Parlamentskorrespondenz Nr. 247 vom 29.03.2001

NATIONALRAT DEBATTIERT ERGEBNISSE DES EUROPÄISCHEN RATES IN STOCKHOLM

Schüssel: Österreich ist in vielen Bereichen führend

Wien (PK) - Ehe der Nationalrat sich in der heutigen Sitzung , entsprechend der ursprünglichen Planung, mit dem Budget 2002 befasste, ging es um Europa. Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL gab eine Erklärung zum Thema "Ergebnisse des Europäischen Rates in Stockholm" ab, die im Anschluss debattiert wurde.

Am Beginn seiner Erklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Stockholm ging Bundeskanzler Dr. Schüssel kurz auf die Beschlüsse in Lissabon ein, wo als ehrgeiziges Ziel formuliert worden war, Europa bis 2010 zur wettbewerbsstärksten und dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen. In Stockholm, so der Regierungschef, habe man das erste Stockwerk gebaut, mit dem Haus sei man noch lange nicht fertig. Wenn auch mutigere Entscheidungen wünschenswert gewesen wären, so könne dennoch eine positive Bilanz gezogen werden, da eine wichtige Zwischenstation, Europa zur Konjunkturlokomotive der Welt zu machen, gelungen sei.

Der Bundeskanzler unterstrich eingangs, dass Österreich bei der Budgetkonsolidierung gut unterwegs sei und vom Schlusslicht nun eine gute Mittelposition erreicht habe. Ein zentrales Thema sei in Stockholm die nachhaltige Sicherung der Pensionssysteme gewesen, wobei vor allem die Anhebung der Beschäftigungsquote älterer ArbeitnehmerInnen auf 50 % angepeilt werde. Der österreichische Weg einer behutsamen und sozial verträglichen Anhebung des Frühpensionsalters habe sich dabei als absolut richtig erwiesen, nur ein rechtzeitiges Handeln könne vor einem Zusammenbruch der Altersversorgung bewahren. Man habe auch vereinbart, die Erwerbsquote von Männern auf 67 % und von Frauen auf 57 % bis 2005 zu erhöhen. Zum ersten Mal sei auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Thema gewesen, und Österreich habe mit seinem Modell des Kinderbetreuungsgeldes und die dadurch erstmals bestehende echte Wahlmöglichkeit für Väter und Mütter einen "Quantensprung" erzielt, womit man in diesem Bereich international gesehen die Spitze einnehme.

Schüssel hielt fest, dass Österreich vor allem in jenen Bereichen, wo es um sogenannte "soft issues", wie Familie, Arbeit, Einkommensverteilung, Umwelt und Bildung gehe, Spitzenplätze im internationalen Vergleich einnehme, überall dort, wo zu lange reguliert worden sei, lägen wir noch immer im Schlussdrittel. In diesem Zusammenhang erwähnte der Bundeskanzler abermals die zusätzlichen 8 Mrd. S für die Universitäten und 7 Mrd. S für die Schulen, unterstrich jedoch gleichzeitig dass auch an den Universitäten mehr Leistungsgesinnung und Leistungswettbewerb einkehren müssten.

Die Liberalisierung sei Schüssel zufolge kein Selbstzweck, man müsse daher den Menschen erklären, dass billigeres Erdgas, niedrigere Strom- und Telekompreise, ein effizienteres und besseres Postservice und wettbewerbsstarke Bahnverbindungen ein Vorteil für den Standort in Europa seien. Er bedauerte es sehr, dass es nicht gelungen sei, ein Datum für die Liberalisierung des Gas- und Strommarktes festzulegen, zeigte sich jedoch zufrieden, dass die Kommission beauftragt worden sei, Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern.

In Anerkennung der Arbeit des Finanzministers hob Schüssel insbesondere den Startschuss für die Regulierung des Wertpapiermarktes hervor. Ein deutlicher Schwerpunkt sei auch im Bereich der Biotechnik unter Wahrung ethischer und moralischer Aspekte gesetzt worden, auch die Umweltdimension sei laut Schüssel neben wirtschaftlichen Aspekten als zentrales Anliegen formuliert worden.

Abschließend wandte sich Schüssel der außenpolitischen Dimension des Rates zu und unterstrich die Bedeutung der Diskussion mit dem russischen und mit dem mazedonischen Präsidenten. Als einen großen Fortschritt im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union bezeichnete der Bundeskanzler die Tatsache, dass es gemeinsam mit Deutschland gelungen sei, eine siebenjährige Übergangsfrist im Hinblick auf die Freizügigkeit des Arbeitsmarktes zu erreichen. Das Modell soll flexibel sein, meinte Schüssel und könne durch bilaterale Verträge leicht geändert werden. Auch eine Verkürzung der Frist sei nach einstimmigen Beschlüssen möglich. Damit sei man in eine entscheidende Phase der Erweiterungsverhandlungen eingetreten.

Abgeordneter Dr. EINEM (S) zog im Gegensatz dazu eine negative Bilanz des Gipfels, da man nur technokratische Ergebnisse für den europäischen Binnenmarkt erzielt habe. Dieser sei jedoch nicht das Ziel an sich, so Einem, sondern nur ein Hilfsmittel für ein gutes Alltagsleben der Menschen in Europa. Man werde bei den BürgerInnen nur dann mehr Interesse für Europa wecken können, wenn nicht technokratische Fragen, sondern jene des Alltags im Mittelpunkt österreichischer und europäischer Politik stünden, wie Arbeit, soziale Sicherheit oder Perspektiven für Frauen und Männer, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.

Einem forderte in diesem Zusammenhang eigenständige europäische Handlungsweisen mit einer eigenständigen demokratischen Legitimation auf europäischer Ebene. Diese Demokratisierung der EU müsse nun konkret und zeitgerecht vor dem nächsten Gipfel vorbereitet werden, wo es um Institutionenreform, Kompetenzbereinigung und Subsidiarität gehe. Die Unart der Regierungschefs, sich auf den Gipfeln "Hahnenkämpfe" zu liefern, müsse überwunden werden.

Einem vermisste vor allem österreichische Schwerpunktsetzungen bei den Themen sozialer Zusammenhalt, Sicherung des solidarischen Systems der Pensionen und konkrete Maßnahmen zugunsten der Frauen. Bei der Konjunktur habe Österreich von Europa profitiert, seine Vorreiterrolle in der Arbeitsmarktpolitik habe man jedoch abgegeben und durch die Budgetpolitik nur die Konjunktur geschwächt. Die Sicherung der Pensionen könne nur dadurch erreicht werden, dass mehr Menschen gute Arbeit finden und damit auch mehr einzahlen. Das Kindergeld sei kein konkreter Beitrag für gleiche Entlohnung von Frauen und Männern und gegen die Diskriminierung am Arbeitsplatz. Ihm, Einem, fehlen auch Vorschläge, wie man die Geldpolitik einsetzen könne, um das europäische Wirtschaftswachstum sicher zu stellen.

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) wies in einer Replik auf seinen Vorredner darauf hin, dass die schwedische Präsidentschaft von SozialdemokratInnen geführt werde. Wenn man die Zielsetzungen des Gipfels, wie Vollbeschäftigung, weniger staatliche Beihilfen, Förderung der Mobilität, Modernisierung der Sozialsysteme und neue Technologien Revue passieren lasse, so stelle sich heraus, dass Österreich mit seiner Politik einen Vorgriff auf diese Schlussfolgerungen gemacht habe. Der österreichische Weg im Hinblick auf die demographische Herausforderung zur Sicherung der Pensionen habe sich ebenfalls als richtig erwiesen.

Auch Spindelegger wertete das Zusammentreffen mit Präsident Putin als außerordentlich wichtig im Sinne der Außenpolitik der EU, da eine Verstärkung der Zusammenarbeit Erleichterungen bei Diskussionen über humanitäre Fragen bringen werde. Die nun festgeschriebenen Übergangsfristen in Bezug auf die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen sei ein großer Erfolg der österreichischen Außenpolitik im Interesse der Grenzregionen, meinte der Redner.

Trotz dieser positiven Beurteilung des Gipfels hielt Spindelegger Kritik für berechtigt, da sich die einzelnen Präsidentschaften zu sehr unter Druck setzten, große Sprünge machen zu müssen. Die ersten Gipfel sollten daher als informelle Gipfel neu gestaltet werden. Auch Spindelegger sprach sich für eine Verfassungsreform auf europäischer Ebene mit den Schwerpunkten Kompetenzbereinigung, Grundrechte, Verfassungs- und Aufgabenkritik aus.

Abgeordnete Dr. LICHTENBERGER (G) monierte das Thema Post-Nizza-Prozess und wertete es als einen eklatanten Mangel, dass weder in den Schlussfolgerungen noch in der Rede des Bundeskanzlers dieser Aspekt angeschnitten worden sei.

Die auf dem Gipfel festgelegten Strategien, um die Herausforderungen der demographischen Entwicklung bestehen zu können, hält die G-Mandatarin für den falschen Weg, da unterschiedliche nationale Systeme auch unterschiedliche Lösungen und keine zentralen Ankündigungen brauchten. Notwendiger wäre es gewesen, Mindeststandards festzulegen und die Durchlässigkeit der Systeme durch die Anrechenbarkeit von Jahren und Leistungen zu gewährleisten. In dieser Hinsicht stehe man heute vor einem "Desaster", was die Mobilität erschwere.

Mit der Erhöhung der Frauenerwerbsquote werde man auch kein Pensionssystem sichern und keine Gerechtigkeit herstellen können. Vielmehr befürchtet Lichtenberger die Zunahme der "working poor" unter den Frauen. Auch habe keine einzige europäische Zeitung die Lobhudelei in Bezug auf das Kindergeld geteilt. Ein positiver Aspekt stelle für sie die Festlegung der Berücksichtigung des Kyoto-Ziels dar. Hier müsse Österreich Vorreiter sein, verlangte Lichtenberger.

Für Abgeordneten Mag. SCHWEITZER (F) sei es dieser Bundesregierung im Gegensatz zu den vorangegangenen erstmals gelungen, sowohl in Nizza als auch in Stockholm Spuren zu hinterlassen und eigene Interessen erfolgreich zu vertreten.

Dennoch habe Stockholm einmal mehr gezeigt, dass die Europäische Union keine Union der Bürger sei und nur der Aufbau des Binnenmarktes gut funktioniere. So sei die EU beispielsweise im Bereich der Sicherheitspolitik der Nachweis ihrer Kompetenz bislang schuldig geblieben. Schweitzer kritisierte auch scharf, dass sich die schwedischen Präsidentschaft an der Realität von BSE, Maul- und Klauenseuche sowie Dioxin habe vorbeischwindeln wollen. Die Erklärung, man werde das in den Griff bekommen, sei einfach zu wenig. Der F-Mandatar nahm in diesem Zusammenhang die Gelegenheit wahr, die europäische Agrarpolitik einer überaus harten Kritik zu unterziehen und forderte vehement eine umfassende Reform auf diesem Sektor. Es sei höchste Zeit, eine Abkehr von der Dominanz des ungezügelten Freihandels wegzukommen, denn dieser führe in die Sackgasse. Dabei stellte er auch Überlegungen an, die Agrarpolitik auf die nationale Ebene zurückzuführen, sofern es keine einschneidenden Reformmaßnahmen gebe. Bei der Neuordnung der Kompetenzverteilung ortete er grundsätzlich dringenden Handlungsbedarf.

Schweitzer widmete sich abschließend der Osterweiterung und bezeichnete die Finanzierung als eine zentrale Frage. Er trat mit allem Nachdruck dafür ein, das Regierungsübereinkommen zu dieser Frage auf Punkt und Beistrich einzuhalten, da die Erweiterung "bürgerverträglich" zu erfolgen habe. Er begrüßte ausdrücklich die Übergangsfristen als legitim. Innerhalb dieser sieben Jahre habe man aber genau zu definieren, welche Standards in den Beitrittsländern zu erreichen sind. Es werde daher wichtig sein, relativ rasch, unsere Vorausssetzungen zu definieren, unter denen wir uneingeschränkt einer Erweiterung der EU im Interesse der ÖsterreicherInnen zustimmen können.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) konfrontierte den Bundeskanzler mit der Frage, wo die Friedensinitiative der Bundesregierung für Mazedonien bleibe. Mängel registrierte die Rednerin auch in der Politik Österreichs gegenüber den näheren Nachbarn. Die Außenministerin rede zwar von einer strategischen Partnerschaft mit den Beitrittskandidaten, der Bundeskanzler zeige sich aber stolz darauf, mit seinem deutschen Amtskollegen siebenjährige Übergangsfristen zu verlangen. Darin bestehe ein Widerspruch, stellte Lunacek fest. Den Bundeskanzler sah die Rednerin dem Druck der Freiheitlichen nachgeben, die Bundesregierung zeige in der Außenpolitik "innenpolitisch motivierte Mutlosigkeit".

Abgeordneter Dr. STUMMVOLL (V) bemühte sich um eine Antwort auf die Frage, wo Österreich im Rahmen der europäischen Entwicklung liege. "Auf richtigem Kurs", sagte er und begründete diese Einschätzung, indem er auflistete: Spektakuläre Verbesserung der österreichischen Budgetpolitik unter dem neuen Finanzminister laut EU-Kommission; die EU-Länder sprechen in Stockholm vom Weg zur Vollbeschäftigung - in Österreich herrscht Vollbeschäftigung; Österreich setze sanfte Schritte zur Erhöhung des Pensionsalters und eine Milliarde Schilling für die Integration Behinderter ein; das österreichische Kindergeldmodell habe Vorbildfunktion für Europa und durch Fortschritte in der Privatisierungspolitik sei es gelungen, die Telekom- und Stromkosten zu senken. Das nütze dem Wirtschaftsstandort, damit aber nicht genug, resümierte Stummvoll weiter und erwähnte die Kapitalmarktoffensive und die bevorstehende Reform der Bankenaufsicht. "Man sollte so ehrlich sein zuzugeben, dass diese Bundesregierung in wichtigen Bereichen der Politik auf dem richtigen Weg ist", schloss Abgeordneter Stummvoll.

Abgeordneter DDr. NIEDERWIESER (S) hielt seinem Vorredner die Feststellung entgegen, die Leidtragenden dieser Politik seien die Österreicher und Österreicherinnen. Er vermisste das energische Eintreten des Bundeskanzlers für die Interessen der Bürger. Statt sich in Stockholm mit dem Problem der Flugverspätungen zu beschäftigen, wäre es wichtiger gewesen, den ausgezeichneten Transitvertrag im Interesse der lärm- und abgasgeplagten Tiroler Bevölkerung zu verteidigen. Das Kindergeldprojekt verkaufe diese Regierung bereits als europäisches Modell, bevor noch die Details geklärt und die Frage beantwortet sei, wie es letztlich aussehen werde, kritisierte Niederwieser. Der Bundeskanzler sollte das Parlament darüber informieren, was er in Stockholm tatsächlich im Interesse der österreichischen Bürger getan habe.

(Ende EU-Rat, Fortsetzung Budget)