Parlamentskorrespondenz Nr. 659 vom 15.11.2000

GEMEINSAME OBSORGE BEI EXPERTEN UND POLITIKERN HEISS UMSTRITTEN

Justizausschuss setzt Hearing über Kindschaftsrecht fort

Wien (PK) - Bei Experten wie Politikern gleichermaßen umstritten war die gemeinsame Obsorge beider Elternteile für das Kind nach der Scheidung bei der Fortsetzung des Hearings zum Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 heute im Justizausschuss des Nationalrats. An der Sitzung, die von der Obfrau des Justizausschusses, Maria-Theresia Fekter, geleitet wurde, nahm auch Justizminister Dieter Böhmdorfer teil. Nach der Anhörung von einem Dutzend weiterer Experten richteten die Mitglieder des Ausschusses ihre Fragen an die Experten.

Zu Beginn der Sitzung wurde die Liste der zu dem Hearing geladenen Experten bzw. Institutionen einhellig - nachdem in der letzten Sitzung ein entsprechender Antrag der Grünen von der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden war - um die Kinder- und Jugendanwaltschaft ergänzt.

Als erster von insgesamt 12 Experten kam Univ.Prof. Ernst Berger (Neurologische Klinik) zu Wort. Er setzte sich kritisch mit dem umstrittensten Thema der Vorlage, der gemeinsamen Obsorge, auseinander. Das zentrale Problem lokalisierte der Wissenschaftler im automatischen Fortbestehen der gemeinsamen Obsorge nach der Scheidung, weil dies zu einer konfliktträchtigen Situation führe. Wünschenswert wäre der Schutz der Kinder vor einer Involvierung in die Konfliktsituation. Er untermauerte seine kritischen Einwändungen mit Beispielsfällen aus der Praxis. Berger sprach sich für die Beibehaltung der derzeit gegebenen Rechtslage aus, verbunden mit einer Evaluierung, auf deren Grundlage Regelungen getroffen werden sollten.

Brigitte Birnbaum (Österreichischer Rechtsanwaltskammertag) wies darauf hin, dass der Wunsch nach gemeinsamer Obsorge von einer "neuen Vätergeneration" stamme. Das Engagement dieser Väter würde auch von vielen Müttern geschätzt. Sie sehe keinen Grund, die gemeinsame Obsorge, wie sie in der Vorlage geregelt werde, nicht vorzusehen. Zweifel äußerte die Expertin hingegen u.a. an der Mediation als geeignetem Mittel der Konfliktlösung, weil ein Gelingen der Mediation Freiwilligkeit der Teilnehmer voraussetze. An den Justizminister appellierte Birnbaum, die Mediation in einem eigenen Gesetz zu regeln, speziell hinsichtlich der dazu erforderlichen Ausbildung.

Wo das Wohl des Kindes bei Beibehaltung des Status quo nicht gefährdet ist, sollte sich der Staat nicht einmischen, monierte Robert Fucik (Fachgruppe Familienrecht in der Richtervereinigung). In der geltenden Regelung aber entziehe der Staat bei Scheidung einem Elternteil die Obsorge. Eine Vollmachtlösung reiche nicht zur Sicherstellung der gemeinsamen Obsorge. Die gemeinsame Obsorge "in jedem Fall" werde aber nicht gehen, meinte Fucik, eine Kontrolle der Mindestkonsensfähigkeit sei nötig. Er sprach sich für die gemeinsame Obsorge durch gemeinsamen Antrag aus und regte an, sie von einer Unterhaltsvereinbarung abhängig zu machen. Als positiv bewertete der Jurist die Stärkung der Parteienrechte des Kindes, die Einführung der Besuchsbegleitung und die Liberalisierung des Pflegschaftsrechtes.

Brigitte Hornyik (Verwaltungsjuristin am Verfassungsgerichtshof) betonte eingangs, nicht für den Verfassungsgerichtshof zu sprechen, zumal der VfGH im Prozess der Gesetzwerdung nicht Stellung nehme. Sie regte zunächst an, im Zusammenhang mit der geplanten Senkung des Volljährigkeitsalters eine Abfederung bei den Unterhaltsleistungen vorzunehmen, weil sonst die Gefahr bestehe, dass junge Menschen um ein Jahr weniger Unterhalt bekämen. Zum Thema gemeinsame Obsorge könne sie nichts sagen, erklärte sie pointiert, weil es weder nach der geltenden Rechtslage noch nach dem Entwurf eine solche gebe. Im Gegensatz zur deutschen Rechtslage, wo es die gemeinsame Sorge sowohl während der Ehe als auch nach einer Scheidung gebe, gebe es in Österreich grundsätzlich die alleinige Vertretung durch jeden Elternteil. Unbestritten sei, dass Kinder Vater und Mutter brauchen, betonte Hornyik, es sollte aber nicht um Recht und Macht, sondern um die Wahrnehmung der täglichen Verpflichtungen gehen. Eine einvernehmliche Regelung sei am besten, und die herrschende Regelung lasse dafür alle Möglichkeiten offen. Grundsätzlich seien Gesetze für Konfliktsituationen da, man sollte daher nicht vom Einvernehmen ausgehen. Der Entwurf erzeuge neue Unklarheiten und es sei schwer vorstellbar, dass der Grundsatz "getrennt leben - vereint erziehen" umsetzbar sei. Hornyik sprach sich dafür aus, zunächst die Entwicklung in Deutschland zu beobachten und abzuwarten und appellierte an den Gesetzgeber, sich Zeit zu lassen.

Massive Bedenken gegenüber der Vorlage äußerte anschließend Helene Klaar (Rechtsanwältin in Wien). Der Entwurf weise Ähnlichkeiten mit "Rechtsfossilien" auf, in denen vieles der Zustimmung des Vaters bedurfte und die Mütter auf Pflege und Erziehung - wie vor 1978 - beschränkt waren. Die derzeit geltende Rechtslage trage den Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung, betonte Klaar, und habe sich bewährt, ein Änderungsbedürfnis sei daher nicht gegeben. Der Entwurf ändere am Kontaktproblem nichts und es sei übertriebener Optimismus zu glauben, dass nach der Scheidung gelingen werde, was in guten Zeiten nicht gelungen sei. Durch die geplante Regelung würde zusätzlicher Druck auf jenen Elternteil entstehen, bei dem die Kinder lebten, kaum aber auf jenen, bei dem sie nicht lebten. Kritisch äußerte sich Klaar auch zu weiteren Punkten der Vorlage wie zur Unterhaltsproblematik. Mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz würde die Familienrechtsreform endgültig zu Fall gebracht, befürchtet Klaar.

Peter Schlaffer (Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft) sprach sich dafür aus, dass die Sachwalter auch in Zukunft nicht nur auf Sachwerte achten, sondern auch die Personensorge im Auge behalten sollten. Mehrere Einwändungen und Details, die von den Sachwaltern bzw. deren Organisationen vorgebracht wurden, seien in einen Abänderungsantrag eingegangen, zeigte sich Schlaffer zufrieden.

Aus der Tatsache, dass 40 von 100 Ehen geschieden werden, leitete Gabriela Thoma-Twaroch (Fachgruppe Familienrecht in der Richtervereinigung) Handlungsbedarf aus rechtlicher wie aus psychologischer Sicht ab. Es gehe um die Schaffung eines Bewusstseins für elterliche Verantwortung auch nach einer Scheidung, und die Bedeutung des Kontakts von Kindern zu beiden Eltern sei unbestritten. Für den Konfliktfall und bei der Gefährdung des Kindes sei eine richterliche Entscheidung erforderlich. Die Expertin sprach sich für eine Vereinbarung betreffend den Aufenthalt des Kindes und über den Unterhalt aus. Zusammenfassend formulierte Thoma-Twaroch, Eltern sollten in ihrer gemeinsamen Verantwortung bleiben, wenn sie diese wahrzunehmen in der Lage sind, sonst solle das Gericht eingreifen.

Ingrid Piringer (Plattform für Alleinerziehende) brachte ihre und ihrer Organisation Ablehnung der gemeinsamen Obsorge als Regelfall zum Ausdruck. Gemeinsame Obsorge solle es auf gemeinsamen Antrag beider Eltern geben; so sei gesichert, dass es eine bewusste Entscheidung sei. Piringer sprach sich für eine einjährige Beruhigungsphase nach der Scheidung aus, auf eine einjährige Probephase im Anschluss daran könnte aber verzichtet werden. Vor der gemeinsamen Obsorge sollte es ein Informations- und Beratungsgespräch geben, regte die Expertin an, bei Einführung der gemeinsamen Obsorge eine Begleitstudie über die Auswirkungen.

Elisabeth Paschinger (Verein der Amtsvormünder Österreichs) erinnerte an die Regierungserklärung, in der von gemeinsamer Obsorge auf Antrag die Rede gewesen sei. Die Expertin sieht die Gefahr, dass Frauen unter Druck zu Konzessionen bereit sein könnten und befürchtet die Vermehrung von Konflikten bei der Umsetzung des Entwurfs. Klare Regelungen seien aber gerade im Konfliktfall nötig. Jede Scheidung bedeute für das Kind einen Verlust, und die gemeinsame Obsorge werde Väter nicht hindern, wegen Unterhaltsschulden unterzutauchen. Auch Paschinger sprach sich für ein "Abkühlungsjahr" aus. Das Kindschaftsrecht sei keine "Spielwiese für Machtspiele", sondern sollte dem Kind Schutz bieten, betonte sie und appellierte an die Abgeordneten, die Obsorgeregelung noch einmal zu überdenken.

Monika Pinterits (Kinder- und Jugendanwaltschaft der Stadt Wien) kritisierte, dass erst jetzt die Möglichkeit zu einer Diskussion bestehe und meinte, die Auseinandersetzung zum Thema gemeinsame Obsorge müsse jetzt nicht enden, sondern anfangen. Sie sprach sich klar gegen die gemeinsame Obsorge aus und meinte, die alleinige Obsorge verhindere nicht, dass der andere Elternteil den Kontakt mit dem Kind aufrecht erhalte. Wichtig sei die Ermöglichung einer konfliktarmen Sozialisation von Kindern; Eltern, die zu gemeinsamem Handeln im Interesse des Kindes nicht fähig sind, dürften die gemeinsame Obsorge nicht bekommen. Pinterits sprach sich für eine Evaluierungphase aus und monierte, dass Kinder noch mehr gehört werden sollten.

Bedenken gegen die Regierungsvorlage brachte Edgar Pree als Vertreter des Vereins des Rechtes des Kindes auf beide Eltern, der dem Entwurf allerdings eine, wie er sagte, atmosphärische Trendwende in Richtung Aufrechterhaltung der Elternrolle beider Elternteile konzedierte. Es gehe aber nicht um Rechtsakte wie Passanträge oder Schuleintritt, sondern vielmehr um einen menschenwürdigen Kontakt zum eigenen Kind, um Pflege und Erziehung. Das Besuchsrecht allein bezeichnete Pree als absurd, da der nichtbetreuende Elternteil – meist der Vater - nicht die Obsorge habe und bloß bei der Erziehung seines Kindes „zuschauen dürfe“.

Das Konzept, wie es in der Regierungsvorlage zum Ausdruck kommt, sei deshalb nicht ausreichend. Es gebe dem nichtbetreuenden Elternteil weder eine eigene Funktion noch ein geschütztes Recht auf Kontakt, es dränge ihn vielmehr an den Rand, lautete der zentrale Kritikpunkt Prees, der in diesem Zusammenhang auch von Geschlechterkampfpolitik sprach.

Resümierend auf die Referate der Experten stellten die Abgeordneten Barbara Prammer (S) und Terezija Stoisits (G) fest, die Unklarheiten bei Unstimmigkeiten der Eltern über die Obsorge seien nach wie vor nicht ausgeräumt, auch gehe das Konzept des Entwurfes zu Lasten der Frauen.

Abgeordneter Johannes Jarolim (S) zeigte sich irritiert darüber, dass die sogenannte Abkühlphase aus dem Gesetzesentwurf wieder herausgenommen wurde. Im Gegensatz dazu sprachen sich die Abgeordneten Edith Haller und Sylvia Paphazy (beide F) für eine Eliminierung dieser Abkühlungsphase aus.

Abgeordnete Ilse Mertel (S) wiederum vermisste Bestimmungen im Gesetz, die die Erfüllung der Pflichten des nicht betreuenden Elternteiles sicherstellen.

Mit Nachdruck wandte sich Abgeordneter Josef Trinkl (V) gegen den Grundsatz: “Wer die Arbeit hat, der soll auch über das Kind entscheiden“. Entscheidend dürfe allein das Wohl des Kindes sein, betonte Trinkl.

Vor übertriebenen Erwartungen an die neue Regelung warnte Abgeordneter Harald Ofner (F) unter Hinweis auf seine vierzigjährige Anwaltstätigkeit. Dort, wo die Betroffenen es nicht wollen, werde sich die gemeinsame Obsorge auch nicht durchsetzen können, meinte er.

Justizminister Dieter Böhmdorfer interpretierte die Obsorge beider Elternteile als Angebot, das sich an die geschiedenen Ehegatten richtet und dem Modell der Betreuung des Kindes während aufrechter Ehe entspricht. Er rechnete damit, dass mehr als sechzig Prozent der betroffenen Eltern dieses Modell annehmen werden.

Die Herausnahme der Abkühlungsphase aus dem Entwurf begründete er mit ausländischen Erfahrungen. Die Väter würden Gefahr laufen, durch diese Abkühlungsphase von ihren Kindern entfremdet zu werden.

Nach dem heutigen Hearing wurden die Beratungen des Justizausschusses auf Donnerstag, 16. November, 17 Uhr, vertagt.

(Schluss)