt. Dies kann bis zu fünf Jahre später der Fall sein.
Mit der Einigung auf eine neue, gleichberechtigte Kommissionszusammensetzung und auf
eine egalitäre Rotation als Basis für jede weitere Neuregelung konnte das bestehende
Gleichgewicht zwischen großen und kleineren Mitgliedstaaten gewahrt und das Recht
Österreichs auf die gleichberechtigte Vertretung in diesem zentralen EU - Organ gesichert
werden.
Entgegen anhaltenden Bedenken einiger Mitgliedstaaten wurde ferner eine weitere
Stärkung des Kommissionspräsidenten beschlossen: In Zukunft kann der Präsident mit
Billigung des Präsidiums u.a. einen Kommissar bindend zum Rücktritt auffordern.
In der Frage der Änderung der Sitzverteilung im EP hat sich Österreich für jenes Modell
ausgesprochen, in dem das für Österreich günstigste Resultat, dh. die größtmögliche
Mitgliederzahl, erzielt werden konnte (Extrapolation des bisherigen Systems mit
anschließender linearer proportionaler Kürzung).
In Nizza wurde beschlossen, dass Österreich künftig mit 17 Abgeordneten im EP vertreten
sein wird. Das zweite in Diskussion befindliche Modell hätte für Österreich lediglich 14
Abgeordnete vorgesehen.
Sowohl das Zustandekommen als auch die Beendigung der Sanktionen der 14 EU -
Mitgliedstaaten gegen Österreich haben eindeutig gezeigt, dass die bisherigen
Vertragsinstrumente ein objektives, berechenbares und gerechtes Verfahren nicht
gewährleisten können. Österreich ist beim Europäischen Rat in Nizza daher für eine
Reform des Artikels 7 EUV iVm Art. 46 EUV zur Schaffung eines Frühwarnsystems
innerhalb der Verträge eingetreten. Ziel dieses Vorschlags war es, ein Vorgehen
außerhalb der Verträge in Zukunft unmöglich zu machen und die Rechtsstaatlichkeit in
jeder Phase des Verfahrens zu wahren.
Österreich hat schon in einer frühen Phase der Regierungskonferenz (7. Juni 2000) einen
Vorschlag zur Reform des Artikels 7 EUV iVm Art. 46 EUV eingebracht, der von folgenden
Grundsätzen getragen war:
• Schaffung eines Frühwarnmechanismus innerhalb der Verträge, der schon bei der
Gefahr einer Verletzung einsetzt,
• Zustimmung des Europäischen Parlaments,
• rechtliches Gehör für alle Mitgliedstaaten in allen Verfahrensstufen,
• Begründungspflicht,
• Angemessenheit der Entscheidungen,
• regelmäßige Überprüfungspflicht,
• nachprüfende Kontrolle durch den EuGH auf Antrag des betroffenen
Mitgliedstaates.
Trotz grosser Widerstände im Verhandlungsverlauf ist es Österreich gelungen, die
vertragliche Festlegung sämtlicher o.a. Elemente durchzusetzen.
Das vorrangige Anliegen Österreichs hinsichtlich Wirtschafts - und Sozialausschuss
(WSA) Ausschuss der Regionen (AdR) war die Sicherstellung seiner Vertretung und
die Wahrung der Mitgestaltungsmöglichkeit in den beiden Ausschüssen.
Entgegen den Vorschlägen der Präsidentschaft während der Verhandlungen im Vorfeld
des ER Nizza konnte die Gleichbehandlung der beiden Ausschüsse hinsichtlich ihrer
Sitzzahl durchgesetzt werden. Mit Blick auf die Erweiterung wurde für beide Ausschüsse
eine Gesamtmitgliederzahl für die EU - 27 von 344 Mitgliedern vereinbart und eine
Obergrenze von jeweils 350 Mitgliedern festgelegt. Österreich wird in beiden Ausschüssen
daher weiterhin mit jeweils 12 Sitzen vertreten sein. Zur Erleichterung des
Ernennungsprozesses werden die Mitglieder beider Ausschüsse vom Rat in Zukunft mit
qualifizierter Mehrheit ernannt.
Bei der Reform des Gerichtssystems hat sich Österreich zur Entlastung und Wahrung
der Effizienz des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und Verkürzung der
Verfahrensdauer in einer erweiterten Union für eine Reform und Stärkung des
bestehenden Rechtsschutzes innerhalb der Union ausgesprochen (für eine adäquate
Entlastung des EuGH und für eine interne Reorganisation und flexiblere
Beschlussfähigkeit des EuGH). Im Sinne der Gleichheit aller Mitgliedstaaten der Union ist
Österreich insbesondere für die Wahrung des Grundsatzes eingetreten, wonach dem
EuGH ein Richter je Mitgliedstaat angehört.
Aus österreichischer Sicht ist entscheidend, dass jeder Mitgliedstaat auch weiterhin
sowohl einen Richter beim Gerichtshof als auch mindestens einen Richter beim Gericht
1. Instanz stellt und dieses bislang ungeschriebene Prinzip nunmehr explizit im Vertrag
festgeschrieben wurde.
Zur Effizienzsteigerung wurde der Rat ermächtigt, mit einstimmigem Beschluss
gerichtliche Kammern in besonderen Sachgebieten (z. B. Beamtendienstrecht)
einzurichten und dem Gericht 1. Instanz bestimmte Gruppen von
Vorabentscheidungsverfahren zur Behandlung zuzuweisen. Die Verfahrensordnung der
Gerichte wird vom Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit genehmigt. Plenarsitzungen des
Gerichtshofes werden weitgehend durch einen kleineren Spruchkörper, die sogenannte
„Große Kammer" mit 11 Richtern, ersetzt. Die Mandatsdauer der Präsidenten von „5er -
Kammern" wird auf 3 Jahre verlängert.
Das zentrale Anliegen Österreichs hinsichtlich des Europäischen Rechnungshofs war
die Wahrung seiner Mitgestaltungsmöglichkeit und die Sicherstellung seiner Vertretung im
ERH.
Österreich konnte durchsetzen, dass auch in einer erweiterten Union jeder Mitgliedstaat
im Rechnungshof vertreten ist, und dieses Prinzip erstmals vertraglich festgehalten wird.
Der Ernennungsprozess wurde durch den Übergang zur qualifizierten Mehrheit in diesem
Bereich erleichtert.
Ein Anliegen Österreichs war es, im Rahmen dieser Vertragsrevision die Voraussetzungen
für eine wohldurchdachte Reform der Zusammensetzung des EZB - Rates (Art.10 EZB -
Statut) nach eingehender Diskussion der Auswirkungen der Erweiterung auf die
Strukturen der Europäischen Zentralbank
zu schaffen. Österreich hatte sich daher bereits
im Vorfeld des ER Nizza auf Ebene des ECOFIN - Rates für eine Ermächtigungsklausel
ausgesprochen, um eine künftige Revision der Strukturen der EZB - Gremien durch
Ratsbeschluss zu ermöglichen.
Die Zusammensetzung kann vom Rat in der Zusammensetzung der Staats - und
Regierungschefs entweder auf Empfehlung der EZB nach Anhörung des EP und der EK
oder auf Empfehlung der EK nach Anhörung der EZB und des EP einstimmig geändert
werden. Mit dem Beschluss dieser Ermächtigungsklausel konnte einer überhasteten
Reform in Bezug auf die EZB - Strukturen vorgebeugt werden. Österreich konnte ferner
durchsetzen, dass die Änderungen erst dann in Kraft treten, wenn sie von allen MS
entsprechend ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen angenommen wurden.
Beim Europäischen Rat von Nizza stand Österreich einer Ausdehnung der
Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit grundsätzlich positiv gegenüber,
forderte aber für einige besonders sensible Bereiche erfolgreich die Beibehaltung der
Einstimmigkeit.
Betreffend die Bereiche, in denen Österreich die Einstimmigkeit im Rat beibehalten wollte,
mussten so gut wie keine Abstriche vorgenommen werden.
• Hinsichtlich der in Art. 175 Abs.2 EGV genannten Maßnahmen, die die quantitative
Bewirtschaftung der Wasserressourcen, die Bodennutzung und die Raumordnung
betreffen, gibt es im Vertrag von Nizza durch die Einfügung der Wortfolge
„Maßnahmen, die direkt oder indirekt die Verfügbarkeit der Wasserressourcen
betreffen“ eine Formulierung, die die Einstimmigkeit noch unmissverständlicher
garantiert als dies im bestehenden Vertrag der Fall ist.
• Art. 71 Abs.2 EGV, der Einstimmigkeit bei „Vorschriften über die Grundsätze der
Verkehrsordnung vorsieht, deren Anwendung die Lebenshaltung und die
Beschäftigungslage in bestimmten Gebieten sowie den Betrieb der
Verkehrseinrichtungen ernstlich beeinträchtigen könnte“, bleibt erhalten, obwohl
praktisch alle anderen Mitgliedstaaten eine Streichung akzeptiert hätten.
• In einem gewissen Zusammenhang damit steht auch eine Erklärung zu Art. 175 EGV,
dergemäss sich die EU auch zu einer nachhaltigen Umweltpolitik einschliesslich des
Rückgriffs auf „marktorientierte, der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung
dienende Anreize und Instrumente“ verpflichtet.
• Hinsichtlich der Asyl -, Flüchtlings - und Einwanderungspolitik wird in Art. 67 EGV
festgelegt, dass in einigen Fällen dann zur qualifizierten Mehrheit übergegangen
werden kann, wenn die grundlegenden Rechtsakte zuvor einstimmig beschlossen
worden sind; in noch sensibleren Unterbereichen (Lastenausgleich, Einwanderung und
Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) kann erst nach einem späteren einstimmigen
Beschluss des Rates zu qualifizierten Mehrheitsabstimmungen übergegangen werden.
Diese Lösung ist mit der von Österreich vertretenen Position faktisch ident.
• Schließlich wird bei der weiteren Ausdehnung der gemeinsamen Handelspolitik auf
Dienstleistungen und Handelsaspekte des geistigen Eigentums vertraglich
festgeschrieben, dass u.a. für horizontale Abkommen unter bestimmten Bedingungen
weiterhin ein Vetorecht bestehen bleibt. Außerdem werden die Bereiche Investitionen
und Verkehr nicht in den Artikel einbezogen. Auch hiermit wird den österreichischen
Hauptanliegen Rechnung getragen.
Abstriche mussten hingegen in Bereichen in Kauf genommen werden, in denen Österreich
den Übergang zur qualifizierten Mehrheit zumindest teilweise befürwortet hatte. Dies
betrifft insbesondere die Koordination der
sozialen Sicherheitssysteme zur Herstellung der
Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 42 EGV) und Teilbereiche der Steuerpolitik, wie
besonders Umweltsteuern (Art. 93 und Art. 175 EGV). Diese Bereiche bleiben zur Gänze
der Einstimmigkeit unterworfen.
Österreich ist dafür eingetreten, die auf dem Gebiet der Gemeinsamen Europäischen
Sicherheits - und Verteidigungspolitik erzielten Fortschritte auch primärrechtlich
festzuschreiben. Ferner hat Österreich die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen an
das Politische und Sicherheitspolitische Komitee befürwortet, damit dieses im Krisenfall
eigenständig Beschlüsse fassen kann. Österreich hat einen diesbezüglichen Vorschlag
der Benelux - Staaten und Italiens zur Anpassung des EU - Vertrages an die GESVP
begrüßt.
Der angesprochene Vorschlag der Benelux - Staaten und Italiens hat die weitgehende
Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten gefunden. In Art. 17 EUV wurden alle Hinweise
auf die WEU gestrichen; in Art. 25 wurde das Politische Komitee durch das Politische und
Sicherheitspolitische Komitee (PSK) ersetzt, das vom Rat für die Dauer einer
Krisenmanagement - Operation ermächtigt werden kann, Beschlüsse hinsichtlich der
politischen Kontrolle und strategischen Führung dieser Operation zu fassen.
Das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit war bereits im Vertrag von Amsterdam
unter sehr restriktiven Bedingungen angelegt, in der Praxis jedoch noch niemals
angewendet worden. Österreich positionierte sich in der Gruppe jener Mitgliedstaaten, die
einer Erleichterung der Bestimmungen über die verstärkte Zusammenarbeit unter
bestimmten Auflagen zustimmten, um außervertragliche Kooperationen zu verhindern. Zu
diesen Auflagen zählten insbesondere
- die Notwendigkeit einer kritischen Masse von (8) Mitgliedstaaten zur Begründung einer
verstärkten Zusammenarbeit, und zwar im Hinblick auf alle drei Säulen;
- der Vorrang der alle Mitgliedstaaten einbeziehenden Gemeinschaftsmethode vor einer
verstärkten Zusammenarbeit, die immer letztes Mittel bleibt;
- die zu jeder Zeit bestehende Offenheit des Prozesses für das Aufschließen
nichtteilnehmender Mitgliedstaaten;
- die gebotene Berücksichtigung der Verträge, Ziele und des Rechtsbestandes der
Europäischen Gemeinschaft sowie der Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der
nichtteilnehmenden Staaten sowie
- eine starke Rolle für die Kommission in allen Säulen.
Der ER Nizza hat beschlossen, die Bedingungen für die bereits im Vertrag von
Amsterdam geschaffene Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit zu erleichtern. Die
Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat eine derartige Zusammenarbeit verhindern kann,
wurde daher gestrichen und der Anwendungsbereich des Instruments der verstärkten
Zusammenarbeit auch auf die zweite Säule ausgedehnt. In Zukunft wird verstärkte
Zusammenarbeit daher auch im Bereich der Gemeinsamen Außen - und Sicherheitspolitik
(bei der Umsetzung gemeinsamer Aktionen und Standpunkte) möglich sein. Bereiche mit
militärischen Implikationen und der Bereich der Verteidigung bleiben vom
Anwendungsbereich jedoch auch weiterhin ausgespart. Weiters wurde als
Mindestteilnehmerzahl an einer verstärkten Zusammenarbeit die Zahl von acht
Mitgliedstaaten fixiert. Dieses Erfordernis gilt, entgegen den Bestrebungen mancher
Mitglieder, in allen drei Säulen. Ferner konnte sichergestellt werden, dass verstärkte
Zusammenarbeit auch in Zukunft nur als „letztes Mittel“ herangezogen werden darf. Sie
muss die Verträge, Ziele und den
Rechtsbestand der Europäischen Gemeinschaft
beachten und muss all jenen offen stehen, die an ihr teilnehmen möchten. Verstärkte
Zusammenarbeit kann somit in unterschiedlicher Zusammensetzung und in
verschiedenen Bereichen stattfinden. Davon ausgenommen sind jedoch die Kernbereiche
der Union wie der Binnenmarkt und die Kohäsion. Das ambitionierte Ziel der Ausweitung
der starken Rolle der Kommission von der ersten auf die anderen beiden Säulen konnte
zwar nicht erreicht werden, das Mitspracherecht der Kommission wurde jedoch auch für
die zweite und dritte Säule sichergestellt.
In der Frage der Zukunft der Union (Reformprozess) hat Österreich in Nizza die
Position vertreten, dass in einem Prozess, der 6 - 10 Monate nach Nizza beginnen soll,
folgende Themen behandelt werden sollten:
- Präzisere Kompetenzabgrenzung zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und
den Regionen,
- Vereinfachung der Verträge,
die weitere Behandlung der am ER Nizza proklamierten Grundrechtecharta,
- die Schaffung einer zweiten, aus Vertretern der nationalen Parlamente
gebildeten Kammer des EP,
- Verbesserung der Außenvertretung der Union.
In Nizza haben die Mitgliedstaaten in der „Erklärung zur Zukunft der Union“ vereinbart, für
das Jahr 2004 eine neue Regierungskonferenz einzuberufen. Die im Rahmen dieser
Regierungskonferenz „unter anderem“ zu erörternden Fragen, die nachstehend aufgezählt
werden, entsprechen im wesentlichen der österreichischen Forderungsliste:
• eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der
Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten sowie
die Überwachung ihrer Einhaltung;
• der Status der in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen
Union;
• die Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, sie klarer und verständlicher zu
machen, ohne sie inhaltlich zu ändern;
• die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas.
Bereits im Jahr 2001 werden die vorsitzführenden Mitgliedstaaten Schweden und Belgien
in Zusammenarbeit mit der Kommission und dem Europäischen Parlament eine
umfassende Debatte mit allen interessierten Kreisen zu den Themen der
Regierungskonferenz 2004 einleiten. Insbesondere Vertreter aus Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft und Zivilgesellschaft sollen in die Vorbereitungen einbezogen werden. Nach
einem ersten Bericht anlässlich des Europäischen Rates in Göteborg (Juni 2001) sollen
bei der Tagung des Europäischen Rates in Laeken im Dezember 2001 die geeigneten
Initiativen für die Fortführung des Diskussionsprozesses festgelegt werden.
Zu Frage 4:
Die mit dem Vertrag von Nizza beschlossene Änderung des Primärrechts berührt
sämtliche unter den Fragen 1 - 3 dargestellten Themenbereiche und betrifft insofern alle
Ressorts in ihren Zuständigkeiten.
Darüber hinaus berühren die Schlussfolgerungen der Präsidentschaft das BMaA
insbesondere in den folgenden Punkten:
Charta der Grundrechte: In seinen Schlussfolgerungen begrüßte der ER Nizza die
gemeinsame Proklamation der Charta, nahm eine
möglichst weite Verbreitung der Charta
bei den Unionsbürgern in Aussicht und legte fest, dass die Frage der Tragweite der
Charta im Einklang mit den Schlussfolgerungen vom ER Köln zu einem späteren
Zeitpunkt geprüft werden soll.
Erweiterung/Grenzregionen: Der ER von Nizza beschloss auf Grundlage des
Strategiepapiers der Kommission zur Erweiterung eine ,,Wegskizze“ für die
Beitrittsverhandlungen. Die Wegskizze gibt eine Übersicht über die in Aussicht
genommene Behandlung der einzelnen Verhandlungskapitel im Zuge der nächsten 3
Präsidentschaften. Das vorgeschlagene Schema hat lediglich indikativen Charakter.
Österreichischerseits wird die Wegskizze begrüßt: Sie erlaubt eine planende Vorausschau
und ermöglicht die angesichts der Anzahl der Beitrittsbewerber und der Komplexität
einzelner Verhandlungskapitel unumgängliche Schwerpunktsetzung.
Auf Österreichs Initiative forderte der ER die Kommission auf, ein Programm für die
wirtschaftliche Wettbewerbsförderung der Grenzregionen zu erstellen. Dies würde eine
weitere Unterstützung für österreichische Regionen an der MOEL - Grenze im Rahmen von
EU - Programmen ermöglichen, wodurch allfällige negative Folgen der Erweiterung für die
Menschen der an den Grenzen zu den Beitrittskandidaten liegenden Gebiete abgefedert
werden können.
Gemeinsame Europäische Sicherheits - und Verteidigungspolitik: Gemäß den
Beschlüssen des ER von Nizza zur Gemeinsamen Europäischen Sicherheits - und
Verteidigungspolitik (GESVP) hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK)
nunmehr permanenten Charakter erhalten. Das PSK befasst sich mit allen relevanten und
aktuellen Themen der GASP (Gemeinsame Außen - und Sicherheitspolitik) und soll in
Zukunft das zentrale Gremium des Rates zur Reaktion auf Krisensituationen sein. Es wird
dabei von der im Ratssekretariat eingerichteten Planungseinheit (Policy Unit) unterstützt.
Das PSK tagt zweimal wöchentlich sowie ad hoc nach Bedarf in Brüssel und übernimmt
damit vor Ort die Aufgaben des Politischen Komitees (POKO).
Im Rahmen der Aussenbeziehungen bekräftigte der Europäische Rat zu den Themen
Westlicher Balkan, Naher Osten und Zypern die bisherige Linie der Gemeinsamen
Aussen - und Sicherheitspolitik, an der Österreich als EU - Mitglied mitwirkt.
Mittelmeerraum: Die Schlussfolgerungen betreffend die Euro - mediterrane Partnerschaft
(IV. Europa - Mittelmeer - Konferenz von Marseille, MEDA - Programm, EIB - Finanzierungs -
volumen) bekräftigen die in diesem Bereich bereits erfolgten Beschlüsse.
Entwicklungszusammenarbeit: Der Europäische Rat begrüßte die Annahme der
Erklärung des Rates der Entwicklungsminister und der Kommission vom 10.11.2000 zur
Entwicklungspolitik der Gemeinschaft sowie die Annahme einer Entschließung zu den
übertragbaren Krankheiten und zur Armut, mit der ein globaler Ansatz zur Bekämpfung
von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria festgelegt wird, die für die Entwicklungsländer
eine schwerwiegende Bedrohung darstellen.
Zu Fragen 5 - 7:
Wie sich aus Artikel 4 des Vertrags über die Europäische Union ergibt, ist der
Europäische Rat in erster Linie als politisches Steuerungsorgan konzipiert, das zwar über
eine grundlegende politische Richtlinienkompetenz verfügt, von wenigen Ausnahmen (vgl.
Art. 13 Abs. 2 EUV, Art. 17 Abs. 1 EUV) abgesehen aber nicht zum Erlass verbindlicher
Rechtsakte befugt ist. Für die
Mitgliedstaaten ergeben sich aus den Beschlüssen des
Europäischen Rates daher keinerlei unmittelbar wirksame Umsetzungsverpflichtungen,
und auch die Gemeinschaftsorgane, denen die Umsetzung der Schlussfolgerungen in
erster Linie obliegt, werden durch sie im Sinne des Kohärenzgebotes nur in politischer,
nicht jedoch in rechtlicher Hinsicht gebunden. Die Frage der Ergreifung - nationaler -
legislativer Maßnahmen zur unmittelbaren Umsetzung der Schlussfolgerungen des
Vorsitzes des Europäischen Rates stellt sich daher so nicht.
Zu Frage 8:
Die Agenda des Europäischen Rates in Stockholm am 23./24. März 2001 ist weitgehend
von den Beschlüssen am Europäischen Rat in Lissabon am 23./24. März 2000 bestimmt.
In Lissabon wurde das strategische Globalziel beschlossen, „die Union zum
wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt
zu machen - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu
erzielen.“
Der ER Lissabon hat weiters beschlossen, dass der Europäische Rat eine stärkere
Leitungs - und Koordinierungsfunktion wahrnehmen soll, die eine kohärentere strategische
Leitung und eine effektive Überwachung der Fortschritte gewährleisten soll. In diesem
Sinne findet im Frühjahr jährlich eine Tagung des ER zu wirtschafts - und sozialpolitischen
Fragen statt, bei der die entsprechenden Mandate festgelegt und Sorge dafür getragen
wird, dass entsprechende Folgemaßnahmen zur Umsetzung der Lissabonner Strategie
ergriffen werden.
Aus heutiger Sicht werden beim ER die folgenden Anliegen im Zusammenhang mit
der Umsetzung der Globalstrategie vertreten werden:
Österreich begrüßt und unterstützt den Zugang der schwedischen Präsidentschaft in der
Vorbereitung des Europäischen Rates in Stockholm, der darauf ausgerichtet ist, ein
effizientes und ambitioniertes Follow - up der Lissabonner Strategie sicherzustellen.
Wichtige Prämissen für die Arbeit des Europäischen Rates in Stockholm sind aus
österreichischer Perspektive:
- Die Ausgewogenheit in der Weiterentwicklung der Gesamtstrategie in Bezug auf
die vier Eckpfeiler Beschäftigung, Innovation, wirtschaftliche Reformen und soziale
Kohäsion.
- Kontinuität durch Evaluierung der bisherigen Umsetzung der Gesamtstrategie
und neue Impulse in der Umsetzung durch verstärkte Prioritätensetzung und
ambitionierte, realistische Zeitpläne.
- Die von der schwedischen Präsidentschaft gewählte demographische
Entwicklung als thematischer Fokus beleuchtet gezielt die großen
Herausforderungen für die wirtschafts - und sozialpolitische Gestaltung der
europäischen Zukunft und stellt somit einen guten Ausgangspunkt der
Diskussionen dar.
Zu Frage 9:
Durch den Abschluss der Regierungskonferenz in Nizza werden die Institutionen zum
ersten Mal seit der Gründung der Union in größerem Ausmaß angepasst. In Nizza ist es
dabei gelungen, eine für alle Mitglieder akzeptable Lösung für jene Fragen zu erreichen,
über die sich die Mitgliedstaaten einige Jahre zuvor in Amsterdam noch nicht einigen
konnten. Österreich hätte dabei in
manchen Bereichen weitergehendere Vertragsreformen
bevorzugt. Es ist jedoch nicht angebracht, die Bedeutung des letztendlich gefundenen
Kompromisses in Zweifel zu ziehen. Vielmehr muß bei einer Beurteilung der Ergebnisse
im Vordergrund stehen dass die Union mit dem Abschluss des Vertrages von Nizza das
entscheidende Ziel - die notwendigen institutionellen Voraussetzungen für die
Erweiterung zu schaffen - erreicht hat. Sie ist durch den Vertragsabschluss nach erfolgter
Ratifikation in den Mitgliedstaaten ab 2003 erweiterungsfähig. Dabei ist es in Nizza
gelungen, die relative Stellung der kleineren und mittleren Mitgliedstaaten im Gefüge der
Union auch in einer künftig erweiterten Union zu wahren. Zudem wird mit der
Weiterentwicklung des Artikels 7 der Schutz der Grundrechte, der Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit in der Union gestärkt.