19.24

Abgeordneter Dr. Johannes Margreiter (NEOS): Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundesministerin! Hohes Haus! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir können den Rechtsstaat als einen lebendigen Organismus begreifen, der unsere Pflege braucht, der unsere Zuwendung braucht, der jederzeit unsere Unterstützung braucht.

Der Rechtsstaat ist so wie jeder Organismus gefährdet. Wir erleben es momentan ganz genau: Wie der Virus unseren lebendigen Organismus gefährdet, so ähnlich gibt es auch Viren, die den Rechtsstaat gefährden können. Diese Viren heißen zum Bei­spiel Fakelaw, die heißen unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte. Das sind Themen, die wir jetzt seit Wochen immer wieder irgendwo am Horizont erscheinen se­hen, und denen müssen wir uns stellen, damit müssen wir uns auseinandersetzen!

Wenn ich von Fakelaw spreche, was meine ich darunter? – Da meine ich genau das darunter, was in den letzten Tagen offenkundig geworden ist, nämlich dass der Bevöl­kerung vorgegaukelt worden ist, es gibt Vorschriften, während es diese aber in Wirk­lichkeit gar nicht gegeben hat.

Ein Beispiel, Frau Bundesminister: Wenn man heute hier und jetzt auf der Homepage des Bundesministeriums für Justiz unter den häufig gestellten Fragen die Frage an­klickt, ob die Teilnahme an Verhandlungen noch möglich ist, lautet die wörtliche Ant­wort: Die Bundesregierung hat per Gesetz vorgegeben, dass die Wohnung nur mehr verlassen werden darf, wenn es für die Arbeit notwendig ist, um sich mit Lebensmitteln oder Medikamenten zu versorgen oder andere Menschen zu unterstützen sowie um spazieren zu gehen. Der Besuch von Verhandlungen fällt nicht unter diese Ausnahme. In diesem Sinne kann bei Strafverhandlungen nun auch die Öffentlichkeit ausgeschlos­sen werden. – Zitatende.

Frau Bundesministerin, diese Auskunft ist von A bis Z falsch. (Zwischenruf des Abg. Scherak.) Weder hat die Bundesregierung per Gesetz irgendetwas vorgegeben, denn die Bundesregierung kann kein Gesetz machen, sondern es war eine Verordnung – die berühmte Covid-Verordnung des Bundesministers für Gesundheit, jene mit den be­rühmten Ausnahmen, von denen wir jetzt wissen, dass alles möglich ist, sofern man einen Meter Abstand hält –, noch kommt zum Beispiel das Wort „spazieren“ in dieser Verordnung überhaupt vor.

So wird agiert. Das sind offizielle Verlautbarungen auf Homepages von Regierungsstel­len. Das sind Fakenews und Viren, die unseren Rechtsstaat gefährden. Das muss ich in aller Deutlichkeit sagen. (Bravoruf und Beifall bei den NEOS.) Da gehört noch etwas dazu, das haben wir in den heutigen Debatten vielfach gehört: Gesundheit wird dem Rechtsstaat gegenübergestellt, als wäre das nicht gemeinsam möglich. Wenn man sich anstrengt und den Grundwerten und Grundrechten verbunden ist, dann geht bei­des.

Deshalb muss es auch möglich sein, die Verfahrensgrundsätze zu wahren. Im Zivil­verfahren geht das mit dem Antrag; deswegen werden wir dem Gesetzespaket auch zustimmen, weil die Videoverhandlung im Zivilprozess an die Zustimmung der Parteien geknüpft wird. Wir verlangen das aber auch für das Strafverfahren, denn im Strafver­fahren ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz extrem wichtig, weil es im Strafverfahren – im Unterschied zum Zivilverfahren – Laienbeteiligung gibt, und gerade wenn Laienrichter am Werk sind, ist es umso wichtiger, dass man die Realität der Verhandlung kennt.

Zu den ganzen Argumenten, die wegen des Gesundheitsschutzes dagegen vorge­bracht werden, kann ich sagen: Meine Damen und Herren, ich kenne Schwurgerichts­säle, das ist mein Tätigkeitsfeld. Schwurgerichtssäle sind keine Aprés-Ski-Bars, da ist Platz genug, da steckt man sich nicht an, da ist zum Richter 5 Meter Distanz, da ist zu den Geschworenen 8 Meter Distanz; das geht, wenn man nur will.

Daher bringen wir folgenden Unselbständigen Entschließungsantrag ein:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Dr. Johannes Margreiter, Petra Bayr, MA MLS, Mag. Harald Stefan, Kolleginnen und Kollegen betreffend „Videokonferenzen bei Hauptverhandlungen in Strafsachen nur mit Zustimmung der Angeklagten“

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung, insbesondere die Bundesministerin für Justiz, wird aufgefordert, dem Nationalrat unverzüglich einen Gesetzesvorschlag zuzuleiten, der vorsieht, dass für die ‚Zuschaltung‘ der in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten per Videokon­ferenz in strafrechtlichen Hauptverhandlungen (§ 239 StPO) zwingend und bei sonsti­ger Nichtigkeit deren ausdrückliche Zustimmung erforderlich ist.“

*****

Danke schön. (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der FPÖ.)

19.29

Der Antrag hat folgenden Gesamtwortlaut:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Dr. Johannes Margreiter, Petra Bayr MA MLS, Mag. Harald Stefan, Kolleginnen und Kollegen

betreffend Videokonferenzen bei Hauptverhandlungen in Strafsachen nur mit Zustim­mung der Angeklagten

eingebracht im Zuge der Debatte in der 27. Sitzung des Nationalrats über den Bericht des Justizausschusses über den Antrag 436/A der Abgeordneten Mag. Michaela

Steinacker, Mag. Agnes Sirkka Prammer, Kolleginnen und Kollegen betreffend ein Bun­desgesetz, mit dem das 1. Bundesgesetz betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 in

der Justiz, das Gesellschaftsrechtliche COVID-19-Gesetz und das Zivilrechts-Media­tionsgesetz geändert werden (8. COVID-19-Gesetz) (139 d.B.)– TOP 24

Mit den Corona-bedingten Novellen BGBl. I Nr. 14/2020, BGBl. I Nr. 16/2020 wurden diverse Notmaßnahmen im Bereich der Justiz implementiert.

Die Novellen sehen vor, dass bestimmte Vernehmungen und Verhandlungen im Wege von Videokonferenzen gemäß § 153 Abs. 4 StPO durchgeführt werden können.

§ 153 Abs. 4 StPO sieht Videokonferenzen grundsätzlich nur innerhalb des Vorver­fahrens bei Vernehmungen vor: Hat ein Zeuge/eine Zeugin oder Beschuldigte/r seinen Aufenthaltsort außerhalb des Sprengels der zuständigen Staatsanwaltschaft oder des zuständigen Landesgerichts, so ist die unmittelbare Vernehmung am Sitz der Staats­anwaltschaft oder des Gerichts, in deren oder dessen Sprengel sich der Zeuge/die Zeugin oder der/die Beschuldigte befindet, im Weg einer Videokonferenz durchzufüh­ren. Von diesem durch das BudgetbegleitG 2011 BGBl I 2010/111, ausgeprägten Grundsatz bestehen Ausnahmen im Interesse der Verfahrensökonomie (z.B. wenn die Anreise nur geringen, die Bereitstellung einer Videokonferenz jedoch höheren Aufwand erzeugen würde) sowie „aus besonderen Gründen“, unter denen die Bedeutung des persönlichen Eindrucks hervorzuheben ist (EBRV 981 BlgNR 24. GP 93). Kirchbacher in Fuchs/Ratz, WK StPO § 153 (Stand 1.10.2013, rdb.at)

Für kriminalpolizeiliche Vernehmungen und Haftverhandlungen scheint diese Lösung in Anbetracht der Corona-Krise vertretbar, nicht jedoch für die Hauptverhandlung, die über Schuld oder Unschuld eines/einer Angeklagten befindet. Das Grundprinzip der Unmittelbarkeit findet sich in § 13 Abs. 1 StPO als grundlegendes Verfahrensprinzip.

Sie ist auf den Verfassungsgrundsatz des fairen Verfahrens gem Art 6 Abs 1 EMRK zurückführen. Zudem ist ein am Unmittelbarkeitsprinzip orientiertes Strafverfahren Grundvoraussetzung dafür, dass andere verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien hinreichend eingehalten werden können, insb. die Grundsätze der Mündlichkeit und Öf­fentlichkeit, aber z.B. auch die Gewährleistung eines hinreichenden Fragerechts für den/die Beschuldigte/n bzw. Verteidiger (Art 6 Abs 3 lit d EMRK). Ein enges Nahe­verhältnis besteht insb. zwischen Unmittelbarkeit und Mündlichkeit mit der Folge, dass ein und dieselbe konkrete Verfahrensgestaltung teilweise dem einen, teilweise dem an­deren dieser Verfahrensgrundsätze zugeschrieben wird. (Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO § 13, Stand 1.5.2012, rdb.at)

Das Prinzip der Unmittelbarkeit dient vorrangig zwei Zielen, die erfahrungsgemäß am besten anhand einer direkten Wahrnehmung der Originalbeweismittel seitens des er-kennenden Gerichts erreicht werden (ebenso zB Schwaighofer, ÖJZ 1996, 124; Wei­gend, Eisenberg-FS 660 ff).

Die mit den Novellen BGBl. I Nr. 14/2020, BGBl. I Nr. 16/2020 eingeführten neuen Be­stimmungen, insbesondere in § 239 und § 286, rufen gewichtige grundrechtliche Kritik von Seiten des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags, der Vereinigung österrei­chischer Strafverteidiger_innen sowie der Richtervereinigung hervor.

Die Grundfeste des Strafverfahrens im Allgemeinen sind die Mündlichkeit und die Un­mittelbarkeit des Verfahrens.

Gerichte sollten sich grundsätzlich einen unmittelbaren Eindruck von Angeklagten, Zeugen und sonstigen Verfahrensbeteiligten machen können. Gerade in Schwurge­richtsverhandlungen und Schöffenprozessen, wo es um schwerste Straftaten geht und längste Strafen drohen, ist das unerlässlich.

Es kann nicht sein, dass jemand zu lebenslanger Haft verurteilt wird und der/die Be­troffene sein Gericht nicht sieht oder nur über einen Bildschirm gesehen hat.

Bei Schwurgerichtsprozessen, denen in der Regel Kapitalverbrechen wie Mord, schwe­rer Raub mit Todesfolge oder erpresserische Entführung zugrunde liegen, drohen bei Verurteilungen Freiheitsstrafen zwischen zehn und 20 Jahren oder lebenslange Haft. Über die Schuldfrage entscheiden allein acht Geschworene - Laienrichter, für die der persönliche Eindruck des/der Angeklagten von entscheidender Bedeutung ist.

Der unmittelbare Eindruck ist für eine/n Geschworene/n nur gewährleistet, wenn er den/die Angeklagte/n vor sich sieht. Dessen Mimik und Gestik sind wesentlich, um seine Glaubwürdigkeit beurteilen zu können.

Videotechnologie im Strafverfahren ist eine gute Sache, wenn es um die Dokumenta­tion des Echtbetriebs geht, insbesondere bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren. Hauptverhandlungen als reine Video-Verhandlungen abzuhalten, geht aber, sofern dies gegen den Willen des/der Angeklagten erfolgt, entschieden zu weit. Das hebelt den Grundsatz der Unmittelbarkeit aus und beschneidet das rechtliche Gehör der Be­schuldigten unzulässig.

Die Erläuterungen zu dem damals im Ausschuss eingebrachten Initiativantrag führten die Ausdehnung dieser Bestimmungen auf die Hauptverhandlung nur lapidar aus: "Die Verhältnismäßigkeit ist dadurch gewahrt, dass diese Möglichkeit ausdrücklich auf Fälle einer Pandemie bzw. der Notwendigkeit der Verhütung und Bekämpfung anzeigepflich­tiger Krankheiten nach Maßgabe einer Verordnung beschränkt ist." (ErlAB 104 BlgNR 27 GP)

Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Auch in Zeiten der Pandemie sind die wesentlichen Grundsätze des fairen Verfahrens (Art 6 EMRK) und daher auch das Prinzip der Unmittelbarkeit zu achten. Aus den genannten Gründen ist die "Zuschal­tung" des/der Beklagten im Wege einer Videokonferenz nicht verhältnismäßig. Möchte das Gericht Vorsorge für die Gesundheit der Anwesenden treffen, so sind andere Mittel und Wege zu finden, um einer weiteren Verbreitung des Corona-Virus entgegenzuwir­ken. Dies kann etwa im Wege von Abstandsregelungen, Mund- Nasenschutz oder an­deren mechanischen Barrieren geschehen. Das Recht auf Anwesenheit vor dem Ge­richt kann dem/der Angeklagten aber nicht ohne weiters genommen werden.

Die vorgeschlagene Änderung des § 239 StPO sieht daher vor, dass ein Vorgehen nach § 153 Abs. 4 in den in § 174 Abs. 1 geregelten Fällen nur dann und bei sonstiger Nichtigkeit zulässig sein soll, wenn der/die Angeklagte dem zuvor ausdrücklich zuge­stimmt hat. Somit soll es in der Hand des/der Angeklagten und seiner Verteidigung lie­gen, ob er sich dem Gericht persönlich oder im Wege der Videokonferenz stellt.

Eine solche Zustimmung darf freilich nicht erst in dem Moment gegeben werden, wenn der/die Angeklagte bereits in der Videokonferenz gem. § 239 StPO Kontakt mit dem Gericht hat. Vielmehr hat das Gericht dem/der Angeklagten ausreichend Zeit für sei­ne/ihre Erklärung zu geben.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgenden

Entschließungsantrag

Der Nationalrat wolle beschließen:

"Die Bundesregierung, insbesondere die Bundesministerin für Justiz, wird aufgefordert, dem Nationalrat unverzüglich einen Gesetzesvorschlag zuzuleiten, der vorsieht, dass für die "Zuschaltung" der in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten per Videokon­ferenz in strafrechtlichen Hauptverhandlungen (§ 239 StPO) zwingend und bei sonsti­ger Nichtigkeit deren ausdrückliche Zustimmung erforderlich ist."

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Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Der Antrag ist ordnungsgemäß eingebracht, aus­reichend unterstützt und steht mit in Verhandlung.

Das Wort steht bei der Frau Bundesministerin. – Bitte.