Parlamentskorrespondenz Nr. 235 vom 04.05.2000

DIE EU IST EIN BOLLWERK GEGEN DEN RÜCKFALL IN DIE VERGANGENHEIT

NR-Präsident Fischer zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus

Wien (PK) - Am heutigen 4. Mai, genau am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen begrüßte Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER im historischen Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses Bundespräsident Dr. Thomas Klestil, die Mitglieder der Bundesregierung, Abgeordnete und Bundesräte, Mitglieder des Diplomatischen Corps, eine Delegation des Deutschen Bundestages unter der Leitung der Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs sowie KZ-Überlebende und andere Opfer des Nationalsozialismus als Ehrengäste des diesjährigen Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus.

Auf dem Programm der Veranstaltung stehen nach den Ausführungen des Nationalratspräsidenten eine Rede von Senator Prof. Dr. Wladyslaw Bartoszewski, dem früheren polnischen Außenminister, "der selbst die Qualen eines Konzentrationslagers, nämlich Auschwitz, am eigenen Leib erlitten hat", und die szenische Darstellung einer - stenographisch überlieferten - historischen Besprechung führender Funktionäre des Dritten Reiches zur Judenfrage durch Schauspieler unter der Leitung von Thomas Gratzer. - Die Rede, die Senator Bartoszewskis zum heutigen Gedenktag hält, wird die Parlamentskorrespondenz ebenso wörtlich wiedergeben wie die grundsätzlichen und aktuell-politischen Ausführungen von Nationalratspräsident Fischer.

MAUTHAUSEN WAR EIN ORT VON GEWALT, RASSISMUS, HASS UND TOD

Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung, des Nationalrates und Bundesrates, hoch geschätzte Mitglieder des Diplomatischen Corps, liebe Gäste und Freunde, meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 4. Mai 1945, also auf den Tag genau vor 55 Jahren, ist das Konzentrationslager Mauthausen befreit worden. Man kann heute wahrscheinlich gar nicht ermessen, was das für jeden Einzelnen der gequälten, geschundenen, täglich mit dem Tod bedrohten Häftlinge dieses Konzentrationslagers bedeutet haben muss. Und man muss ja leider hinzufügen, dass viele, viele tausend Menschen, insgesamt mehr als 100.000, diesen Tag der Befreiung im KZ Mauthausen und in anderen Konzentrationslagern nicht mehr erlebt haben. Mauthausen war ein Ort der Gewalt, des Rassismus, des Hasses und des Todes.

Ich bin daher sehr froh, dass der österreichische Nationalrat und der österreichische Bundesrat im Jahr 1997 in übereinstimmenden und einstimmigen Beschlüssen festgelegt haben, diesen Tag unter dem Motto "Gegen Gewalt und Rassismus" als parlamentarischen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus besonders hervorzuheben und in unserem Gedächtnis zu bewahren. Wir tun das heute unter anderem durch eine Rede von Herrn Senator Prof. Dr. Wladyslaw Bartoszewski, den früheren polnischen Außenminister, der selbst die Qualen eines Konzentrationslagers, nämlich Auschwitz, am eigenen Leib erlitten hat und den ich hiermit gemeinsam mit seiner Gattin bei uns auf das Herzlichste willkommen heiße.

Ebenso herzlich und respektvoll begrüße ich österreichische Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen und andere Opfer des Nationalsozialismus als unsere Ehrengäste.

Schließlich heiße ich auch eine Delegation der deutsch-österreichischen Freundschaftsgruppe im Deutschen Bundestag unter der Leitung der Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs herzlich willkommen, die meine Einladung zu einem Besuch in Wien und zur Teilnahme an dieser Veranstaltung angenommen haben.

Wir werden nach der Rede von Senator Bartoszewski der szenischen Darstellung einer historischen Besprechung führender Funktionäre des Dritten Reiches zur Judenfrage beiwohnen, die im November 1938 stattgefunden hat, unmittelbar nach der so genannten Kristallnacht, die in Wahrheit eine Pogromnacht war, der viele Pogrome folgen sollten. Von dieser Besprechung ist ein Protokoll erhalten, das von Schauspielern unter der Leitung von Thomas Gratzer szenisch dargeboten wird. Ich bedanke mich bei allen Schauspielern, die an der würdigen Gestaltung dieses Gedenktages mitwirken.

Meine Damen und Herren!

"Alle Juden waren Opfer des Nationalsozialismus, aber nicht alle Opfer des Nationalsozialismus waren Juden", hat Elie Wiesel einmal mit Recht gesagt.

Daher ist es uns wichtig, sämtliche Opfer des Nationalsozialismus in die heutige Gedenkveranstaltung einzubeziehen, so wie das ja auch der tatsächlichen Opferliste der verschiedenen Konzentrationslager und insbesondere der aus vielen Nationen zusammengesetzten Opferliste des KZ Mauthausen - darunter mehr als 50.000 polnische und 7.500 spanische Häftlinge - entsprochen hat.

Juden und Nichtjuden. Christen und Atheisten. Deutschsprachige und Menschen mit anderen Muttersprachen. Roma und Sinti, Homosexuelle, Wehrdienstverweigerer, Behinderte, Vertreter der so genannten entarteten Kunst, politische Gegner, unbotmäßige Intellektuelle oder wer immer sich dem Nationalsozialismus entgegenstellte oder von diesem als Hassobjekt ausgesucht wurde – sie alle sind unter den Opfern von Konzentrationslagern zu finden.

Und auch heute noch, zwei Generationen nach dem Zusammenbruch des so genannten Dritten Reiches, also zu einem Zeitpunkt, wo niemand jünger als 70 Jahre sein kann, der zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine Waffe tragen konnte und niemand jünger als 80 Jahre sein kann, der im März 1938 wahlberechtigt war, stellen wir uns noch immer voll Betroffenheit die Frage:

Wie konnte es passieren, dass in so hoch entwickelten Kulturstaaten wie Deutschland und Österreich, also den Ländern von Goethe und Mozart, von Beethoven und Sigmund Freud ein Regime an die Macht kam, das letztlich Millionen Menschen nahezu fabrikmäßig vernichtete?

HABEN WIR ALLES GETAN, UM UNS UND DIE NÄCHSTE GENERATION VOR GIFTIGEN GEDANKEN, WORTEN UND TATEN ZU SCHÜTZEN?

Und wir fragen uns auch, ob wir alles getan haben und auch alles tun, um uns und auch die nächste Generation vor jeder Ansteckung durch die giftigen Gedanken, Worte und Taten dieser Zeit in bestmöglicher Weise zu schützen? Denn zumindest das sind wir den Opfern des Nationalsozialismus schuldig.

Diese Aufgabe ist deshalb gar nicht so einfach, weil manche Elemente des Nationalsozialismus und seiner Politik nicht auf die NSDAP und nicht auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränkt sind. Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie, Gewaltbereitschaft, Intoleranz etc. hat es auch vor und nach Hitler gegeben.

Die tödliche Mischung im Nationalsozialismus entstand insbesondere durch die Bündelung dieser Sprengsätze gegen eine humane Gesellschaft, durch den Fanatismus, mit dem die einzelnen Bausteine der nationalsozialistischen Ideologie miteinander verbunden wurden, durch die Rücksichtslosigkeit, mit der jede Stimme der Vernunft niedergebrüllt wurde, sowie durch das mit allen Mitteln der Propaganda angeheizte Gefühl, das so genannte Recht des Stärkeren auf seiner Seite zu haben, rassisch überlegen zu sein und daher auf den anderen, den Minderwertigen, den Fremden, den Andersdenkenden, den Ausgegrenzten physisch und psychisch herumtrampeln zu können.

Auf der anderen Seite darf nicht unerwähnt bleiben, dass es genau dagegen auch heldenhaften, wenn auch chancenlosen Widerstand gegeben hat. Am kommenden Montag, dem 8. Mai, wird in Deutschland eine Kaserne der Deutschen Bundeswehr in Feldwebel-Schmid-Kaserne benannt werden, nach einem Wiener Wehrmachtsfeldwebel, der in Wilna und im Ghetto von Wilna Dienst machte, Hunderten Juden das Leben rettete, zum Tode verurteilt wurde, nicht um Gnade bat und sich in einem berührenden Abschiedsbrief an seine Frau und seine Familie zu seinen Taten der Menschlichkeit bekannte, ehe er im April 1942 hingerichtet wurde.

Viel ist in jüngster Zeit auch darüber diskutiert und nachgedacht worden, wie wir nach 1945 und nach dem so genannten Zusammenbruch mit der dann endlich hinter uns gelegenen Periode des Nationalsozialismus umgegangen sind.

Ob die so genannte Entnazifizierung zu radikal und zu pauschal war, ob es richtig war Todesurteile zu verhängen, wo wir uns doch heute als überzeugte Gegner der Todesstrafe betrachten, oder ob wir – ganz im Gegenteil – zu wenig radikal, zu inkonsequent waren, der ganzen Wahrheit ins Gesicht zu schauen? Ob zu opportunistisch um Stimmen ehemaliger Nationalsozialisten geworben wurde, ob man zu engherzig, abweisend und unsolidarisch gegenüber jenen war, die emigrieren mussten und ihre Heimat und darüber hinaus vielfach auch ihre Angehörigen verloren haben?

Ein Stück Wahrheit steckt zweifellos – so weit wir das heute beurteilen können – in allen diesen Vorwürfen, so entgegengesetzt sie zum Teil auch sein mögen.

Wahr ist aber auch auf der anderen Seite, dass die Aufarbeitung einer so riesigen, geradezu unermesslichen politischen und menschlichen Katastrophe, wie das die Periode von 1938 bis 1945 nun einmal war, nach den Maßstäben individueller, irdischer Gerechtigkeit, d.h. insbesondere auch nach den Maßstäben des Strafgesetzbuches ein Ziel darstellt, dessen restlose Verwirklichung wahrscheinlich unerreichbar war und ist.

VERGESSEN NEIN - VERZEIHEN JA

Die österreichische Bundesregierung der Jahre 1945 bis 1953 unter dem Vorsitz des KZ-Häftlings Dipl.-Ing. Leopold Figl und der österreichische Nationalrat der Nachkriegsjahre, in dem Opfer des Nationalsozialismus, politische Häftlinge, bewährte Hitler-Gegner und überzeugte Antifaschisten eine große Mehrheit hatten, mögen Fehler gemacht und Unterlassungen zu verantworten haben. Aber in einem zentralen Punkt haben sie meiner Überzeugung nach richtig gehandelt: Dass nämlich nicht Rache und Revanche an der Spitze ihres Programms gestanden ist, sondern der Versuch eines gemeinsamen Wiederaufbaues von Staat und Demokratie, und die schrittweise Versöhnung mit möglichst vielen jener, die zwar in verhängnisvoller Weise politisch in die Irre gegangen sind, sich aber persönlich nicht an Verbrechen beteiligt, sich nichts zu Schulden kommen ließen und sich darüber hinaus nach 1945 in untadeliger Weise am Wiederaufbau unseres demokratischen Gemeinwesens beteiligten. Sogar Rosa Jochmann hat sich dazu durchgerungen, zu sagen: "Vergessen nein, Verzeihen - unter diesen Voraussetzungen - ja".

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Dieses niemals Vergessen berechtigt und verpflichtet uns aus heutiger Sicht am 55. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen zu sagen:

Wir erneuern und bekräftigen die entschiedene und bedingungslose Verurteilung des Nationalsozialismus in all seinen Ausprägungen und Facetten, in allen seinen Verbrechen.

Wir sind zutiefst betroffen von der Tatsache, dass auch Österreicher in beträchtlicher Zahl an den Verbrechen und Schandtaten des NS-Regimes beteiligt waren, und schämen uns für diese Tatsache.

Wir denken mit Bewunderung und Dankbarkeit an all jene, die Widerstand geleistet, die Menschenleben gerettet, die Verfolgten Hilfe geboten oder Bedrohten zur Flucht verholfen haben.

Wir halten das entschiedene Bekenntnis gegen alle Elemente oder Reste vom Nationalsozialismus, Rassismus oder Antisemitismus auch heute und in Zukunft für unverzichtbare Bauelemente dieser unserer Republik.

Und wir wollen, dass bei der Verwirklichung dieser Ziele die strengsten europäischen Maßstäbe angelegt werden: an Österreich in gleicher Weise wie an alle anderen EU-Staaten.

DIE EU IST EIN BOLLWERK GEGEN DEN RÜCKFALL IN DIE VERGANGENHEIT

Die in der Nachkriegszeit konzipierte Europäische Union, die für mich den Inbegriff eines erfolgreichen Versuches darstellt, Lehren und Konsequenzen aus der Vergangenheit zu ziehen, ist zu einem sicheren Bollwerk gegen eben diese Vergangenheit geworden. Zu einem Bollwerk nicht nur gegen den Wahnsinn eines Krieges zwischen europäischen Demokratien, sondern auch zu einem Bollwerk gegen den Rückfall in eine Zeit, wo der europäische Humanismus mit den Stiefeln der Diktatur zertreten wurde.

Dieses positive Bekenntnis zur europäischen Integration, zur Förderung des Integrationsprozesses und zu den europäischen Werten, wie sie in den Artikeln 6 und 7 der EU-Charta verankert sind – und die nach unseren Vorstellungen durch eine Europäische Grundrechtscharta noch gefestigt und ausgeweitet werden sollten – dieses Bekenntnis rechtfertigt es meines Erachtens, an die anderen EU-Staaten, die mit Österreich ohne Ausnahme seit Jahrzehnten freundschaftliche Beziehungen haben, einen Appell, ein Ersuchen zu richten:

Führen wir den Kampf gegen Rassismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus mit aller Entschiedenheit, aber möglichst gemeinsam, so wie wir ja auch viele andere wichtige Ziele gemeinsam verfolgen.

Sind wir streng gegen jeden Fehler, jedes Versäumnis in diesem Kampf, aber auf der Basis von Kriterien, deren Einhaltung in allen 15 EU-Staaten in gleicher und rechtsstaatlicher Weise überwacht und sichergestellt wird.

Schaffen wir ein Gremium oder nutzen wir eine der bestehenden Institutionen, um diese Fragen in fairer und sorgfältiger Weise miteinander zu besprechen und zu lösen.

Das würde – so denke ich - dem gemeinsamen europäischen Gedanken, der mit dem Kampf gegen Rassismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in untrennbarer Weise verbunden ist, gerecht werden, diese Überlegungen einer fairen Prüfung zu unterziehen und gemeinsam nach der bestmöglichen Lösung dieser Probleme zu suchen.

Herr Bundespräsident! Herr Bundeskanzler! Ich heiße Sie nochmals herzlich willkommen. Ich wünsche mir, dass dieser österreichische Gedenktag und diese Veranstaltung innerhalb und außerhalb der Grenzen unseres Landes als ein Bekenntnis gegen Gewalt und Rassismus, als ein würdiges Bekenntnis gegen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus, als ein Bekenntnis für die gemeinsamen Werte Europas und als Bekenntnis für Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Toleranz verstanden wird. (Fortsetzung)