Parlamentskorrespondenz Nr. 549 vom 11.10.2000

FAMILIENAUSSCHUSS NIMMT BERATUNGEN ÜBER FAMILIENBERICHT AUF

Sickl: Flaf nicht ständig für familienfremde Zwecke "ausräumen"

Wien (PK) - Nicht nur die Expertisen der Wissenschaftler, sondern auch aktuelle politische Fragen standen heute im Mittelpunkt der Beratungen des Familienausschusses des Nationalrats über den Familienbericht 1999, die heute aufgenommen wurden. So wiesen die Vertreter der Koalition angesichts der drohenden Armutsgefährdung von Familien mit mehreren Kindern bzw. Alleinerzieher-Familien auf die Notwendigkeit hin, durch die öffentliche Hand möglichst viele Kosten für Familienarbeit abzudecken, während Grün-Abgeordneter Karl Öllinger zu bedenken gab, dass finanzielle Anreize keine Auswirkungen auf die Geburtenrate hätten. Seitens der SPÖ wurde die geplante gemeinsame Obsorge für Kinder im Scheidungsfall massiv kritisiert.

Große Beachtung unter den Abgeordneten fand außerdem die Aussage von Familienforscher Christoph Badelt, wonach das Gros der öffentlichen familienrelevanten Leistungen für die Hinterbliebenenversorgung und für Bildung ausgegeben werde, während nur ein "beschämend kleiner Teil" der Ausgaben auf Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie falle. Badelt mahnte außerdem Vorsicht bei der Kürzung der Transferleistungen an die Familien ein, da diese Familientransfers in hohem Maß unteren Einkommensschichten zugute kämen, die zum Teil ohne diese Transfers nicht leben könnten. Der Soziologe Rudolf Richter analysierte, man könne nicht von einem Bedeutungsverlust der Familie sprechen, wohl aber von einem Bedeutungsverlust der Ehe.

Sozialministerin Elisabeth Sickl verteidigte die geplante Novellierung des Kindschaftsrechts mit dem Argument, dass es bei einer Trennung von Lebensgemeinschaften bereits eine gemeinsame Obsorge für gemeinsame Kinder gebe, die künftig eben auch bei Ehescheidungen gelten soll. Sie sieht darin keinerlei Benachteiligung für Mütter. Zum Thema Familienförderung merkte sie an, "der Familienlastenausgleichsfonds soll nicht immer für familienfremde Zwecke ausgeräumt werden". Die von Badelt angesprochenen Defizite im Bereich Vereinbarkeit von Familie und Beruf will Sickl so rasch wie möglich abbauen.

Der vorliegende Familienbericht, von dem es auch eine Kurzfassung gibt, ist der vierte seiner Art. Auf insgesamt  1.200 Seiten setzen sich WissenschaftlerInnen und ExpertInnen der unterschiedlichsten Disziplinen mit aktuellen Entwicklungen im Bereich der Familie auseinander. Die Bandbreite der Expertisen reicht dabei von demografischen über rechtspolitische und ökonomische bis hin zu familienpolitischen Fragestellungen. Den vielfach geäußerten Befund, dass sich die Familie in der Krise befindet, kann der Bericht dabei nicht bestätigen, am Stellenwert der Familie hat sich Untersuchungen zufolge im vergangenen Jahrzehnt wenig geändert. Allerdings konstatieren die WissenschaftlerInnen einen gewissen Wandel. Statistisch gesehen gibt es weniger Kinder und weniger Eheschließungen, dafür aber mehr Scheidungen. Außerdem geht der Trend dahin, später zu heiraten und später ein Kind zu bekommen.

Eingeleitet wurde die Debatte über den Familienbericht mit Expertenstatements. Universitätsprofessor Rudolf Richter, Institut für Soziologie der Universität Wien, befasste sich mit dem Stellenwert der Familie in der heutigen Gesellschaft und hielt fest, man könne nicht von einem Bedeutungsverlust der Familie sprechen, wohl aber von einem Bedeutungsverlust der Ehe. Familiäre Beziehungen, unter denen sowohl Beziehungen zwischen Generationen als auch partnerschaftliche Beziehungen zu verstehen sind, hätten nicht abgenommen, die Bedeutung der Ehe gehe aber zurück. Insgesamt sei festzustellen, dass die Beziehungen innerhalb einer Generation tendenziell abnehmen, während die Beziehungen zwischen den Generationen zunehmen würden.

Was traditionelle Rollenmuster betrifft, werden Familien vor allem in jüngeren Altersgruppen Richter zufolge immer öfter zu "Aushandlungsfamilien". Es gebe keine allgemein verbindlichen Rollen- und Verhaltensmuster, an denen sich Personen, die in Familien leben, orientieren, wenn auch das traditionelle bürgerliche Familienbild noch einen gewissen Stellenwert habe.

Josef Kytir, Bundesanstalt Statistik Österreich, wies darauf hin, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau seit den siebziger Jahren anhaltend niedrig sei. Auch langfristig ist seiner Ansicht nach keine Änderung absehbar, selbst wenn die Fertilitätsrate heuer kurzfristig ansteigen dürfte. Evident ist laut Kytir außerdem, dass Paare später Kinder bekommen und später heiraten würden. Darüber hinaus würden immer mehr Frauen kinderlos bleiben, die Zahl der Scheidungen steige.

Als Ergebnis der genannten demografischen Trends sieht Kytir wachsende Geburtendefizite. Seinen Berechnungen zufolge wird die Einwohnerzahl Österreichs in den nächsten 20 Jahren stagnieren, danach werde es zu einem Rückgang der Einwohnerzahl kommen.

Martina Beham, Institut für Soziologie der Johannes Kepler-Universität, betonte ebenfalls, dass Partnerschaften nach wie vor einen sehr zentralen Stellenwert in der Gesellschaft hätten. Vor allem Jüngere würden aber neben dem Modell der Lebenspartnerschaft verstärkt auf das Modell der Lebensabschnittspartnerschaft zurückgreifen, wie es überhaupt zwischen der Einstellung zur Familie und zum realen Verhalten eine große Kluft gebe.

Auffallend sei, dass die Gründung einer Familie für Männer nach wie vor keinen Einfluss auf ihre Erwerbsbiografie habe, während sie für den Lebensverlauf von Frauen oft massive Konsequenzen bedeute, sowohl hinsichtlich ihres Berufslebens, aber etwa auch hinsichtlich der Pensionsabsicherung. Elternschaft beinhalte ein Bündel von lebenslangen Verpflichtungen, sagte Beham, die Sanktionen, wenn diese nicht eingehalten würden, seien für Frauen aber viel stärker als für Männer. Sie erachtet es daher für wichtig, nicht nur auf eine gerechte Verteilung zwischen Kinderlosen und Familien mit Kindern zu achten, sondern auch auf eine gerechte Chancen- und Riskenverteilung zwischen Vätern und Müttern. Weiters machte die Expertin auf die Zunahme von Stieffamilien aufmerksam, bei denen es aber keine Klärung von Pflichten und Rechten gebe.

Christoph Badelt, Institut für Volkswirtschaftstheorie und -politik der Wirtschaftsuniversität Wien, befasste sich mit ökonomischen Aspekten und erklärte, sämtliche Untersuchungen würden ergeben, dass Haushalte mit Kindern gegenüber Haushalten ohne Kindern wirtschaftlich benachteiligt seien, wobei die Benachteiligung mit der Zahl der Kinder steige. Familientransfers könnten die Nachteile nicht vollständig kompensieren, wobei es aber, so Badelt, eine politische Frage sei, inwieweit die Nachteile tatsächlich vollständig kompensiert werden sollten. Besonders armutsgefährdete Familientypen sind ihm zufolge Familien mit mehreren Kindern, vor allem wenn es sich um Alleinerzieher- oder Alleinverdienerfamilien handle.

Eine Untersuchung der familienrelevanten öffentlichen Ausgaben hat nach Auskunft Badelts ergeben, dass der Löwenanteil auf die Bildung und auf die Hinterbliebenenversorgung bzw. Mitversicherung falle. Die Ausgaben für Maßnahmen zur Vereinbarkeit zwischen Erwerbsarbeit und Familie seien demgegenüber "beschämend klein".

Familientransfers kommen, so die Forschungsergebnisse Badelts, vor allem den untersten Einkommensschichten zugute. Viele der betroffenen Familien könnten ohne sie nicht leben. Er mahnte daher Vorsicht bei der Kürzung dieser Transferzahlungen ein und nannte als ein Beispiel Kinderzuschläge zum Arbeitslosengeld.

Gabriele Schmid, Arbeiterkammer Wien, vermisst im Familienbericht, wie sie ausführte, Untersuchungen und Prognosen, die die zunehmende "Ergrauung" der Gesellschaft aufzeigten. Es werde nicht nur einen Anstieg alter Menschen geben, auch deren Pflegebedürftigkeit werde zunehmen. Um der dadurch bedingten massiven Arbeitskräfteknappheit entgegenzuwirken, rege die EU, so Schmid, an, die Frauenerwerbsquote zu steigern. Sie sieht aber keine entsprechenden Schritte in Österreich. Auch das Problem der sozialen Absicherung von Frauen nach Scheidungen wird nach Meinung der Expertin im Familienbericht zu wenig behandelt.

Günther Danhel, Direktor des Instituts für Ehe und Familie, vertrat die Auffassung, bedeutsamstes Ziel von Familienpolitik müsse die Abgeltung von Familienarbeit sein. Er urgierte eine Art "Erziehungseinkommen", da ein solches nicht nur eine finanzielle Vergütung von Familienleistungen und eine Anerkennung der Familienarbeit wäre, sondern auch zu einer besseren und konfliktfreieren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen würde. Zudem wäre damit die Wahl zwischen familiärer und außerfamiliärer Kinderbetreuung gegeben. Danhel kritisierte, dass Familien oft als eine Art von Sozialhilfeempfänger angesehen würden.

Irene Kernthaler, Österreichisches Institut für Familienforschung, führte aus, die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse seien nicht so einfach auf den Punkt zu bringen. Sie äußerte aber die Hoffnung, dass die zahlreichen Fakten im Familienbericht zu einer Versachlichung der Diskussion beitragen werden.

Agnes Streissler, Arbeiterkammer Wien, beklagte, dass das "traditionelle Familienbild" überstrapaziert werde, damit sich Männer "dahinter verschanzen können". Frauen seien zwar immer häufiger berufstätig, gleichzeitig wären sie aber nach wie vor hauptverantwortlich für die Familienarbeit. Was die wirtschaftlichen Benachteiligungen von Familien mit Kindern betrifft, sieht es Streissler als Grundkonsens, dass nicht alle Mehrkosten von der Gesellschaft abgegolten werden können, man müsse sich daher die Frage stellen, wie viel und in welchen Bereichen man abdecken wolle. Für das probateste Mittel gegen Armut in der Familie hält die Expertin die Berufstätigkeit beider Elternteile.

An die Statements der Experten und Expertinnen schlossen sich Stellungnahmen der Abgeordneten an. Abgeordnete Gabriele Heinisch-Hosek (S) bemängelte, dass der Familienbericht zu wenig auf die Sicht des Kindes eingehe. So könnte man ihrer Meinung nach viele Daten hinsichtlich der Armutsgefährdung gewinnen, wenn man Kinder frage. Ihr zufolge wäre es außerdem an der Zeit, sich intensiver mit dem Thema Stieffamilien zu beschäftigen.

Kritisch äußerte sich Heinisch-Hosek zur geplanten gemeinsamen Obsorge für Kinder nach Ehescheidungen. Davon würden nur wenige Kinder profitieren, meinte sie, während es für die meisten Nachteile bringen werde, da sie in Konflikte hineingezogen würden. Dieser Kritik schlossen sich auch ihre Fraktionskolleginnen Barbara Prammer und Gabriele Binder an. Es gebe im Familienbericht keinerlei Hinweise darauf, dass eine gemeinsame Obsorge notwendig wäre, betonte Binder.

Abgeordnete Edith Haller (F) wies darauf hin, dass für 90 % der Österreicher Familie wichtig sei. Große Sorge bereitet ihr, wie sie sagte, dass bereits 40 % der Ehen geschieden würden und es dadurch immer mehr Scheidungskinder gebe. Den Geburtentrückgang führt Haller auf die Folgen und Risken der Elternschaft zurück, aber auch auf den geringen Stellenwert, den Mehrkinderfamilien in der Gesellschaft hätten.

Im Gegensatz zur SPÖ glaubt Haller, dass die gemeinsame Obsorge für Kinder nach Ehescheidungen Vorteile für die Kinder bringen wird. Für die gesunde Entwicklung von Kindern sei die Betreuung der Väter notwendig, unterstrich sie. Hallers Fraktionskollege Abgeordneter Wilhelm Weinmeier bedauerte, dass es kaum noch Familien gebe, wo mehrere Generationen zusammenlebten.

Abgeordneter Nikolaus Prinz (V) räumte ein, dass man nicht alle Kosten für Familien durch die öffentliche Hand abgelten könne, es müsse aber das Ziel der Politik sein, möglichst viele Kosten abzudecken. Er trat darüber hinaus für eine weitestgehende Wahlmöglichkeit dahin gehend ein, ob beide Elternteile erwerbstätig sein wollen oder nicht. Sein Fraktionskollege Gerhart Bruckmann sagte zum Thema Bevölkerungsentwicklung, die niedrige Geburtenrate sei bisher durch die höhere Lebenserwartung kompensiert worden.

Abgeordneter Karl Öllinger (G) gab zu bedenken, dass finanzielle Anreize keine Auswirkung auf die Geburtenrate hätten. Seiner Auffassung nach sollte man sich über ideologische Grenzen hinweg darauf verständigen, familiale Beziehungen zu fördern, ohne eine bestimmte familiale Beziehung zu bevorzugen. Genau dies werde aber bei der geplanten gemeinsamen Obsorge getan. Die wirtschaftliche Belastung ist für Öllinger nur eines der Probleme, denen Familien gegenüberstehen. Aufmerksamkeit müsse man auch dem Problemfaktor Zeit widmen.

Sozialministerin Elisabeth Sickl unterstrich, ihr gehe es vor allem um die soziale Sicherheit von Familien, um die Gleichstellung der Frauen und um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Diagnose, dass verschwindend wenig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgegeben werde, sei Wasser auf ihre Mühlen, sagte sie. "Das sind Defizite, mit denen wir rasch fertig werden müssen."

Die Sozialministerin will der Wirtschaft verstärkt bewusst machen, dass auch sie eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie habe. Ihrer Ansicht nach würden familienfreundliche Maßnahmen auch Vorteile für die Betriebe bringen. Außerdem kündigte sie an, ihr Ressort werde ein Audit für familienfreundliche Gemeinden ausarbeiten.

Was die geplante gemeinsame Obsorge für Kinder nach Ehescheidungen betrifft, machte Sickl darauf aufmerksam, dass es bei Lebensgemeinschaften auch im Falle einer Trennung bereits eine gemeinsame Obsorge gebe. In der Ehe werde nun "nachgezogen". Sickl betonte, dass das Einvernehmen der Eltern die Voraussetzung für eine gemeinsame Obsorge sei, daher erwartet sie auch keine Benachteiligung der Mütter.

Als Mittel gegen die Armutsgefährdung von Familien sieht die Ministerin die Einführung des Kinderbetreuungsgeldes, da dieses sowohl präventiv als auch individuell helfend wirken könne. Allgemein erklärte sie, der Familienlastenausgleichsfonds dürfe nicht immer für familienfremde Zwecke "ausgeräumt" werden.

In einer Antwortrunde der Experten ging Christoph Badelt auf die verschiedenen Konzepte, Armut zu messen, ein und verwies auf die unterschiedlichen Messmethoden. Rudolf Richter bemühte sich um eine Definition der Begriffe "Familie" und "Generation" und konstatierte einen europaweit unterschiedlichen Zugang zum Familienbegriff und machte dies an den Beispielen Spanien, Österreich und Schweden deutlich. Sodann ging Josef Kytir auf den Zusammenhang zwischen Entwicklung der Geburtenrate einerseits und sozialer Situation andererseits ein und wies auf den Zusammenhang zwischen den Sparpaketen und der in diesem Zeitraum zurückgegangenen Geburtenrate hin. Martina Beham thematisierte die Forschungssituation zum Thema Stieffamilien und erinnerte daran, dass Elternbildung de facto immer noch "Mütterbildung" sei. (Fortsetzung)