11475/J XXV. GP

Eingelangt am 25.01.2017
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

ANFRAGE

 

der Abgeordneten Ing. Dietrich

Kolleginnen und Kollegen

an den Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

betreffendStudie zur Analyse des Sozialversicherungssystems

 

Gemäß Bericht der Austria Presse Agentur vom Montag, dem 19. Dezember 2016, hat Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) „die schon im Sommer vom Ministerrat beschlossene Studie zur Analyse des Sozialversicherungssystems in Auftrag gegeben. Betraut wurde damit die renommierte "London School of Economics". Das Ergebnis soll Mitte 2017 vorliegen. Ziel ist es, Effizienzpotenziale zu heben und Themen sollen u.a. eine Harmonisierung der Leistungen und die Systemgestaltung sein.

 

Wer sich mit einer Analyse der Effizienz des österreichischen Sozialversicherungssystems beschäftigen möchte, braucht jedoch in Wahrheit keine Studien zu bemühen. Seit Jahrzehnten ist evident, dass hier Handlungsbedarf besteht. Der 2015 veröffentlichte Bericht des Rechnungshofes zeigt den massiven Reformbedarf des Sozialversicherungssystems aktuell erneut auf, und das Nichtfunktionieren der Transparenzdatenbank steht ebenfalls seit langem in der Kritik des Rechnungshofes, um nur zwei Beispiele zu nennen.

 

Besonders gut auf den Punkt brachte es aber bereits im Jahr 2009 die „Neue Zürcher Zeitung“ mit ihrem Beitrag „Österreichs Sozialsystem als Fass ohne Boden“ von Matthäus Kattinger:

 

„Österreichs Sozialsystem, eines der umfassendsten in der EU, stößt vor allem wegen der geringen Effizienz an Finanzierungsgrenzen. Statt ordnungspolitische Schwächen zu beseitigen, geht es der Politik jedoch vorrangig darum, jederzeit in das System eingreifen zu können. Als Jean-Baptiste Say sein Theorem vorstellte, wonach sich jedes Angebot seine Nachfrage suche, hat er sicherlich nicht an das Sozialsystem gedacht; doch mittlerweile ist der Sozialstaat ein Paradebeispiel für die Wirksamkeit des Sayschen Gesetzes. In Österreich werden bereits 28,5% der jährlichen Wertschöpfung für Sozial- und Gesundheitsleistungen ausgegeben, trotzdem droht das System an den Ansprüchen zu kollabieren. Die Sozialquote liegt einen Prozentpunkt über dem Schnitt der EU-27; höher ist sie nur in Schweden, Frankreich, Dänemark, Belgien und Deutschland. Besonders hoch sind die Ausgaben für Familien, die einen Drittel über dem EU-Schnitt liegen (10,7% der Sozialausgaben). Gemessen an der Reproduktionsrate ist die österreichische Familienpolitik allerdings ein teurer Misserfolg. Finanziert wird das Sozialsystem in Österreich zu 33,1% (EU-27: 37,6%) durch Staatszuschüsse, zu 37,9% (EU: 38,3%) von Beiträgen der Arbeitgeber, zu 27,4% (EU: 20,8%) von den Arbeitnehmern und zu 1,6% (3,3%) aus sonstigen Einnahmen.

 

Inzwischen sind alle drei wichtigen Quellen der Finanzierung völlig ausgereizt. Obwohl der Rechnungshof seit Jahren auf Steigerung der Effizienz des Sozialsystems dringt, kreist die politische Phantasie bloß um zusätzliche Formen der Finanzierung. Der vom bisherigen Präsidenten des Gewerkschaftsbunds und nunmehrigen Sozialminister Rudolf Hundstorfer vorgelegte «Sozialbericht 2007/08» nennt drei mögliche Stoßrichtungen. Vorrang hat die Anhebung der sogenannten Höchst-Beitragsgrundlage, also jener Einkommensgrenze, bei der die Sozialversicherungsbeiträge ihren Höchstwert erreichen. Für unselbständig Beschäftigte sind das derzeit 4020 € – allerdings nur für Arbeitgeber. Eine gleichzeitige Anhebung bei den Arbeitnehmern wäre kontraproduktiv, würden doch damit auch die Pensionsansprüche steigen.

 

Der zweite Denkansatz ist eine Wertschöpfungsabgabe, mit der die einseitige Belastung des Faktors Arbeit reduziert und über die Zurückdrängung der Schattenwirtschaft die Beschäftigung gesteigert werden soll. Die Nachteile dabei: die Umverteilung der Abgabenlast nach Branchen und die Doppelbelastung von Selbständigen. So müssten Energiewirtschaft, Bergbau, Kredit- und Versicherungswesen sowie der Immobiliensektor mit deutlich höheren Sozialabgaben rechnen, dagegen würden arbeitsintensive Branchen (Bau, Dienstleistungen) entlastet. Ein dritter Weg wäre die Ausweitung des Staatsanteils über höhere Verbrauchs- und Vermögenssteuern.

 

Dem 288 Seiten langen Sozialbericht keine Zeile wert ist das Thema Treffsicherheit – selbst wenn Treffsicherheit nicht in der engsten Form interpretiert wird, wonach Sozialleistungen ausschließlich an Arme verteilt werden. So ist etwa der Anspruch auf Pflege- oder Kindergeld unabhängig vom Einkommen. Die Sprecherin von Minister Hundstorfer, Gisela Kirchler-Lidy, zieht sich auf Anfrage auf die Interpretation zurück, dass mit dem Kapitel «Wirksamkeit sozialstaatlicher Interventionen» Treffsicherheit «treffend» umschrieben sei. Staatliche Transfers wären überwiegend Versicherungsleistungen, für die Beiträge entrichtet wurden. In armutsgefährdeten Haushalten kämen 60% des Einkommens aus Sozialleistungen und Pensionen, bei Langzeitarbeitslosen machen demnach die Sozialleistungen 57% des Einkommens aus.

 

So eindrucksvoll die Zahlen auch sind, so sagt die «Wirksamkeit» nichts darüber aus, ob die Anreize richtig gesetzt sind, ob die Bedingungen zum Missbrauch anleiten, ob dieser verfolgt wird, ob unbeabsichtigte Kumulierungen von Leistungen möglich sind. Aber da stellt sich Österreich solidarisch taub. Das weiß man spätestens, seit Wolfgang Mazal, international arrivierter Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien, im Jahr 2000 im Auftrag der Mitte-Rechts-Regierung die Treffsicherheit des Sozialsystems untersuchte. Der Bericht konstatierte eine gesamthaft viel zu geringe Treffsicherheit; Mazal erklärte damals, dass nicht bloß die von der Politik geforderten fünf, sondern «zig Milliarden (Schilling)» eingespart werden könnten. Der politisch nicht opportune Bericht, obwohl dieser auch Beispiele von Unterversorgung aufzeigte, verschwand in den Akten, die Treffsicherheit aber verschlechterte sich weiter. Eindrücklich zeigen das die Missstände bei der Invaliditätsrente und die Schwerarbeiterregelung.

 

Nach dem noch von Mitte-Rechts beschlossenen Auslaufen der Frühpension wurde die Invaliditätsrente zum beliebten Schlupfloch für den vorzeitigen Ruhestand. Invalidität ist heute der «Normalfall» des Pensionsantritts – sehr zum Ärger auch der EU-Kommission. Bei der Überprüfung der Lissabon-Ziele gab es deshalb den Rüffel, Wien möge rasch die Bedingungen für vorzeitige Alterspensionen verschärfen. Ähnlich pervertiert wurde der Sinn der sogenannten Hackler-Regelung. Diese Option für Schwerarbeiter, nach 45 Jahren Berufstätigkeit (für Frauen 40 Jahre) ohne Abschläge vorzeitig in Rente zu gehen, wird heute vorwiegend von Büropersonal oder öffentlich Bediensteten genutzt. Beschäftigte der Gemeinde Wien gehen im Schnitt mit 57 in Pension, jene der Bundesbahnen gar mit 52,5 Jahren – des Österreichers Menschenrecht auf Frühpension.

 

Schlimmer noch: Heute regen sich Öffentlichkeit und Politiker darüber auf, wenn die Sozialbürokratie die Bedingungen für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen überprüft und Vergehen sanktioniert wie bei dem 2002 eingeführten Zuschuss zum Kindergeld von 180 € je Kind und Monat, der daran gebunden war, dass eine bestimmte Einkommensgrenze (damals 14 600 €) nicht überschritten werden durfte. Als die Verwaltung nun etliche Nachforderungen stellte, kochte die Volksseele – aber nicht mit jenen 90%, die sich regelkonform verhielten, sondern mit jenen, die die Grenzen missachteten und deshalb nachzahlen müssen. Laut dem Sozialrechtsexperten Mazal ist die Erkennbarkeit der Bestandteile des Sozialsystems verloren gegangen, gibt es riesige ordnungspolitischen Defizite. Ein ordnungspolitisch konsistentes Sozialsystem, in dem Zuständigkeiten, Pflichten und Leistungen klar definiert (und exekutiert) werden, widerspricht aber der Denkungsart der Politiker, wären ihnen damit alle diskretionären Eingriffe genommen. Eine Horrorvorstellung für Wiens Politikerkaste, wie sich jüngst beim Streit über die Pensionsautomatik – den noch unter Kanzler Schüssel in die Pensionsreform eingebauten Nachhaltigkeitsfaktor – zeigte. Demnach hätte im Falle der Gefährdung der Nachhaltigkeit des Pensionssystems automatisch ein Bündel von Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssen. Diese Automatik aber brachte der amtierende Kanzler Faymann mit der Polemik zu Fall, dass es unmenschlich sei, einen «seelenlosen Computer» entscheiden zu lassen. Die größte ordnungspolitische Fehlentwicklung des Sozialsystems besteht aber darin, dass die Sozialpartner in der großen Koalition nicht mehr nur Lobbyisten ihrer Klientel sind, sondern auf Einladung der Regierungsparteien die Gesetze gleich selbst ausbrüten. Für Mazal ein klarer Verstoß gegen die Gewaltentrennung. Doch juristische Spitzfindigkeiten prallen an den Österreichern ab, sie halten es mit Sozialminister Hundstorfer und dessen populärer, aber bezogen auf die Finanzierbarkeit extrem fahrlässiger Parole, «keine soziale Kälte einziehen zu lassen»“.

 

Die unterfertigten Abgeordneten richten daher an den Herrn Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz nachstehende

 

 

Anfrage

 

 

1.    Sind Ihnen Rechnungshofberichte, Studien und Analysen, welche die Effizienz des österreichischen Sozialversicherungssystems in Frage stellen, bekannt, wenn ja, welche, wenn nein warum nicht?

 

2.    Warum hat Ihr Ressort in den letzten 10 Jahren verabsäumt, das Sozialversicherungssystem weiter an die tatsächlichen Erfordernisse anzupassen?

 

3.    Haben Sie vor, die bereits vorliegenden Empfehlungen des Rechnungshofes umzusetzen, wenn ja, bis wann, wenn nein, warum nicht?

 

4.    Welche konkreten Forderungen zur Analyse werden Sie an die Studienautoren stellen, um die Effizienz und Treffsicherheit des Sozialsystems zu überprüfen?

 

5.    Welche konkreten Forderungen zur Analyse werden Sie an die Studienautoren stellen, um die Finanzierung – ohne eine zusätzliche Belastung der das System bereits finanzierenden arbeitenden Bevölkerung und Unternehmer - sicherzustellen?

 

6.    Welche konkreten Forderungen zur Analyse werden Sie an die Studienautoren stellen, um sich mit den bestehenden Berichten des Rechnungshofes auseinanderzusetzen?

 

7.    Welche konkreten Forderungen zur Analyse werden Sie an die Studienautoren stellen, um einen Vorschlag für ein vollkommen neues, nicht im Prinzip der Zwangs-Umverteilung für alle wurzelndes Sozialversicherungssystem vorzuschlagen?