1703/AB XXI.GP

Eingelangt am:02.03.2001

 

Die Bundesministerin

für auswärtige Angelegenheiten

 

 

Die Abgeordneten zum Nationalrat Mag. Johann Maier und Genossen haben am

19. Jänner 2001 unter der Nr.1779/J - NR/2001 an mich eine schriftliche parlamentarische

Anfrage betreffend „Europäischer Rat in Nizza - Auswirkungen auf nationale Politik"

gerichtet.

 

Diese Anfrage beantworte ich wie folgt:

 

Die Grundlage der österreichischen Position in den Verhandlungen zum Vertrag von Nizza

bildete die von der Bundesregierung beschlossene Grundsatzposition, die unter der

Federführung von Bundeskanzleramt und Bundesministerium für auswärtige

Angelegenheiten mit allen zuständigen Bundesministerien. den Sozialpartnern, den

Ländern, der Österreichischen Nationalbank, dem Österreichischen Gemeindebund, dem

Österreichischen Städtebund und anderen betroffenen Stellen abgestimmt wurde. Die

darin festgelegten grundsätzlichen Positionen bildeten den Rahmen für die konkrete

österreichische Position in Nizza, die entsprechend dem Verhandlungsfortgang

weiterentwickelt wurde und in Einklang mit der Stellungnahme des Hauptausschusses

vom 6.12.2000 stand.

 

Von dieser grundsätzlichen Position mussten im Wesentlichen keine Abstriche

vorgenommen werden.

 

Zu Fragen 1 - 3:

Ausgangspunkt der österreichischen Haltung in der Frage der Stimmgewichtung beim

ER Nizza war das „Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der

Europäischen Union“, demzufolge jene Mitgliedstaaten, die auf das Nominierungsrecht für

einen zweiten Kommissar verzichten, im Rahmen der Stimmgewichtung im Rat

kompensiert werden sollen. Österreich machte klar, daß diese Kompensation maßvoll

ausfallen und die Balance zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten wahren mußte.

Österreich ist dafür eingetreten, dass jeder Beschluss von einer Mehrheit der

Mitgliedstaaten und einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden muß. Hinsichtlich

der in Frage kommenden Modelle - Einführung einer doppelten Mehrheit oder

Neugewichtung der Stimmen - hat sich Österreich gegenüber beiden Alternativen offen

gezeigt, solange die vorher genannten Bedingungen erfüllt würden.

Der österreichischen Forderung nach einer „Mehrheit der Mitgliedstaaten und einer

Mehrheit der Bevölkerung“ wird im neuen System durch eine explizite vertragliche

Festlegung Rechnung getragen. Der Vertrag von Nizza legt fest, dass jede Entscheidung

zumindest von der Mehrheit der Mitgliedstaaten mitgetragen werden muß und ermöglicht

die Überprüfung, ob eine Entscheidung zumindest 62 % der Bevölkerung repräsentiert.

Die in Nizza beschlossene neue Stimmverteilung wahrt die Balance zwischen den großen

Staaten und den kleineren und mittleren Staaten und ändert das Stimmenverhältnis von

kleinen und großen Mitgliedstaaten in einer erweiterten Union leicht zugunsten der

Gruppe der kleineren Staaten: Während im derzeitigen Stimmgewichtungssystem die

großen Mitgliedstaaten zusammen 55 % der Gesamtstimmen erreichen, können die

kleineren und mittleren Unionsmitglieder lediglich 45 % der Gesamtstimmen auf sich

vereinen. Das neue System bewirkt in einer Union von 27 Mitgliedern eine Annäherung

dieser Zahlen: Die Gruppe der großen Mitgliedstaaten wird dann über 49 % der Stimmen

verfügen, während der Anteil der kleineren und mittleren Staaten auf 51 % der

Gesamtstimmen steigt.

 

Aufgrund der äußerst schwierigen Verhandlungssituation, in der sich die

Stimmgewichtung zur Schlüsselfrage des gesamten Verhandlungspakets entwickelt hatte,

konnte ein Abschluss der Regierungskonferenz erst erzielt werden, nachdem alle

Mitgliedstaaten in dieser Frage Beweglichkeit gezeigt und ihre Forderungen auf die

jeweiligen Kernanliegen reduziert hatten. Insofern ist das neue Entscheidungsmodell,

demzufolge Ratsbeschlüsse künftig - bis zu - drei Mehrheiten erfordern, zwar kein ideales

Ergebnis, etwa was seine Verständlichkeit für die Öffentlichkeit anlangt; es war jedoch

jener Kompromiss, der letztlich eine Gesamteinigung auf die Reform der Institutionen

ermöglichte. Auch im Bereich der Entscheidungseffizienz wird der Kompromisscharakter

der Einigung deutlich: In Nizza wurde zwar vereinbart, daß die Stimmenschwelle nach

dem ersten Beitritt unter den derzeitigen Wert abgesenkt werden soll, was die

Entscheidungseffizienz erhöht, allerdings wird die Stimmenschwelle in einer Union von 27

Mitgliedstaaten - auf Drängen der größeren Mitgliedstaaten - einen höheren Wert

erreichen als den derzeitigen.

 

Entsprechend seiner Grundsatzposition ist Österreich in Nizza für das Recht jedes

Mitgliedstaates eingetreten, jedenfalls ein Mitglied der Kommission zu stellen.

Ansatzpunkt für eine Lösung war für Österreich das dem Vertrag von Amsterdam

beigefügte „Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen

Union", wonach die fünf größten Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich,

Großbritannien, Italien und Spanien) - im Gegenzug zu einer für alle Mitgliedstaaten

annehmbaren Änderung der Stimmgewichtung - auf ihr Recht verzichten könnten, ein

zweites Kommissionsmitglied zu nominieren.

 

Darüber hinaus hat sich Österreich für den Fortbestand der Kommission als

Kollegialorgan und damit die Wahrung des gleichberechtigten Status aller ihrer Mitglieder

mit Sitz und Stimme im Kollegium ausgesprochen.

 

Schließlich hat Österreich eine weitere Stärkung der Rolle des Kommissionspräsidenten,

insbesondere durch die Verankerung der individuellen Verantwortlichkeit jedes einzelnen

Kommissars im Vertrag, gefordert.

 

Da die großen Mitgliedstaaten ab dem Jahr 2005 auf ihr zweites Kommissionsmitglied

verzichten, wird ab diesem Zeitpunkt bis zum Abschluss des laufenden

Erweiterungsprozesses jeder Mitgliedstaat jeweils einen Kommissar stellen. Damit konnte

Österreich sicherstellen, dass es auch in weiterer Zukunft mit einem Mitglied in der

Kommission vertreten sein wird.

 

Erst nach der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags des 27. Unionsmitglieds wird der Rat

eine einstimmige Entscheidung über eine Begrenzung der Kommission und die präzisen

Modalitäten eines gleichberechtigten Rotationsprinzips treffen. Die neue Regelung wird

erst in Kraft treten, wenn nach dem erfolgten Beitritt des 27. Mitgliedstaates eine neue

Kommission ihr Amt antritt. Dies kann bis zu fünf Jahre später der Fall sein.

 

Mit der Einigung auf eine neue, gleichberechtigte Kommissionszusammensetzung und auf

eine egalitäre Rotation als Basis für jede weitere Neuregelung konnte das bestehende

Gleichgewicht zwischen großen und kleineren Mitgliedstaaten gewahrt und das Recht

Österreichs auf die gleichberechtigte Vertretung in diesem zentralen EU - Organ gesichert

werden.

 

Entgegen anhaltenden Bedenken einiger Mitgliedstaaten wurde ferner eine weitere

Stärkung des Kommissionspräsidenten beschlossen: In Zukunft kann der Präsident mit

Billigung des Präsidiums u.a. einen Kommissar bindend zum Rücktritt auffordern.

 

In der Frage der Änderung der Sitzverteilung im EP hat sich Österreich für jenes Modell

ausgesprochen, in dem das für Österreich günstigste Resultat, dh. die größtmögliche

Mitgliederzahl, erzielt werden konnte (Extrapolation des bisherigen Systems mit

anschließender linearer proportionaler Kürzung).

 

In Nizza wurde beschlossen, dass Österreich künftig mit 17 Abgeordneten im EP vertreten

sein wird. Das zweite in Diskussion befindliche Modell hätte für Österreich lediglich 14

Abgeordnete vorgesehen.

 

Sowohl das Zustandekommen als auch die Beendigung der Sanktionen der 14 EU -

Mitgliedstaaten gegen Österreich haben eindeutig gezeigt, dass die bisherigen

Vertragsinstrumente ein objektives, berechenbares und gerechtes Verfahren nicht

gewährleisten können. Österreich ist beim Europäischen Rat in Nizza daher für eine

Reform des Artikels 7 EUV iVm Art. 46 EUV zur Schaffung eines Frühwarnsystems

innerhalb der Verträge eingetreten. Ziel dieses Vorschlags war es, ein Vorgehen

außerhalb der Verträge in Zukunft unmöglich zu machen und die Rechtsstaatlichkeit in

jeder Phase des Verfahrens zu wahren.

 

Österreich hat schon in einer frühen Phase der Regierungskonferenz (7. Juni 2000) einen

Vorschlag zur Reform des Artikels 7 EUV iVm Art. 46 EUV eingebracht, der von folgenden

Grundsätzen getragen war:

 

      • Schaffung eines Frühwarnmechanismus innerhalb der Verträge, der schon bei der

        Gefahr einer Verletzung einsetzt,

      • Zustimmung des Europäischen Parlaments,

      • rechtliches Gehör für alle Mitgliedstaaten in allen Verfahrensstufen,

      • Begründungspflicht,

      • Angemessenheit der Entscheidungen,

      • regelmäßige Überprüfungspflicht,

      • nachprüfende Kontrolle durch den EuGH auf Antrag des betroffenen

        Mitgliedstaates.

Trotz grosser Widerstände im Verhandlungsverlauf ist es Österreich gelungen, die

vertragliche Festlegung sämtlicher o.a. Elemente durchzusetzen.

 

Das vorrangige Anliegen Österreichs hinsichtlich Wirtschafts - und Sozialausschuss

(WSA) Ausschuss der Regionen (AdR) war die Sicherstellung seiner Vertretung und

die Wahrung der Mitgestaltungsmöglichkeit in den beiden Ausschüssen.

 

Entgegen den Vorschlägen der Präsidentschaft während der Verhandlungen im Vorfeld

des ER Nizza konnte die Gleichbehandlung der beiden Ausschüsse hinsichtlich ihrer

Sitzzahl durchgesetzt werden. Mit Blick auf die Erweiterung wurde für beide Ausschüsse

eine Gesamtmitgliederzahl für die EU - 27 von 344 Mitgliedern vereinbart und eine

Obergrenze von jeweils 350 Mitgliedern festgelegt. Österreich wird in beiden Ausschüssen

daher weiterhin mit jeweils 12 Sitzen vertreten sein. Zur Erleichterung des

Ernennungsprozesses werden die Mitglieder beider Ausschüsse vom Rat in Zukunft mit

qualifizierter Mehrheit ernannt.

 

Bei der Reform des Gerichtssystems hat sich Österreich zur Entlastung und Wahrung

der Effizienz des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und Verkürzung der

Verfahrensdauer in einer erweiterten Union für eine Reform und Stärkung des

bestehenden Rechtsschutzes innerhalb der Union ausgesprochen (für eine adäquate

Entlastung des EuGH und für eine interne Reorganisation und flexiblere

Beschlussfähigkeit des EuGH). Im Sinne der Gleichheit aller Mitgliedstaaten der Union ist

Österreich insbesondere für die Wahrung des Grundsatzes eingetreten, wonach dem

EuGH ein Richter je Mitgliedstaat angehört.

 

Aus österreichischer Sicht ist entscheidend, dass jeder Mitgliedstaat auch weiterhin

sowohl einen Richter beim Gerichtshof als auch mindestens einen Richter beim Gericht

1. Instanz stellt und dieses bislang ungeschriebene Prinzip nunmehr explizit im Vertrag

festgeschrieben wurde.

 

Zur Effizienzsteigerung wurde der Rat ermächtigt, mit einstimmigem Beschluss

gerichtliche Kammern in besonderen Sachgebieten (z. B. Beamtendienstrecht)

einzurichten und dem Gericht 1. Instanz bestimmte Gruppen von

Vorabentscheidungsverfahren zur Behandlung zuzuweisen. Die Verfahrensordnung der

Gerichte wird vom Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit genehmigt. Plenarsitzungen des

Gerichtshofes werden weitgehend durch einen kleineren Spruchkörper, die sogenannte

„Große Kammer" mit 11 Richtern, ersetzt. Die Mandatsdauer der Präsidenten von „5er -

Kammern" wird auf 3 Jahre verlängert.

 

Das zentrale Anliegen Österreichs hinsichtlich des Europäischen Rechnungshofs war

die Wahrung seiner Mitgestaltungsmöglichkeit und die Sicherstellung seiner Vertretung im

ERH.

 

Österreich konnte durchsetzen, dass auch in einer erweiterten Union jeder Mitgliedstaat

im Rechnungshof vertreten ist, und dieses Prinzip erstmals vertraglich festgehalten wird.

Der Ernennungsprozess wurde durch den Übergang zur qualifizierten Mehrheit in diesem

Bereich erleichtert.

 

Ein Anliegen Österreichs war es, im Rahmen dieser Vertragsrevision die Voraussetzungen

für eine wohldurchdachte Reform der Zusammensetzung des EZB - Rates (Art.10 EZB -

Statut) nach eingehender Diskussion der Auswirkungen der Erweiterung auf die

Strukturen der Europäischen Zentralbank zu schaffen. Österreich hatte sich daher bereits

im Vorfeld des ER Nizza auf Ebene des ECOFIN - Rates für eine Ermächtigungsklausel

ausgesprochen, um eine künftige Revision der Strukturen der EZB - Gremien durch

Ratsbeschluss zu ermöglichen.

 

Die Zusammensetzung kann vom Rat in der Zusammensetzung der Staats - und

Regierungschefs entweder auf Empfehlung der EZB nach Anhörung des EP und der EK

oder auf Empfehlung der EK nach Anhörung der EZB und des EP einstimmig geändert

werden. Mit dem Beschluss dieser Ermächtigungsklausel konnte einer überhasteten

Reform in Bezug auf die EZB - Strukturen vorgebeugt werden. Österreich konnte ferner

durchsetzen, dass die Änderungen erst dann in Kraft treten, wenn sie von allen MS

entsprechend ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen angenommen wurden.

 

Beim Europäischen Rat von Nizza stand Österreich einer Ausdehnung der

Entscheidungen im Rat mit qualifizierter Mehrheit grundsätzlich positiv gegenüber,

forderte aber für einige besonders sensible Bereiche erfolgreich die Beibehaltung der

Einstimmigkeit.

 

Betreffend die Bereiche, in denen Österreich die Einstimmigkeit im Rat beibehalten wollte,

mussten so gut wie keine Abstriche vorgenommen werden.

 

•   Hinsichtlich der in Art. 175 Abs.2 EGV genannten Maßnahmen, die die quantitative

    Bewirtschaftung der Wasserressourcen, die Bodennutzung und die Raumordnung

    betreffen, gibt es im Vertrag von Nizza durch die Einfügung der Wortfolge

   „Maßnahmen, die direkt oder indirekt die Verfügbarkeit der Wasserressourcen

    betreffen“ eine Formulierung, die die Einstimmigkeit noch unmissverständlicher

    garantiert als dies im bestehenden Vertrag der Fall ist.

•  Art. 71 Abs.2 EGV, der Einstimmigkeit bei „Vorschriften über die Grundsätze der

    Verkehrsordnung vorsieht, deren Anwendung die Lebenshaltung und die

    Beschäftigungslage in bestimmten Gebieten sowie den Betrieb der

    Verkehrseinrichtungen ernstlich beeinträchtigen könnte“, bleibt erhalten, obwohl

    praktisch alle anderen Mitgliedstaaten eine Streichung akzeptiert hätten.

•  In einem gewissen Zusammenhang damit steht auch eine Erklärung zu Art. 175 EGV,

   dergemäss sich die EU auch zu einer nachhaltigen Umweltpolitik einschliesslich des

   Rückgriffs auf „marktorientierte, der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung

   dienende Anreize und Instrumente“ verpflichtet.

•  Hinsichtlich der Asyl -, Flüchtlings - und Einwanderungspolitik wird in Art. 67 EGV

   festgelegt, dass in einigen Fällen dann zur qualifizierten Mehrheit übergegangen

   werden kann, wenn die grundlegenden Rechtsakte zuvor einstimmig beschlossen

   worden sind; in noch sensibleren Unterbereichen (Lastenausgleich, Einwanderung und

   Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen) kann erst nach einem späteren einstimmigen

   Beschluss des Rates zu qualifizierten Mehrheitsabstimmungen übergegangen werden.

   Diese Lösung ist mit der von Österreich vertretenen Position faktisch ident.

•  Schließlich wird bei der weiteren Ausdehnung der gemeinsamen Handelspolitik auf

   Dienstleistungen und Handelsaspekte des geistigen Eigentums vertraglich

   festgeschrieben, dass u.a. für horizontale Abkommen unter bestimmten Bedingungen

   weiterhin ein Vetorecht bestehen bleibt. Außerdem werden die Bereiche Investitionen

   und Verkehr nicht in den Artikel einbezogen. Auch hiermit wird den österreichischen

   Hauptanliegen Rechnung getragen.

 

Abstriche mussten hingegen in Bereichen in Kauf genommen werden, in denen Österreich

den Übergang zur qualifizierten Mehrheit zumindest teilweise befürwortet hatte. Dies

betrifft insbesondere die Koordination der sozialen Sicherheitssysteme zur Herstellung der

Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 42 EGV) und Teilbereiche der Steuerpolitik, wie

besonders Umweltsteuern (Art. 93 und Art. 175 EGV). Diese Bereiche bleiben zur Gänze

der Einstimmigkeit unterworfen.

 

Österreich ist dafür eingetreten, die auf dem Gebiet der Gemeinsamen Europäischen

Sicherheits - und Verteidigungspolitik erzielten Fortschritte auch primärrechtlich

festzuschreiben. Ferner hat Österreich die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen an

das Politische und Sicherheitspolitische Komitee befürwortet, damit dieses im Krisenfall

eigenständig Beschlüsse fassen kann. Österreich hat einen diesbezüglichen Vorschlag

der Benelux - Staaten und Italiens zur Anpassung des EU - Vertrages an die GESVP

begrüßt.

 

Der angesprochene Vorschlag der Benelux - Staaten und Italiens hat die weitgehende

Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten gefunden. In Art. 17 EUV wurden alle Hinweise

auf die WEU gestrichen; in Art. 25 wurde das Politische Komitee durch das Politische und

Sicherheitspolitische Komitee (PSK) ersetzt, das vom Rat für die Dauer einer

Krisenmanagement - Operation ermächtigt werden kann, Beschlüsse hinsichtlich der

politischen Kontrolle und strategischen Führung dieser Operation zu fassen.

 

Das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit war bereits im Vertrag von Amsterdam

unter sehr restriktiven Bedingungen angelegt, in der Praxis jedoch noch niemals

angewendet worden. Österreich positionierte sich in der Gruppe jener Mitgliedstaaten, die

einer Erleichterung der Bestimmungen über die verstärkte Zusammenarbeit unter

bestimmten Auflagen zustimmten, um außervertragliche Kooperationen zu verhindern. Zu

diesen Auflagen zählten insbesondere

 

-  die Notwendigkeit einer kritischen Masse von (8) Mitgliedstaaten zur Begründung einer

    verstärkten Zusammenarbeit, und zwar im Hinblick auf alle drei Säulen;

-  der Vorrang der alle Mitgliedstaaten einbeziehenden Gemeinschaftsmethode vor einer

    verstärkten Zusammenarbeit, die immer letztes Mittel bleibt;

-  die zu jeder Zeit bestehende Offenheit des Prozesses für das Aufschließen

    nichtteilnehmender Mitgliedstaaten;

-  die gebotene Berücksichtigung der Verträge, Ziele und des Rechtsbestandes der

    Europäischen Gemeinschaft sowie der Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten der

    nichtteilnehmenden Staaten sowie

-  eine starke Rolle für die Kommission in allen Säulen.

 

Der ER Nizza hat beschlossen, die Bedingungen für die bereits im Vertrag von

Amsterdam geschaffene Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit zu erleichtern. Die

Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat eine derartige Zusammenarbeit verhindern kann,

wurde daher gestrichen und der Anwendungsbereich des Instruments der verstärkten

Zusammenarbeit auch auf die zweite Säule ausgedehnt. In Zukunft wird verstärkte

Zusammenarbeit daher auch im Bereich der Gemeinsamen Außen - und Sicherheitspolitik

(bei der Umsetzung gemeinsamer Aktionen und Standpunkte) möglich sein. Bereiche mit

militärischen Implikationen und der Bereich der Verteidigung bleiben vom

Anwendungsbereich jedoch auch weiterhin ausgespart. Weiters wurde als

Mindestteilnehmerzahl an einer verstärkten Zusammenarbeit die Zahl von acht

Mitgliedstaaten fixiert. Dieses Erfordernis gilt, entgegen den Bestrebungen mancher

Mitglieder, in allen drei Säulen. Ferner konnte sichergestellt werden, dass verstärkte

Zusammenarbeit auch in Zukunft nur als „letztes Mittel“ herangezogen werden darf. Sie

muss die Verträge, Ziele und den Rechtsbestand der Europäischen Gemeinschaft

beachten und muss all jenen offen stehen, die an ihr teilnehmen möchten. Verstärkte

Zusammenarbeit kann somit in unterschiedlicher Zusammensetzung und in

verschiedenen Bereichen stattfinden. Davon ausgenommen sind jedoch die Kernbereiche

der Union wie der Binnenmarkt und die Kohäsion. Das ambitionierte Ziel der Ausweitung

der starken Rolle der Kommission von der ersten auf die anderen beiden Säulen konnte

zwar nicht erreicht werden, das Mitspracherecht der Kommission wurde jedoch auch für

die zweite und dritte Säule sichergestellt.

 

In der Frage der Zukunft der Union (Reformprozess) hat Österreich in Nizza die

Position vertreten, dass in einem Prozess, der 6 - 10 Monate nach Nizza beginnen soll,

folgende Themen behandelt werden sollten:

                - Präzisere Kompetenzabgrenzung zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und

                  den Regionen,

                - Vereinfachung der Verträge,

                  die weitere Behandlung der am ER Nizza proklamierten Grundrechtecharta,

                - die Schaffung einer zweiten, aus Vertretern der nationalen Parlamente

                  gebildeten Kammer des EP,

                - Verbesserung der Außenvertretung der Union.

 

In Nizza haben die Mitgliedstaaten in der „Erklärung zur Zukunft der Union“ vereinbart, für

das Jahr 2004 eine neue Regierungskonferenz einzuberufen. Die im Rahmen dieser

Regierungskonferenz „unter anderem“ zu erörternden Fragen, die nachstehend aufgezählt

werden, entsprechen im wesentlichen der österreichischen Forderungsliste:

                • eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der

                   Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten sowie

                   die Überwachung ihrer Einhaltung;

                • der Status der in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen

                   Union;

                • die Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, sie klarer und verständlicher zu

                   machen, ohne sie inhaltlich zu ändern;

                • die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas.

 

Bereits im Jahr 2001 werden die vorsitzführenden Mitgliedstaaten Schweden und Belgien

in Zusammenarbeit mit der Kommission und dem Europäischen Parlament eine

umfassende Debatte mit allen interessierten Kreisen zu den Themen der

Regierungskonferenz 2004 einleiten. Insbesondere Vertreter aus Politik, Wirtschaft,

Wissenschaft und Zivilgesellschaft sollen in die Vorbereitungen einbezogen werden. Nach

einem ersten Bericht anlässlich des Europäischen Rates in Göteborg (Juni 2001) sollen

bei der Tagung des Europäischen Rates in Laeken im Dezember 2001 die geeigneten

Initiativen für die Fortführung des Diskussionsprozesses festgelegt werden.

 

Zu Frage 4:

Die mit dem Vertrag von Nizza beschlossene Änderung des Primärrechts berührt

sämtliche unter den Fragen 1 - 3 dargestellten Themenbereiche und betrifft insofern alle

Ressorts in ihren Zuständigkeiten.

 

Darüber hinaus berühren die Schlussfolgerungen der Präsidentschaft das BMaA

insbesondere in den folgenden Punkten:

 

Charta der Grundrechte: In seinen Schlussfolgerungen begrüßte der ER Nizza die

gemeinsame Proklamation der Charta, nahm eine möglichst weite Verbreitung der Charta

bei den Unionsbürgern in Aussicht und legte fest, dass die Frage der Tragweite der

Charta im Einklang mit den Schlussfolgerungen vom ER Köln zu einem späteren

Zeitpunkt geprüft werden soll.

 

Erweiterung/Grenzregionen: Der ER von Nizza beschloss auf Grundlage des

Strategiepapiers der Kommission zur Erweiterung eine ,,Wegskizze“ für die

Beitrittsverhandlungen. Die Wegskizze gibt eine Übersicht über die in Aussicht

genommene Behandlung der einzelnen Verhandlungskapitel im Zuge der nächsten 3

Präsidentschaften. Das vorgeschlagene Schema hat lediglich indikativen Charakter.

Österreichischerseits wird die Wegskizze begrüßt: Sie erlaubt eine planende Vorausschau

und ermöglicht die angesichts der Anzahl der Beitrittsbewerber und der Komplexität

einzelner Verhandlungskapitel unumgängliche Schwerpunktsetzung.

 

Auf Österreichs Initiative forderte der ER die Kommission auf, ein Programm für die

wirtschaftliche Wettbewerbsförderung der Grenzregionen zu erstellen. Dies würde eine

weitere Unterstützung für österreichische Regionen an der MOEL - Grenze im Rahmen von

EU - Programmen ermöglichen, wodurch allfällige negative Folgen der Erweiterung für die

Menschen der an den Grenzen zu den Beitrittskandidaten liegenden Gebiete abgefedert

werden können.

 

Gemeinsame Europäische Sicherheits - und Verteidigungspolitik: Gemäß den

Beschlüssen des ER von Nizza zur Gemeinsamen Europäischen Sicherheits - und

Verteidigungspolitik (GESVP) hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK)

nunmehr permanenten Charakter erhalten. Das PSK befasst sich mit allen relevanten und

aktuellen Themen der GASP (Gemeinsame Außen - und Sicherheitspolitik) und soll in

Zukunft das zentrale Gremium des Rates zur Reaktion auf Krisensituationen sein. Es wird

dabei von der im Ratssekretariat eingerichteten Planungseinheit (Policy Unit) unterstützt.

Das PSK tagt zweimal wöchentlich sowie ad hoc nach Bedarf in Brüssel und übernimmt

damit vor Ort die Aufgaben des Politischen Komitees (POKO).

 

Im Rahmen der Aussenbeziehungen bekräftigte der Europäische Rat zu den Themen

Westlicher Balkan, Naher Osten und Zypern die bisherige Linie der Gemeinsamen

Aussen - und Sicherheitspolitik, an der Österreich als EU - Mitglied mitwirkt.

 

Mittelmeerraum: Die Schlussfolgerungen betreffend die Euro - mediterrane Partnerschaft

(IV. Europa - Mittelmeer - Konferenz von Marseille, MEDA - Programm, EIB - Finanzierungs -

volumen) bekräftigen die in diesem Bereich bereits erfolgten Beschlüsse.

 

Entwicklungszusammenarbeit: Der Europäische Rat begrüßte die Annahme der

Erklärung des Rates der Entwicklungsminister und der Kommission vom 10.11.2000 zur

Entwicklungspolitik der Gemeinschaft sowie die Annahme einer Entschließung zu den

übertragbaren Krankheiten und zur Armut, mit der ein globaler Ansatz zur Bekämpfung

von HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria festgelegt wird, die für die Entwicklungsländer

eine schwerwiegende Bedrohung darstellen.

 

Zu Fragen 5 - 7:

Wie sich aus Artikel 4 des Vertrags über die Europäische Union ergibt, ist der

Europäische Rat in erster Linie als politisches Steuerungsorgan konzipiert, das zwar über

eine grundlegende politische Richtlinienkompetenz verfügt, von wenigen Ausnahmen (vgl.

Art. 13 Abs. 2 EUV, Art. 17 Abs. 1 EUV) abgesehen aber nicht zum Erlass verbindlicher

Rechtsakte befugt ist. Für die Mitgliedstaaten ergeben sich aus den Beschlüssen des

Europäischen Rates daher keinerlei unmittelbar wirksame Umsetzungsverpflichtungen,

und auch die Gemeinschaftsorgane, denen die Umsetzung der Schlussfolgerungen in

erster Linie obliegt, werden durch sie im Sinne des Kohärenzgebotes nur in politischer,

nicht jedoch in rechtlicher Hinsicht gebunden. Die Frage der Ergreifung - nationaler -

legislativer Maßnahmen zur unmittelbaren Umsetzung der Schlussfolgerungen des

Vorsitzes des Europäischen Rates stellt sich daher so nicht.

 

Zu Frage 8:

Die Agenda des Europäischen Rates in Stockholm am 23./24. März 2001 ist weitgehend

von den Beschlüssen am Europäischen Rat in Lissabon am 23./24. März 2000 bestimmt.

In Lissabon wurde das strategische Globalziel beschlossen, „die Union zum

wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt

zu machen - einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum

mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu

erzielen.“

 

Der ER Lissabon hat weiters beschlossen, dass der Europäische Rat eine stärkere

Leitungs - und Koordinierungsfunktion wahrnehmen soll, die eine kohärentere strategische

Leitung und eine effektive Überwachung der Fortschritte gewährleisten soll. In diesem

Sinne findet im Frühjahr jährlich eine Tagung des ER zu wirtschafts - und sozialpolitischen

Fragen statt, bei der die entsprechenden Mandate festgelegt und Sorge dafür getragen

wird, dass entsprechende Folgemaßnahmen zur Umsetzung der Lissabonner Strategie

ergriffen werden.

 

Aus heutiger Sicht werden beim ER die folgenden Anliegen im Zusammenhang mit

der Umsetzung der Globalstrategie vertreten werden:

 

Österreich begrüßt und unterstützt den Zugang der schwedischen Präsidentschaft in der

Vorbereitung des Europäischen Rates in Stockholm, der darauf ausgerichtet ist, ein

effizientes und ambitioniertes Follow - up der Lissabonner Strategie sicherzustellen.

Wichtige Prämissen für die Arbeit des Europäischen Rates in Stockholm sind aus

österreichischer Perspektive:

                - Die Ausgewogenheit in der Weiterentwicklung der Gesamtstrategie in Bezug auf

                  die vier Eckpfeiler Beschäftigung, Innovation, wirtschaftliche Reformen und soziale

                  Kohäsion.

                - Kontinuität durch Evaluierung der bisherigen Umsetzung der Gesamtstrategie

                  und neue Impulse in der Umsetzung durch verstärkte Prioritätensetzung und

                  ambitionierte, realistische Zeitpläne.

                - Die von der schwedischen Präsidentschaft gewählte demographische

                  Entwicklung als thematischer Fokus beleuchtet gezielt die großen

                  Herausforderungen für die wirtschafts - und sozialpolitische Gestaltung der

                  europäischen Zukunft und stellt somit einen guten Ausgangspunkt der

                  Diskussionen dar.

 

Zu Frage 9:

Durch den Abschluss der Regierungskonferenz in Nizza werden die Institutionen zum

ersten Mal seit der Gründung der Union in größerem Ausmaß angepasst. In Nizza ist es

dabei gelungen, eine für alle Mitglieder akzeptable Lösung für jene Fragen zu erreichen,

über die sich die Mitgliedstaaten einige Jahre zuvor in Amsterdam noch nicht einigen

konnten. Österreich hätte dabei in manchen Bereichen weitergehendere Vertragsreformen

bevorzugt. Es ist jedoch nicht angebracht, die Bedeutung des letztendlich gefundenen

Kompromisses in Zweifel zu ziehen. Vielmehr muß bei einer Beurteilung der Ergebnisse

im Vordergrund stehen dass die Union mit dem Abschluss des Vertrages von Nizza das

entscheidende Ziel - die notwendigen institutionellen Voraussetzungen für die

Erweiterung zu schaffen - erreicht hat. Sie ist durch den Vertragsabschluss nach erfolgter

Ratifikation in den Mitgliedstaaten ab 2003 erweiterungsfähig. Dabei ist es in Nizza

gelungen, die relative Stellung der kleineren und mittleren Mitgliedstaaten im Gefüge der

Union auch in einer künftig erweiterten Union zu wahren. Zudem wird mit der

Weiterentwicklung des Artikels 7 der Schutz der Grundrechte, der Demokratie und der

Rechtsstaatlichkeit in der Union gestärkt.