7828/J XXIV. GP

Eingelangt am 02.03.2011
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ANFRAGE

 

 

der Abgeordneten Grünewald, Windbüchler-Souschill, Freundinnen und Freunde

 

an den Bundesminister für Gesundheit

 

betreffend Mangelversorgung von Kinder- und Jugend mit notwendigen Therapien

 

 

Um das Problem der fehlenden Kinder- und Jugendtherapien in Österreich erstmals zu quantifizieren, haben wir im April 2010 an Herrn Bundesminister Stöger eine Parlamentarische Anfrage (5078/J XXIV. GP) gestellt. Die Antwort (4979/AB XXXIV.GP) in Form von Einzelstellungnahmen der meisten Krankenversicherungen (KV) zeigt das Problem in einer Dimension, die im internationalen Vergleich als beschämend bezeichnet werden muss. Fazit: Die Finanzierung von dringend notwendigen Therapien  ist  für viele Familien nicht leistbar, viele Kinder bekommen  daher keine, keine rechtzeitige oder ausreichende Therapie. Tatsache ist aber: Viele Entwicklungsdefizite, wie beispielsweise das Sprachverständnis, chronifizieren, wenn sie nicht rechtzeitig erkannt  und behandelt werden. Darüber hinaus benötigten viele PatientInnen Mehrfachtherapien, was die Situation noch weiter verschärft. Die Folgen der Unter- oder Fehlversorgung tragen neben den Betroffenen im Sinne verminderter Lebenschancen und Lebensqualität auch deren Angehörige. Diese dokumentierten Defizite lösen zudem beträchtliche, aber vermeidbare Folgekosten durch die Chronifizierung  von Erkrankungen, Schwierigkeiten in Schule und Arbeitsmärkten, Krankheitsprogression, Arbeitslosigkeit, Pflegefälle, Krankenstände und Fehlzeiten, Burn - Out der Eltern, etc. aus, die letztlich zu Lasten sowohl der Gesellschaft als auch unseres Gesundheitssystems gehen. Diese Kosten sind um ein Vielfaches höher als jene, die durch den Ausbau der Angebote entstehen würden.

 

Um dies zu  verhindern, müssen umgehend eine umfassende Erhebung des Status quo, die flächendeckende Therapie  auf Krankenschein für Kinder und Jugendliche im Bereich ärztlicher Handlungen oder ihnen gleichgestellter Therapien umgesetzt werden. Dazu sind verbindliche Stufenpläne für die rasche Beseitigung der Versorgungsdefizite zu entwickeln. Eine Vermehrung der ambulanten, interdisziplinären Therapieplätze ist dabei unumgänglich.

 

Ökonomische Langzeitevaluationen von Therapieprogrammen ergaben, dass es hohe „Returns on Investement“ gibt[1] und speziell die frühe  Investition in die Förderung von sozial benachteiligten Kindern  gesundheitsökonomisch sinnvoller ist als spätere Maßnahmen.[2]

 

In einer Pressekonferenz[3] im Oktober 2010 haben wir die Öffentlichkeit auf die  gravierenden Versorgungsmängel bei Therapien für Kinder und Jugendliche aufmerksam gemacht. Ob Psycho-, Ergo-, Physiotherapie oder Logopädie: Es gibt in Österreich eine Zwei-Klassen-Medizin "von der Wiege an", mindestens zehn bis 15 Prozent der österreichischen Kinder und Jugendlichen würden im Laufe ihrer Entwicklung eine derartige Behandlung benötigen. Sie und Ihre Eltern müssen aber bis zu 24 Monate auf einen kassenfinanzierten Therapieplatz warten, was vor allem wegen der sehr engen Zeitfenster in der kindlichen Entwicklung fatal ist.

 

Ein weiterer Aufschub von substanziellen Verbesserungen in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit den laut ASVG der ärztlichen Behandlung gleichgestellten Therapien ist nach diesen Erkenntnissen fahrlässig.

 

Erstmals wurde der Grad der Unterversorgung nun von ExpertInnen[4] errechnet: Jährlich erhalten etwa 40.000 bis 80.000 Kinder und Jugendliche nicht die für sie notwendigen Therapien. Nur eine rasche Einführung von Kostenfreiheit für diese Therapien kann weiteren Schaden für die Betroffenen und das Gemeinwohl verhindern. Die Förderung eines gesunden Aufwachsens, die Nutzung der Präventionspotentiale und ein ausreichendes kostenfreies Angebot an Therapien im Kindes- und Jugendalter sind Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung und müssen ein Schwerpunkt des Gesundheitsressorts werden. Befremdend war, dass einzelne Kassen keine ausreichende Informationen lieferten bzw. sogar argumentierten sie hätten keine diesbezüglichen Daten.

 

In Deutschland werden nicht nur einige Therapien (Ergotherapie,  Logopädie  und  Physiotherapie) bis zum Alter von 18 Jahren bei ärztlicher Verordnung ohne „Zuzahlung“ bei niedergelassenen TherapeutInnen ausreichend angeboten, ein kleinerer Teil erhält diese Therapien, ebenfalls ohne Selbstkosten, in Sozialpädiatrischen Zentren oder bis zum Alter von sechs Jahren im Rahmen von  Frühförderstellen. Die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKVs, Pflichtversicherungen) in Deutschland geben für Kinder pro Kopf in Summe sechsmal bis zehnmal so viel aus wie die österreichischen GKKs. Als weiteres Beispiel wenden in unserem Nachbarland die Pflichtversicherungen für Psychotherapie pro Versichertem ca. dreimal so viel auf wie in Österreich. Psychotherapie bei Kinder  und Jugendlichen ist den Versicherungen in Österreich noch weniger wert.

 

Es ist erschreckend, dass unsere Anfrage vom April 2010 erstmals einen Überblick über die wirklichen Defizite geliefert hat, und die regionalen Unterschiede klar hervortraten.

 

Im Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode wurde (auf Seite 193) der Auf-und Ausbau von Gesundheitsökonomie und Public Health an Universitäten vereinbart. Die Etablierung einer Nationalen „School of Public Health“ die aus einzelnen Schwerpunktzentren bestehen könnte, würde eine hervorragende Möglichkeit bieten, auch den Fachbereich von „Child Public Health“  hochrangig in Forschung und Lehre zu etablieren.

 

Ein gutes Beispiel in Deutschland ist  ein Forschungszentrum „Child Public Health“,  des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf[5]. Aufgaben und Ziele des breit vernetzten und nicht nur bundesweit, sondern auch international kooperierenden Zentrums (Kooperationen neben Bundesagenturen und Ministerien in Deutschland auch  mit dem NIH – National Institutes of Health und der WHO – World Health Organization) sind, erfolgreiche Präventionskonzepte zu entwickeln und umzusetzen. Genaue Kenntnis der gesundheitlichen Situation Heranwachsender und ihrer gesundheitsrelevanten Rahmenbedingungen sind dafür allerdings Voraussetzung.

 

Ein weiteres gelungenes Beispiel ist Schweden, in dem  es seit 1953 ein Nationales Public Health - Institut gibt und die Forschungsrichtung „Child Public Health“ seit 2003 systematisch etabliert ist. Nicht zufällig liegt Schweden in den Unicef – und OECD-Studien zur Gesundheit an erster Stelle.

 

Auch in Österreich muss sich endlich eine universitäre Forschungseinrichtung systematisch und strukturiert mit allen Themen der Kindergesundheit und der medizinischen Versorgung von Kindern auseinander setzen und diese gezielt und  auf wissenschaftlichem Niveau aufarbeiten. Auch fehlen nach wie vor evidenzbasierte Präventionsstrategien in Österreich, und eine (auch im Regierungsprogramm genannte) gerade bei der Versorgung von Kindern so wesentliche sektorenübergreifende Planung und Steuerung im Gesundheitswesen.

 

Es zeigt sich: Andere Länder haben die Bedeutung der Gesundheit unserer Jungen erkannt. Es wäre hoch an der Zeit, durch bundesweite Regelungen für alle Kinder und Jugendliche in Österreich Voraussetzungen zu schaffen, dass Ihre Entwicklungsmöglichkeiten nicht vom Wohnort und dem Familieneinkommen abhängen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgende

 

 

ANFRAGE:

 

 

1.    Die Anfragebeantwortung (4979/AB XXXIV.GP) belegt die krassen Unterschiede bei der Versorgung in einzelnen Bundesländern. Wie planen Sie, diese föderalen Ungleichheiten zu beseitigen?

 

2.    Die Finanzierung von Therapien ist für viele Familien nicht leistbar. Die hohen Selbstkosten führen dazu, dass vielen Kindern und Jugendlichen die dringend notwendige Unterstützung vorenthalten wird. Die Folgekosten für die Gesellschaft sind ein Vielfaches. Wie gedenken Sie, mit diesem Wissen umzugehen?

 

3.    Psychotherapie ist in Österreich, im Gegensatz zu Deutschland, keine generelle Kassenleistung. Gerade Kinder und Jugendliche rangieren im untersten Versorgungsbereich. Was gedenken Sie, dagegen zu unternehmen?

 

4.    In Wien bestehen für einzelne kostenfreie Therapieplätze Wartezeiten von bis zu zwei Jahren, in NÖ waren nur in einem von mehreren Ambulatorien im Oktober 2010 fast 800 Kinder auf der Warteliste für eine Therapie[6]. Was gedenken Sie, dagegen zu unternehmen?

 

5.    Die Etablierung einer universitären „Child Public Health“ Forschungseinrichtung wäre dringend notwendig, um strukturiert und systematisch die Probleme aufarbeiten zu können. Im aktuellen Regierungsprogramm steht der Auf- und Ausbau von „Public Health“ Vorhaben an Universitäten und tertiären Bildungseinrichtungen unter „insbesonders notwendige Maßnahme“. Wann planen Sie, dieses Vorhaben mit Ihrer Kollegin im Wissenschaftsressort zu besprechen? Wann wird es frühest möglich umgesetzt werden?

 

6.    Die teilweise lückenhafte Beantwortung einzelner Krankenversicherungen (4979/AB XXXIV.GP) ist nahezu peinlich. Was gedenken Sie im Sinne von Qualitätsmanagement dafür zu unternehmen, dass die Kassen in den einzelnen Ländern nach gleichen Vorgaben Daten sammeln?

 

7.    Österreich gibt wenig Geld für Kindergesundheit und chronisch kranke Kinder aus. Gibt es Vorhersagen für Österreich,  welche Kosten im Laufe des Lebens durch die mangelnde Versorgung in jungen Jahren entstehen?

 

8.    2009 erhielten 5000 – 10000 der bei der WGKK versicherten Kinder keine logopädische Therapie und ca. 3000 – 7000 Kinder keine Ergotherapie. Was werden Sie unternehmen, dass dies in Zukunft nicht mehr passiert?

 

9.    Wie stehen Sie dazu, interdisziplinäre, ambulante Therapieangebote auszuweiten und die Kooperation unterschiedlichster Gesundheitsberufe zu verbessern?

 

10. Die Mängel im Bereich der Rehabilitation sind evident. Wie und wann sollen diese Mängel behoben werden.

 

11. Wann gedenken sie auf die Problematik der seltenen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen durch die planvolle Etablierung von Kompetenzzentren und entsprechende internationale Vernetzung zu reagieren?

 

12. Wann wird Österreich ein Österreichisches Netzwerk für sichere Arzneimittel und Therapien im Kindes und Jugendalter etabliert haben?  (entsprechend: EU Paediatric Regulation 1901/2006)

 

13. Welche bedarfsorientierten neuen Versorgungsangebote im ambulanten Bereich wurden bisher, wie im „Schwerpunkt Kinder/Jugendgesundheit vereinbart (Regierungsprogramm S 190), für Kinder und Jugendliche geschaffen? Bitte um eine Auflistung

 

14. Welche weiteren Maßnahmen im Schwerpunkt Kinder/Jugendgesundheit wurden bisher umgesetzt? Bitte um Auflistung nach Art des Angebots und Bundesland.

 

15. Welche Maßnahmen wurden zur besseren Versorgung (regional, Tagesrandzeiten, Sonn- und Feiertage) im Bereich Kinder- und Jugendheilkunde gesetzt? Bitte um Auflistung nach Art des Angebots und Bundesland.

 

16. Wie weit ist die Gesundheitsstrategie für erwerbstätige Jugendliche entwickelt und evidenzbasiert?

 

17. Welche Maßnahmen wurden in Österreich bisher gesetzt, um gesundheitliche Ungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen zu beseitigen? Bitte um Auflistung nach Maßnahmen und Bundesland.

 

 



[1] Public Health Newsletter 3/2010; Pammer C, Chancen von Gesundheitsförderung und Prävention in der frühen Kindheit (ÖGPH)

 

[2] Unicef  Report Card 9 (2010); Adamson P The children left behind - A league table of inequality in child well-being in the world´s rich countries.

 

[3] APA0376 5 CI 0408 II Do, 28.Okt 2010: Grüne kritisieren "Zwei-Klassen-Medizin" bei Kindertherapien

 

[4] Rudolf Püspök et al., Pädiatrie und Pädologie Heft 1/2011 Springer Verlag, in Druck

[5] http://www.child-public-health.de/

[6] S. Gobara, Pressekonferenz vom 28.10.201, www.polkm.org