10.31

Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola: Vielen Dank, Herr Nationalratspräsident! Sehr verehrte Mitglieder des Parlaments! Meine Damen und Herren! Es ist mir eine große Freude, wieder hier in Österreich, im magi­schen Wien zu sein. Es ist mir eine Ehre und ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, hier vor dem Nationalrat zu sprechen. Es ist wunderbar, als Vertreterin des Europäischen Parlaments hier zu sein. Hier hat ja die Renovierung dieses wunderschöne Gebäude zu einem offeneren Raum, einem nachhaltigeren und zugänglicheren Leuchtturm der Demokratie gemacht.

In diesem Sinne der Veränderung, der Erneuerung, der Modernisierung, die hier symbolisiert wird, möchte auch ich Sie ansprechen. Wir können uns verändern, wir können uns erneuern, und wir können das tun, während wir die Grundlagen des europäischen Projekts stärken. Die Nostalgie kann wie eine gemütliche Decke sein, aber sie darf nicht die Triebkraft für Politik sein. Wir müssen zukunftsorientiert bleiben, und wir müssen vorausschauend sein; wir müssen verstehen, dass wir heute Entscheidungen treffen müssen, um die Herausforde­rungen von morgen zu bewältigen. Wir müssen das auf nachhaltige Weise tun, um nicht mehr Probleme für die Generationen, die uns folgen, anzuhäufen. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS.)

Wir befinden uns in einer Ära der vielfachen Krisen: der Angriff auf unseren Kontinent durch die illegale Invasion Russlands in die souveräne Ukraine; hohe Energiekosten, Preiserhöhungen; viele Menschen tun sich schwer, mit ihrem Geld auszukommen; die Rohstoffe werden reduziert; die Inflation ist eine Herausforderung, ein Problem für das Wachstum. Der Klimawandel kann nicht mehr ignoriert werden. Es gibt Herausforderungen im Bereich der Migration, wo es einen ganzheitlichen europäischen Ansatz braucht. Und die Erholung der Wirtschaft nach der Pandemie ist noch immer auf sehr schwachen Beinen. Aber nicht die Herausforderungen werden unsere Ära, unsere Zeit definieren, sondern unsere gemeinsame Antwort darauf.

Ich bin stolz darauf, wie Europa aufgestanden ist und wie es weiterhin zusam­men­steht. Diese Herausforderungen betreffen Österreich genauso wie den Rest der Europäischen Union. Es liegt an uns, dass wir hier Führungsstärke zeigen. Wichtig für unsere Antwort waren unsere Einheit, unsere Einigkeit, unser Verständnis, dass wir diese Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir gemeinsam handeln.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist eine existenzielle Bedrohung für unsere Union, für unsere Lebensweise. Unsere Reaktion darauf muss angemes­sen und überlegt sein. Diese brutale Invasion ist die Linie, die nicht überschritten werden darf. Jede Generation hat solch einen Schicksalspunkt, das ist unserer. Wir wissen, worum es geht, wie viel auf dem Spiel steht; wir wissen, dass unsere Werte, unsere Sicherheit wichtig sind, dass wir Entscheidungen treffen müssen. Das, was in der Ukraine passiert, wird die globalen Beziehungen auf Jahre hinaus bestimmen.

Ich bin keine Absolutistin, aber für Europa ist es das, was wir seit Generationen als Versprechen hochhalten, dafür stehen wir: Wir stehen für Gerechtigkeit, wir stehen für Freiheit, für Rechtsstaatlichkeit – auch wenn es schwierig ist, diese hochzuhalten, besonders, wenn es schwierig ist. Denn wenn wir nicht für diese Werte einstehen, dann ist alles, wofür wir gekämpft haben, alles, was wir versprochen haben, alles, was wir geerbt haben, in Gefahr und kann zusammen­brechen. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS.)

Wir müssen beständig unsere Unterstützung leisten – das wird nicht leicht, aber es ist nötig. Das bedeutet, dass wir unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik überdenken müssen. Die Debatte über strategische Autonomie wurde zum wichtigsten Tagesordnungspunkt, auch unsere Reaktion auf die digitale Wende und die grüne Wende wird davon mitbestimmt – und das wird weiterhin der Fall sein.

Die grüne Wende können wir nur schaffen, wenn wir den richtigen Rahmen für nachhaltiges, umweltfreundliches Wachstum haben – so begleichen wir unsere Schuld, so gehen wir das generationenübergreifende Problem der Armut an, das wir in unseren Gesellschaften sehen, so geben wir jungen Menschen auch Hoffnung.

Wie können wir das tun, während wir unsere ehrgeizigen Klimaziele erreichen? Denn da geht es nicht nur um die grüne Wende, sondern es geht um nach­haltiges Wachstum, um Sicherheit, darum, sicherzustellen, dass die Menschen mit ihren Einkommen besser auskommen. Es geht um die Zukunftssicherheit unserer Wirtschaft und darum, dass wir dieses europäische Projekt stärker machen, als wir es vorgefunden haben. Wir müssen die sozialen und wirtschaft­lichen Auswirkungen dieser Entscheidungen auch abfedern können. Wir müssen besser erklären, warum wir tun, was wir tun, wie wir es tun und warum es wichtig ist. Wir müssen mehr zuhören, wir müssen unseren Landwirten, dem Landwirtschaftssektor im Besonderen besser zuhören. (Beifall bei ÖVP und Grünen.)

Wie jemand vor Kurzem zu mir gemeint hat: Es gibt eine unsichtbare Linie, über die man die Menschen nicht drängen kann. Die Menschen müssen Vertrauen in den Prozess haben, und sie müssen es sich auch leisten können, sonst wird es kein Erfolg. Das ist ein Beispiel des Europas der Erneuerung, von dem ich gesprochen habe. Wir möchten wieder den Gedanken der Zielsetzung Europas, des Enthusiasmus für Europa einfangen, ein Europa für alle, wo wir uns alle wohlfühlen, wo wir alle leben können.

Österreich und dieses Parlament haben ausgezeichnete Arbeit zum Beispiel in der Bekämpfung des Antisemitismus geleistet, haben dieses Thema auf die europäische Ebene gehoben und als Vorbild für uns alle gedient. – Danke, Herr Präsident, für Ihre Initiative, Ihre Führungsstärke in dieser Hinsicht! (Beifall bei ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS sowie des MEP Waitz.)

Die Europäische Union steht für etwas, wir müssen darauf stolz sein. Das Euro­päische Parlament gehört genauso den Österreicherinnen und Österreichern wie allen anderen. Keine Entscheidungen werden in Europa ohne Sie getroffen, viele werden wegen Ihnen getroffen. Und keine unserer Maßnahmen funktioniert, unsere Strategien funktionieren nicht, wenn wir die Leute nicht ins Boot holen. Das gilt auch für die Migration, bei der das Europäische Parlament einen schwie­rigen Weg vorwärts ausgehandelt hat, einen umfassenden Pfad, der unsere Grenzen schützt, aber gerecht gegenüber den Schutzbedürftigen ist, streng gegenüber jenen, die nicht schutzberechtigt sind und daher sicher zurückgeführt werden, und mit voller Härte gegen die Schleppernetzwerke.

Da bleibt noch viel Arbeit zu tun, vor allem bei den Rückführungen. Wir können diese Arbeit angehen, und wir können unseren Schengenraum stärken und sichern. Ein stärkeres Schengen bedeutet ein sichereres Europa. Ein enger zusammenrückendes Europa bedeutet ein besseres Europa. Unser Europa ist keine ferne Gestalt, es ist kein Europa, das alle gleichmachen möchte, das Homogenität bezweckt. Wir verstehen, dass wir alle anders sind. Wir haben verschiedene Kulturen, verschiedene nationale Realitäten, und unsere Fähigkeit, zusammenzukommen und diese Unterschiede zu überbrücken, ist es, was uns stark macht. Die 19 österreichischen Mitglieder des Europäischen Parlaments, darunter zwei Vizepräsidenten, wissen das ganz genau.

Das bedeutet nicht, dass unsere Union perfekt ist – weit gefehlt, das ist sie nicht. Ich verstehe den Frust bezüglich einiger unserer Verfahren, aber im Endeffekt ist Europa es wert. Wir können es verbessern. Europa ist es wert, es ist Ihre Zeit wert, Ihre Energie wert, Ihren Glauben, Ihr Vertrauen wert. Es ist auch den Frust wert, den es manchmal verursacht, und die Mittel wert, die es kostet.

Als Präsidentin des Europäischen Parlaments stelle ich die Gespräche mit Menschen in den Dörfern, in den Schulen, in der ganzen Europäischen Union ins Zentrum meines Mandats. Ich möchte den Europäerinnen und Europäern zuhören und erfahren, wie die EU für sie funktionieren kann, wie das Europä­ische Parlament näher an die nationalen Parlamente gebracht werden kann. Ich weiß, wie wichtig das besonders für dieses Parlament ist.

Was ich sagen will, ist: Wir müssen besser darin werden, den Wert Europas zu erklären und näherzubringen. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS sowie der Mitglieder des Europäischen Parlaments Waitz und Winzig.)

Und wir dürfen keine Angst vor Veränderung haben. Die nächsten Wahlen finden von 6. bis 9. Juni 2024 statt. Ich weiß, dass die engagierten österreichi­schen Vertreter des Europäischen Parlaments dazu beitragen, dass wir das schaffen. Wir werden weiter zuhören, wir werden weiter Überzeugungsarbeit leisten, vor allem bei jungen Österreicherinnen und Österreichern, die im Alter von 16 Jahren nächstes Jahr erstmals bei einer EU-Wahl mitbestimmen dürfen.

Ich kann nicht widerstehen: Wolfgang Amadeus Mozart ist natürlich wichtig hier, und er sagte einmal, wir leben in dieser Welt, um immer zu lernen, fleißig zu lernen und einander durch Gespräche zu erleuchten. (Heiterkeit bei Abgeordneten von Grünen und NEOS.) Darum geht es im Europäischen Parlament. Darum geht es in Europa. – Danke. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS, bei Abgeordneten der FPÖ sowie der Mitglieder des Europäischen Parlaments Waitz und Winzig.)

10.43

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Vielen herzlichen Dank für diese umfassende und auch inhaltlich so wichtige Erklärung. Es ist das erste Mal, dass eine Präsidentin des Europäischen Parlaments hier spricht, und es war eine ganz tolle Premiere. Ich danke dafür recht herzlich.

Wir gehen nunmehr in die Debatte ein.

Wir haben zwei Rednerrunden.

Zu Wort gemeldet ist Abgeordneter Lopatka. – Bitte.