15.02

Abgeordneter Alois Stöger, diplômé (SPÖ): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr ge­ehrter Herr Bundeskanzler! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Hohen Haus! Liebe Menschen, die aus Österreich zusehen! Herr Bundeskanzler, ich wende mich heute mit einem Dringlichen Antrag direkt an Sie, weil wir gerade vor einer einzigartigen Situation in der Geschichte der Zweiten Republik stehen. Wir stehen vor der Situation, dass es in unserem Land aktuell 460 000 arbeitslose Menschen gibt und die von Ihnen geführte Bundesregierung keinen Finger rührt, wenn es darum geht, 8 000 gefährdete Arbeits­plätze zu retten. (Widerspruch bei der ÖVP.)

Herr Bundeskanzler, ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ein einziger Ihrer Amts­vorgänger nichts dazu gesagt hätte, wenn ein finanzstarker Großkonzern vertragsbrü­chig wird und ohne Not seinen produktiven Standort schließen will. Ich kann sogar sagen und versprechen, eine sozialdemokratische Bundeskanzlerin hätte das zur Chefinnensa­che erklärt. (Beifall bei der SPÖ.)

Nichts getan ist nicht ganz richtig: Nach einem halben Jahr, währenddessen wir in München, in Steyr und in Wolfsburg verhandelt haben, habe ich ein Interview von Ihnen gehört, in dem Sie angekündigt haben, einen Beitrag leisten zu wollen. Herr Bundes­kanzler, aus meiner Sicht ist das zu wenig (Zwischenruf bei der ÖVP) – und das finde nicht nur ich, das findet offenbar auch Reinhold Mitterlehner. Sie kennen ihn ja. Der ehe­malige Wirtschaftsminister, er war auch ÖVP-Obmann, hat sein Leben in der Wirt­schaftskammer verbracht und findet, dass mehr passieren muss, dass die Regierung Verhandlungsdruck aufbauen muss, um etwas zu bewegen. (Zwischenruf des Abg. Kas­segger.) Fehlanzeige: Die Regierung tut nichts. Ich frage mich daher, ob Sie wissen, was in Steyr passiert und was dort alles auf dem Spiel steht.

Herr Bundeskanzler, ich gebe Ihnen gerne einen Einblick: Die MAN Truck & Bus Öster­reich GesmbH ist ein Unternehmen, das zum Volkswagen-Konzern gehört. Es produziert am Standort Steyr sämtliche Lkw der leichten und mittelschweren Reihe der Marke MAN sowie schwere Sonderfahrzeuge. Außerdem liefert der Standort Steyr Komponenten für den internationalen MAN-Produktionsverbund und betreibt Europas größte Lackieranla­ge für Lkw-Kunststoffanbauteile.

Neben der Produktion selbst gehören auch Forschung und Entwicklung zur Arbeit der insgesamt 2 356 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das zeigt schon, dass wir von hoch­qualifizierten Fachkräften sprechen, von Fachkräften, die in der Lage sind, Prototypen zu bauen und sie bis zur Serienreife zu entwickeln. Dieses Werk und seine Mitarbeiterin­nen und Mitarbeiter sind ein echter Innovationsmotor. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden von diesem Unternehmen sieben Patente angemeldet.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Steyr haben die Zeichen der Zeit erkannt, sie haben auf E-Mobilität gesetzt und sie haben gemeinsam mit den Betriebsräten darauf hingearbeitet, ihre Arbeitsplätze langfristig abzusichern. Sie haben seit 2007 Standortsi­cherungsverträge abgeschlossen. Das heißt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in den Lohnverhandlungen, in den Verhandlungen mit dem Management auf an­dere Dinge verzichtet und die Produktion gesteigert, um dafür eine langfristige Garantie für ihre Arbeitsplätze zu erreichen. So ein Vertrag, Herr Bundeskanzler, ist zuletzt 2020 – vor einem Jahr! – unterzeichnet worden. Mit diesem Vertrag wurden nicht nur eine Ar­beitsplatzgarantie, sondern auch jährliche Investitionen in den Standort in Höhe von je etwa 40 Millionen Euro vereinbart. Dieser Vertrag wurde von den Betriebsräten mit dem Ziel, den Standort bis 2030 zu sichern, abgeschlossen.

Und jetzt, Herr Bundeskanzler, sagt der VW-Konzern aber einfach: Der Vertrag ist uns egal, wir halten uns nicht mehr dran, wir brechen den Vertrag! – Genau da, Herr Bundes­kanzler, stellen sich die 2 300 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Werk und die Tausenden Menschen, deren Arbeitsplatz indirekt von diesem Produktionsstandort ab­hängt, die Frage: Was tut die Bundesregierung dagegen, dass ein internationaler Kon­zern einfach vertragsbrüchig wird? (Beifall bei der SPÖ.)

Diese Frage, die sich inzwischen praktisch jede und jeder Einzelne in Steyr stellt, gebe ich gerne an Sie weiter: Was tun Sie dagegen, dass VW so tut, als hätte VW alle Rechte, aber keine Pflichten? Wann endlich setzen Sie ein Signal dafür, dass Ihnen die Men­schen in der Region Steyr nicht egal sind?

Ich muss ehrlich sagen, Herr Bundeskanzler, ich habe gehofft, dass Sie aus den Ver­handlungen mit der Lufthansa gelernt hätten, dass Sie gelernt hätten, dass man als Re­gierungschef nicht einfach dabei zuschaut, wenn Abmachungen einfach ignoriert wer­den. Genau das ist bei der AUA passiert. Ich erinnere daran: Die Republik hat 450 Mil­lionen Euro aufgestellt, um die Arbeitsplätze zu retten, und ein paar Monate später kün­digt der Konzern an, Arbeitsplätze abzubauen.

Das Gleiche passiert jetzt bei MAN. Auch dort will man sich nicht an Abmachungen halten, und auch da geht es nicht nur ums Geld der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh­mer, die ja für die Garantie bezahlt haben, die jetzt nicht eingehalten wird, sondern es geht auch um das Geld, das der Konzern aus Forschungsförderungen und anderen staatlichen Förderungen bekommen hat.

Alles wird gerne genommen, wenn dann aber eben die Profite anderswo höher sein könnten, gibt es kein Halten mehr, dann verlagert man die Produktion einfach nach Po­len. Ich spreche hier ganz bewusst von Profiten, denn wer in den letzten Tagen einen Blick in die Zeitungen geworfen hat, weiß, dass die Bilanzzahlen alles andere als besorg­niserregend sind. Es hat nämlich einen guten Jahresstart gegeben. Gerade die Progno­sen für die Umsatzrendite sind vom Konzern nach oben korrigiert worden. Außerdem plant man offenbar Dividendenausschüttungen auch für das Jahr 2020.

Von einer solchen Konzernpolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren, habe ich genug, und ich wünsche mir eine Bundesregierung, der ein solches Verhalten absolut nicht wurscht ist, sondern die dagegen etwas tut.

Da komme ich jetzt wieder zu Ihrer ganz persönlichen Rolle, Herr Bundeskanzler. Ich bin seit Monaten selber dabei, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Steyr zu unterstützen. In all dieser Zeit habe ich Sie dort kein einziges Mal gesehen. Ich frage mich daher: Wann tun Sie endlich etwas? Wann bekommen wir etwas von Ihrer Stand­ortpolitik zu sehen? Schließlich ist die Bezeichnung „Wirtschaftsstandort“ sogar in den Namen des neuen Wirtschaftsministeriums aufgenommen worden  ist das nur eine Mo­gelpackung?

Wenn Sie wissen wollen, wie man Standortpolitik macht, fragen Sie einfach die MAN-Betriebsräte Helmut Emler, Thomas Kutsam oder ihre Vorgänger Erich Schwarz und den hier bekannten Markus Vogl. (Abg. Kirchbaumer: ... SPÖ am besten!) Sie alle haben es verstanden; sie alle haben verstanden, dass nur ein langfristiges, zukunftsorientiertes Denken Erfolg haben kann. Sie waren es, die die Standortsicherungsverträge abge­schlossen haben, weil es ihnen nicht um einen einmaligen Effekt, sondern um eine nach­haltige Entwicklung gegangen ist. Die Betriebsräte von MAN haben verstanden, wie man einen Transformationsprozess einleitet, und dass es dazu Investitionen braucht. Da stellt sich auch die Frage, Herr Bundeskanzler: Wo ist Ihre Kreativität, wenn es um die lang­fristige Absicherung von Arbeitsplätzen und um den Transformationsprozess für nach­haltige Mobilität geht? (Beifall bei der SPÖ. – Abg. Wöginger: ... aber keine Leistung!)

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Steyr ist eine Chance. Steyr ist eine Chance, weil die Betriebsräte Arbeitsplätze für die Region vertraglich vereinbart haben. Das ist nicht vielen Betriebsräten bisher gelungen. Betriebsräte haben Investitionen vereinbart, um den Transformationsprozess zu nachhaltiger Mobilität nicht nur im Umweltministerium in schönen Papieren zu beschreiben, sondern Sie haben diese Vereinbarung unterzeich­net, damit dieser Transformationsprozess auch in den Werkshallen ankommen kann. Daher braucht das ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein. Die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer von MAN haben sich nicht gefallen lassen, dass man zu ihnen sagt: Friss, Vogel, oder stirb! – Das haben die Arbeitnehmer von MAN nicht verdient. (Beifall bei der SPÖ.)

Herr Bundeskanzler, Sie können von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Steyr lernen. Ich sage das jetzt in den Worten des Prof. Kapeller von der Uni Duisburg, wie er im „Standard“ schreibt. – Ich zitiere: „Eine selbstbewusste Standortpolitik könnte auch das Instrument der Standortsicherung gegenüber dem Konzernen zustehenden Investitionsschutz aufwerten und auf dieser Basis Standortsicherungsverträge gezielter verfolgen und mit größerer Rechtssicherheit ausstatten, als lokal organisierte Akteurin­nen dies zu tun vermögen.

All das ist freilich von einer Politik, die sich selbst nicht als industriepolitischer Akteur begreift und Industriestandorte bereitwillig vermeintlich unbeeinflussbaren Marktkräften ausliefert, nicht zu erwarten. Im Kontrast dazu könnte man die Entscheidung der MAN-Belegschaft für neue industriepolitische Initiativen nutzen, und MAN Steyr könnte auf diese Weise sogar ein Lehrbuchfall bleiben – und zwar einer für eine erfolgreiche, mis­sionsorientierte Industriepolitik im 21. Jahrhundert.“ – Zitatende. Das hat Prof. Jakob Ka­peller am 13.4. im „Standard“ gesagt.

Herr Bundeskanzler, wenn ich die Arbeit der Betriebsräte mit der Arbeit der Bundesregie­rung vergleiche, wird besonders deutlich, dass sich die Regierung da schnell etwas ab­schauen sollte, nämlich insbesondere das Engagement, wenn es darum geht, Arbeits­plätze zu retten. Damit haben weder Sie noch die anderen Minister der Bundesregierung sich bisher aufgehalten. Ich habe kein Regierungsmitglied gesehen, als die Mitarbeiterin­nen und Mitarbeiter der ATB hier vor der Tür gestanden sind und um Unterstützung ge­beten haben. Ich habe nichts davon gehört, dass sich die Regierung für die Beschäftig­ten von Mayr-Melnhof oder Swarovski eingesetzt hätte, als diese Unternehmen einen Stellenabbau angekündigt haben. Vor diesem Hintergrund, Herr Bundeskanzler, frage ich Sie noch einmal: Wann tun Sie endlich etwas, um die Arbeitnehmerinnen und Ar­beitnehmer in Steyr zu unterstützen? (Beifall bei der SPÖ.)

Ich habe in der Angelegenheit bis jetzt jedenfalls noch nichts von Ihnen gesehen, noch nicht einmal eine Pressekonferenz. Dabei wäre es ganz einfach: VW ist ein Konzern, der zum Teil in Staatsbesitz ist. Reden Sie endlich! Reden Sie endlich mit Ihrer deutschen Amtskollegin Angela Merkel und tun Sie das, was nötig ist, um den Produktionsstandort Steyr zu sichern!

Falls Sie sich noch fragen, was Sie tun können, darf ich Ihnen ein paar Zeilen aus dem ÖIAG-Gesetz in Erinnerung rufen, zum Beispiel § 7. Da steht im Gesetz: „Im Rahmen des Beteiligungsmanagements hat die ÖBAG unter Berücksichtigung der öffentlichen Interessen an der Sicherung Österreichs als Wirtschafts- und Forschungsstandort sowie an der Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen auf eine Werterhaltung und Wert­steigerung der Beteiligungsgesellschaften Bedacht zu nehmen.“

In Absatz 4 steht: „Für den Erwerb an Anteilen an anderen Unternehmen, die für den Wirtschaftsstandort Österreich von besonderer Bedeutung sind, ist ein Beschluss der Bundesregierung erforderlich, wenn dieser Erwerb nicht nach den Bestimmungen des Abs. 5 erfolgt.“

Dieser Absatz 5 sagt: „Unbeschadet des Abs. 4 ist die ÖBAG, entweder selbst oder über eine Tochtergesellschaft, mit der Entwicklung und Bereitstellung von Instrumenten zur Stärkung österreichischer Interessen im internationalen Standortwettbewerb betraut. Zu diesem Zweck ist sie ermächtigt, Minderheitsbeteiligungen an für den Standort relevan­ten Unternehmen einzugehen sowie solchen Unternehmen Kredite, Garantien und sons­tige Finanzierungen zur Verfügung zu stellen.“

Herr Bundeskanzler, wer ist Vorsitzender der Bundesregierung? Ist der Bundeskanzler dafür verantwortlich? – Der Gesetzgeber hat gemeint: ja.

Dazu noch einmal zur Erinnerung: Studien zufolge hängen am MAN-Werk in Steyr rund 8 000 Arbeitsplätze mit einer jährlichen Wirtschaftsleistung von knapp 1 Milliarde Euro. Steyr ist einer der größten Automotive Cluster in Österreich. Wenn das kein Grund für die Öbag ist, eine Minderheitsbeteiligung zumindest zu erwägen, wann bitte dann? (Abg. Haubner: Wie? Woran beteiligen?)

Darüber hätten Sie sich mit Herrn Schmid von der Öbag austauschen sollen. Das ist auch jetzt noch möglich. Greifen Sie einfach zum Handy – seine Nummer dürfte Ihnen bekannt sein – und bringen Sie endlich etwas ins Rollen, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von MAN in Steyr, für die Menschen in der Region, deren Arbeitsplätze jetzt in der Schwebe sind, und für den ganzen Wirtschaftsstandort in Österreich!

Wir von der SPÖ haben immer wieder ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand für Unternehmen gefordert, die von den Auswirkungen der Coronapandemie hart getrof­fen wurden, aber auch für Unternehmen, die jetzt vor veränderten Rahmenbedingungen in der Produktion und in der Arbeitswelt stehen und sich anpassen müssen, wenn es etwa um Digitalisierung oder um klimaneutrale Produktion geht. (Abg. Zarits: ... erfolg­reich, ja! – Abg. Haubner: Lernen Sie Geschichte!) Das sind alles Bereiche, in denen die öffentliche Hand einen Beitrag zur Stabilisierung leisten und bedrohte Arbeitsplätze erhalten kann.

Bei MAN in Steyr gibt es mehr Möglichkeiten, weil es einen gültigen Standort- und Be­schäftigungssicherungsvertrag gibt. Treten Sie in der Öffentlichkeit dafür ein, dass sich auch Weltkonzerne wie VW an Verträge zu halten haben! Machen Sie deutlich, dass die österreichische Politik nicht einfach dabei zusieht, wenn Produktionsstandorte mit langer und erfolgreicher Tradition für etwas höhere Profite aufgegeben werden sollen!

Sie sehen also, Herr Bundeskanzler, es gibt genügend Möglichkeiten, um Arbeitsplätze abzusichern. Falls Sie sich noch fragen, mit welchen Mitteln das finanziert werden kann, würde ich die 210 Millionen Euro vorschlagen, die Sie gerade für Werbung und PR aus­geben. (Beifall bei der SPÖ.)

Am Schluss bleibt daher nur eine Frage offen: Wann fangen Sie endlich damit an, die Arbeitsplätze in der Region Steyr zu sichern? Retten Sie 8 000 Arbeitsplätze in Steyr! Lassen Sie die Menschen nicht im Stich, Herr Bundeskanzler! (Beifall bei der SPÖ.)

15.21

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich darf auch die übrigen Minister und den Herrn Vizekanzler sehr herzlich bei uns begrüßen.

Zu Wort gemeldet ist der Herr Bundeskanzler. Das Wort steht bei ihm. – Bitte.