Parlamentskorrespondenz Nr. 722 vom 12.11.1998

12. NOVEMBER: GRÜNDUNGSTAG DER REPUBLIK ÖSTERREICH/ 5. Teil

Aussenminister Schüssel setzt sich für europäische Einigung ein

Wien (PK) - Vizekanzler Dr. Wolfgang SCHÜSSEL führt im Rahmen seiner Rede wörtlich aus: Meine Damen und Herren! Es gibt Feiertage in der Republik, die in der Erinnerung der Österreicher als ungetrübte Freudenfeste weiterleben: der 15. Mai 1955, an dem Österreich frei wurde, frei von der Besatzung und frei in seiner Handlungsfähigkeit, aber auch der 12. Juni 1994, als sich die Österreicher mit Zweidrittelmehrheit für den Beitritt, für die Mitgliedschaft zur Europäischen Union entschieden haben.

Der 12. November 1918 ist ein anderer Tag gewesen. Es war für die einen der Zusammenbruch einer ganzen Welt. Es gab Schiessereien gleichzeitig mit der Ausrufung dieser Republik vor dem Parlament. Die neue Fahne wurde zerfetzt. Einige wollten die Monarchie behalten, anderen war die Republik nicht revolutionär genug ‑ und viele wollten sich einfach so schnell wie möglich in die Arme eines grossen Nachbarn werfen. In Wahrheit ist diese Republik, diese Erste österreichische Republik wie eine Nichtschwimmerin ins kalte Wasser des internationalen Lebens geworfen worden und hat 20 Jahre lang mühevoll ‑ geschwächt durch innere Kämpfe ‑ gegen die Fluten angekämpft, bis sie dann letztlich im März 1938 auch wirklich unterging.

Heute können wir feststellen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben, dass sie uns aber auch zugleich tief geprägt hat. Österreich hat damals ‑ 1918 ‑ nicht frei abgestimmt, denn es sei auch an einen aus dem damaligen Parlament erinnert, an Wilhelm Niklas, der eine Volksabstimmung verlangte, dann aber im Interesse der Einheit darauf verzichtete, ein Mann, dem wir übrigens die rot-weiss-rote Flagge verdanken, der ‑ als einziger, wenn ich mich richtig erinnere ‑ gegen den Anschlussartikel in der damaligen Verfassung stimmte. Deswegen ist dieser 12. Juni 1994 so wichtig, weil zu diesem Zeitpunkt die Österreicher wirklich zum ersten Mal frei, souverän und autonom ihr eigenes Schicksal bestimmt haben. Unbestritten ist heute auch die Identität dieses Staates, den Clemenceau einst spöttisch genannt hat "L'Autriche, c`est ce qui reste", "das, was übrig bleibt, ist Österreich". Damals war sogar der Name bestritten; "Deutschösterreich" wurde nicht akzeptiert ‑ es bedurfte eines Anstosses von aussen, von den internationalen Siegermächten, dass wir zu unserem ureigenen Namen gefunden haben. In einem der ersten Verfassungsentwürfe steht sogar der Begriff "Südost‑Deutschland". Wir getrauten uns nicht einmal ‑ die Angst war schon angesprochen ‑,  uns selbst eigenständig zu definieren.

Das Schöne an der heutigen Republik ist, dass sie völlig unbestritten ist. Die Jungen singen die Hymne, kein Mensch, jedenfalls die weitaus überwiegende Zahl, möchte irgendwo anders hin, fühlt sich wohl in dieser Heimat Österreich.

Wir haben auch wirtschaftlich sehr viel gelernt. Österreich war damals kaum lebensfähig, wir hatten wenig Industrie, wenige Bodenschätze, wir konnten uns nicht selbst ernähren. Und aus dieser Zeit rührt, glaube ich, auch eine wirkliche Achtung vor dem bäuerlichen Stand, gerade bei uns Städtern ‑ ich bin einer ‑, die eben wissen, dass ein Land sich selbst ernähren können muss. Daraus rührt auch die Sehnsucht und der Wunsch vieler Bevölkerungskreise nach einer starken, flächendeckenden Landwirtschaft, nach bäuerlichen Familienbetrieben, rührt das Wissen, dass der Mittelstand Rüstung und Rückgrat einer funktionierenden Wirtschaft ist, und dass wir auf eine leistungsstarke, exportorientierte Industrie nicht verzichten können. In diesem Wissen und in diesem Lernen aus der Geschichte wurden wir eines der erfolgreichsten Modelle, auch in wirtschaftlicher Hinsicht,  für andere kleine Länder. So wie Alfred Gerstl sagte, hat sich in unser Bewusstsein das Wissen tief eingegraben, dass Zerrissenheit lähmt und schwächt. Das kann eine tödliche Gefahr darstellen, wie der Bürgerkrieg der Ersten Republik, der uns praktisch dem Virus des Nationalsozialismus wehrlos ausgeliefert hat, bewiesen hat. Daraus kommt bis heute die Sehnsucht nach der Gemeinsamkeit ‑ eine Sehnsucht, die manchmal belächelt wird ‑ und der Wunsch nach der Zusammenarbeit möglichst vieler relevanter politischer Kräfte, der Wunsch, dass die Sozialpartner, die Wirtschafts‑ und Arbeitnehmervertreter, zusammenarbeiten mögen, am runden, am grünen Tisch verhandeln, und nicht auf der Strasse streiken. Wir wissen alle, das kostet Zeit, das kostet manchmal auch Kraft, aber man soll dies nicht leichtfertig weglegen.

Wir haben aus der Geschichte gelernt und unser Verhältnis zu den Nachbarn geordnet. Österreich hat ja mit jedem seiner Nachbarn, Liechtenstein vielleicht ausgenommen, zu irgendeiner Zeit seiner Geschichte Kriege geführt ‑ und am Beginn dieser Republik haben uns die anderen alleingelassen. Friedrich Austerlitz, auch einer der Gründerväter dieser Republik, hat geschrieben: "Wir sind unabhängig geworden, nachdem uns die anderen stehen haben lassen". Für mich war es daher auch persönlich bewegend, dass jetzt, 80 Jahre nachdem uns die Tschechen, die Ungarn, die Slowenen, die einst in einem gemeinsamen Haus mit uns gelebt haben ‑ in alle Windrichtungen hin verlassen haben, unter österreichischem Vorsitz in der Europäischen Union die Verhandlungen über ihre Heimkehr nach Europa beginnen. Es ist ein anderes Haus, das hier gebaut wird, gar keine Frage, es ist das "Haus Europa". Es ist ein weiträumigeres Haus, ein offeneres, auch ein demokratischeres, es ist ein wirtschaftlich stärkeres und ein erfolgreicheres. Es muss unsere Aufgabe sein, dieses Haus offen zu halten. Es ist auch mein Stolz als Aussenminister, sagen zu können, dass wir zu keinem Zeitpunkt der Geschichte zu allen Nachbarn so gute, ja freundschaftliche Kontakte und Beziehungen gehabt haben wie eben jetzt. Wir können allen in die Augen sehen ‑ trotz aller Verbrechen, aller Schwierigkeiten, die geschehen sind und die wir nie vergessen dürfen.

Wir sind heute der Republik gegenüber entspannter, gelassener und können sie daher auch viel grundsätzlicher betrachten. "Republik" kommt eben von "res publica", die "öffentliche Sache", die, wie Cicero gesagt hat, immer auch eine "res populi", eine "Sache des Volkes" sein muss. Man sollte daher nicht nur die acht Jahrzehnte Vergangenheit betrachten, sondern wir sollten uns auch fragen, wie diese Republik weitergehen kann.

Haben wir die Republik Österreich wirklich schon in jeder Hinsicht zu einer gemeinsamen Angelegenheit aller Österreicher gemacht, zu einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, die dem einzelnen auf jeder Ebene des staatlichen Zusammenlebens angemessene Möglichkeiten der Mitgestaltung und Mitentscheidung gibt?

Verstehen wir immer und überall, dass eine echte res publica nicht durch falsch verstandenen Bürokratismus und Dirigismus gekennzeichnet sein darf, sondern jedem einen Rahmen bietet, wo er sich entfalten kann, und das heisst Subsidiarität, Bekenntnis zu den Regionen, zum Föderalismus?

Sind wir uns einig, dass der Schutz der Familien und die Solidarität mit den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft die Kernmerkmale jeder echten res publica sein müssen und dass dies auch für die glaubwürdige Gewährleistung der Sicherheit jeder Gemeinschaft nach innen und nach aussen gilt?

Wissen wir, wenn wir an die Republik denken, an die res publica, dass wir nicht nur an uns heute denken dürfen, sondern auch an die Zukunft, an das Bewahren unseres Erbes für kommende Generationen, für die Kinder, und ihnen Ressourcen, Umwelt und Lebenschancen überlassen?

Ich meine daher, dass wir in einem solchen Staatsakt nicht nur der Vergangenheit, der grossen Leistungen gedenken dürfen, sondern uns auch kritische Fragen für die Zukunft gefallen lassen müssen.

Was heute erreicht wurde, hat vor 80 Jahren niemand für möglich gehalten, es hat nicht einmal jemand erhoffen können. Es war weit ausserhalb dessen, was in der Reichweite der Möglichkeiten gelegen ist. Geholfen hat uns damals der Möglichkeitssinn Musils, der manchmal einen kleinen Anstoss von aussen braucht, manchmal auch nicht ohne Krisen auskommt, aber dieser Möglichkeitssinn ist wichtig, und ihn gilt es zu entwickeln, er soll uns in die Zukunft führen.

(Fortsetzung)