Parlamentskorrespondenz Nr. 791 vom 19.11.2001

EIN ZERRISSENER ZWISCHEN PRAGMATISMUS UND LIBERALER UNGEDULD

Anton Ritter von Schmerling (1805 - 1893)

Der Ort des Schmerlingplatzes in Wien – zwischen Parlament und Justizpalast - wurde nicht zufällig gewählt, symbolisiert er doch in mehrerlei Hinsicht Lebensweg und nachhaltige Bedeutung von Anton Ritter von Schmerling. Als "Vater der Verfassung" ersetzte er das föderalistische Oktoberdiplom des Jahres 1860 durch das zentralistisch geprägte Februarpatent 1861, das auch als Geburtsurkunde des österreichischen Parlaments gilt, und regierte mit dieser Verfassung gestützt auf die Deutsch-Liberalen im Abgeordnetenhaus, dem der Volksmund bald die Bezeichnung "Schmerlingtheater" verlieh. Im Vorfeld dessen tat er sich nicht nur als österreichischer Bundestagsgesandter in der Nationalversammlung in der Paulskirche hervor, sondern bekleidete dann auch die Stelle des Justizministers im Kabinett des Fürsten Schwarzenberg. Er diente zeitweise auch am Obersten Gerichtshof und war schließlich Oberlandesgerichtspräsident in Wien.

Schon aus dieser kurzen Zusammenstellung wird deutlich, welch hochrangige politische und administrative Positionen Schmerling im Laufe seines Lebens bekleidete, wobei er zwei Mal in dramatischen Zeiten des Umbruchs in Schlüsselstellungen berufen wurde: 1848 in Frankfurt und 1860 als Staatsminister in Wien.

Schmerling, auch als "Säule des Liberalismus" bezeichnet, stand oft im Widerstreit mit den eigenen Parteifreunden. Genau wie heute auch, war das Spektrum der Liberalen breit gestreut. Den meisten Liberalen ging Schmerling nicht weit genug, machte er ihrer Ansicht nach viel zu viele Konzessionen in Fragen der Verfassungsentwicklung. Und in der Tat ist Schmerling auch aus heutiger Sicht als ein eher konservativer Liberaler zu bezeichnen, der Rechtsstaat und Verfassung hochhielt, gleichzeitig aber auch für staatliche Autorität und gesellschaftliche Ordnung eintrat. So war der Vertreter des Konstitutionalismus beispielsweise ein Gegner der Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament; ihm war auch eine weitgehende Parlamentsautonomie fremd, weshalb die Forderung nach parlamentarischer Immunität erst nach großem Widerstand per Gesetz vom 3. Oktober 1861 normiert wurde. Schmerling stand auch den Geschworenengerichten eher skeptisch gegenüber.

Grundsätzlich vertrat er die Auffassung, dass das Recht in erster Linie von oben herab zu gewähren sei. In der Budgetrede des Jahres 1864 stellte er sogar die Frage, "ob überhaupt ein streng parlamentarisches Regiment in Österreich eine Möglichkeit" sei, "ob es möglich" sei, "gerade nach der Majorität zu regieren", womit er eigentlich an den Säulen der unter seiner Federführung geschaffenen Verfassung des Jahres 1861 rüttelte. Sein konservativer Geist ließ ihn offensichtlich vor der eigenen liberalen Courage zurückschrecken. Vielleicht war es aber zum Teil auch das Bedauern darüber, dass mangels fester politisch-fraktioneller Gliederungen die Mehrheitsverhältnisse ständig wechselten und zusätzlich zur nationalen und sozialen Zerklüftung auch der Gegensatz zwischen Klerikalen und Liberalen die parlamentarische Arbeit stark beeinträchtigte, denn in der selben Rede beklagte er wenig später auch das Fehlen einer Opposition und den Mangel fester Parteien - wir würden heute Klubs sagen.

Dieser konservative Geist dürfte auf den Beginn seines politischen Werdegangs bei den Ständen zurückzuführen sein, dem Restbestand eines adeligen Parlaments, deren Ziele alles andere als progressiv waren, sofern diese nicht ihre ureigensten Interessen betrafen. Wahrscheinlich kamen bei Schmerling auch Pragmatismus und Realitätssinn für das, was erreicht werden kann, hinzu. Er war sich dessen bewusst, dass das Erreichte, die konstitutionelle Entwicklung, unumkehrbar war, die Deutsch-Liberalen wollten dem gegenüber einen raschen, ungehinderten Ausbau der Verfassung. Jedenfalls hat Schmerling später in seinen Memoiren, genannt "Denkwürdigkeiten", mit den eigenen Liberalen hart abgerechnet, da diese aus seiner Sicht so wenig Verständnis für den Balanceakt, den er zu bewältigen hatte, aufgebracht und ihm damit zusätzliche Schwierigkeiten in den Weg gelegt hatten.

Viele Probleme, mit denen Schmerling zu kämpfen hatte, sind in ihren grundsätzlichen Fragestellungen hoch aktuell: Einerseits stand die Entwicklung der Monarchie von einem autokratischen zu einem konstitutionellen System an, anderseits ging es angesichts latenter und steigender Nationalitätenkonflikte um die Vereinbarkeit eines dynastischen multinationalen Staatsgebildes mit dem Prinzip der Selbstbestimmung, der Volkssouveränität. Wie Belcredi, seinem Nachfolger an der Spitze der Regierung, war es Schmerling ein Anliegen, die Einheit des Reiches zu erhalten und zu festigen. Er kämpfte daher entschieden gegen die dualistischen Bestrebungen der Magyaren und versuchte, den unhaltbaren absoluten Zentralismus durch einen verfassungsmäßigen Zentralismus zu ersetzen. Viele Liberale neigten jedoch zum Ausgleich mit den Ungarn und stützten sich auf die Länder diesseits der Leitha.

Die ungarische Frage war es auch, an der Schmerling letztendlich scheiterte. Die konstitutionelle Entwicklung nach 1861 wurde durch die Problematik des Vielvölkerstaates, insbesondere durch das ungelöste Problem der Integration Ungarns, konterkariert. Persönlich scheiterte der Regierungschef an den unterschiedlichen Erwartungen seiner Partei und des Monarchen. In seinem Bemühen, einen Ausgleich zwischen liberalem Verfassungsdenken und kaiserlichem Machtanspruch zu erreichen, hatte er am Ende seiner Regierungszeit die Unterstützung der Deutsch-Liberalen in den Häusern des Reichsrates verloren, ohne sich beim Kaiser auf Dauer das Vertrauen erworben zu haben. Seinen eigenen Liberalen war er zu wenig liberal, den Konservativen zu viel.

Anton Ritter von Schmerling wurde am 23. August 1805 in Wien geboren. Seine Familie zählte zum Ritterstand des Landes unter der Enns, in dessen Dienst er seit Juli 1847 als ständischer Verordneter stand. Die Versammlung der Stände am 13. März 1848 war dann auch Ausgangspunkt der Demonstration in der Herrengasse. Schmerling bewährte sich bereits damals an vorderster Front, als er mit der ständischen Delegation Metternich persönlich gegenübertrat und am Abend das Kommunique, das die neue Ordnung und den Rücktritt Metternichs verkündete, redigierte.

Seine Gegnerschaft zum Metternichschen System empfahl ihn auch für die Nationalversammlung in der Paulskirche, wo er sich als Abgeordneter für die konstitutionelle Monarchie und die großdeutsche Lösung einsetzte. Erzherzog Johann, zum Reichsverweser bestimmt, ernannte Schmerling zum Reichsinnen- und zeitweilig zum Reichsaußenminister und schließlich zu seinem leitenden Minister. Schmerling hoffte auf einen friedlichen Übergang von absolutistischem Regieren zu einer Beteiligung des Volkes. Die Radikalisierung der Revolution ließ ihn aber als Reichsinnenminister hart durchgreifen und den im September 1848 in Frankfurt ausgebrochenen Aufstand niederwerfen. Auch über den Oktoberkampf in Wien äußerte er sich negativ, da er ihn nicht als Kampf gegen die drohende Reaktion gelten lassen wollte, sondern in den Wienern lediglich ein Werkzeug der Revolutionspartei sah.

Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit in der Paulskirche legte Schmerling weniger auf Verfassungsfragen, sondern auf die Neugestaltung Deutschlands. Er strebte die Einigung Deutschlands an, aber nicht um den Preis der Zurückdrängung Österreichs. Die Konflikte mit den Kleindeutschen spitzten sich jedoch mehr und mehr zu, die Paulskirche blickte zunehmend in Richtung Preußen. Auch die Revolution kam allmählich gegenüber den Truppen der absolutistischen Herrscher ins Hintertreffen, sodass Schmerling am 15. Dezember 1848 enttäuscht sein Amt niederlegte.

Wieder in Österreich, wo im März 1849 der Reichstag aufgelöst worden war und der Kaiser die so genannte oktroyierte Verfassung erlassen hatte, trat Schmerling in das Kabinett des Fürsten Schwarzenberg als Justizminister ein. Seine Hoffnung auf eine konstitutionelle Entwicklung blieb jedoch unerfüllt, da die Verfassung nie in Kraft getreten ist und der Neoabsolutismus die jungen Pflänzchen von Mitspracherechten nicht aufgehen ließ, sodass Schmerling im Jänner 1851 wieder zurücktrat. Was er damals als Regierungsmitglied verwirklichen wollte, war ohnehin nur wenig, gemessen an dem, wie weit man 1848 schon war. Aber das Wenige verfolgte er mit Beharrlichkeit und suchte als Justizminister das, was die oktroyierte Verfassung in Aussicht stellte, ohne Zögern umzusetzen. So leitete er eine Neuordnung der Rechtspflege ein und führte die Geschworenengerichte ein, auch wenn er dieser Rechtseinrichtung persönlich nur wenig Sympathie entgegen brachte. Mit dem Silvesterpatent 1851, mit dem die nie realisierte diktierte Verfassung außer Kraft gesetzt wurde, war es aber auch schon wieder vorbei mit den Schwurgerichten.

Schmerling kehrte in den Folgejahren wieder in seine Gerichtslaufbahn am Obersten Gerichtshof und als Oberlandesgerichtspräsident in Wien zurück.

Die Niederlage von Solferino und die Finanzkrise des Staates zwangen den Kaiser, an die zaghaften konstitutionellen Versuche anzuknüpfen. Die Entwicklung gewann jedoch an Dynamik, sodass es 1860 zum so genannten Oktoberdiplom kam - keine Verfassung im eigentlichen Sinn, sondern eine Festlegung von Prinzipien mit echten Kompetenzen für die Vertretungskörperschaften. Der Schwerpunkt lag aber bei den Landtagen und nicht beim Reichsrat, der von den Landtagen beschickt wurde. Die neu angebrochene Zeit brachte auch eine Wende im Leben Schmerlings, der im Dezember 1860 in das Amt des Staatsministers berufen wurde.

Schmerling war mit dem Oktoberdiplom nicht glücklich, da dieses für ihn zu starke föderalistische, auch dualistische, Züge trug und in konstitutioneller Hinsicht zu wenig bot. Er wollte ein Parlament mit konstitutionellen Befugnissen, den Föderalisten kam er aber insofern entgegen, als das Abgeordnetenhaus des neuen Reichsrats von den Landtagen gewählt werden sollte. Zu diesem Zweck, und damit nicht die Verschiedenheit in den Ländern gegeneinander ausgespielt werden konnte, ließ er alle Landordnungen nach den gleichen Grundsätzen aufbauen und setzte an die Stelle der ständischen Gliederung die Interessenvertretungen, womit nicht der Stand an sich, sondern seine wirtschaftliche Betätigung und ihr finanzieller Erfolg ausschlaggebend waren. Es wurde nach dem Kurienwahlrecht in 4 Kurien (Großgrundbesitzer, Städte, Handels- und Gewerbekammern und Landgemeinden) gewählt. Auf das Abgeordnetenhaus kamen 343 Sitze, die auf die einzelnen Königreiche und Länder aufgeteilt waren.

Mit der Idee des Herrenhauses als erstem Haus des Reichsrates gelang es Schmerling, dem Kaiser die Volksvertretung schmackhaft zu machen. Dieses setzte sich aus den großjährigen Prinzen des Kaiserhauses, den Häuptern der Adelsgeschlechter, denen der Kaiser erbliche Reichsratswürde verliehen hatte, den Erzbischöfen und Bischöfen fürstlichen Ranges sowie aus für ihre Verdienste ausgezeichneten Männern zusammen. Für einen Gesetzesbeschluss waren die Zustimmung beider Häuser und die kaiserliche Sanktion erforderlich.

Der weitere Reichsrat behandelte Angelegenheiten, die alle Königreiche und Länder betrafen, der engere Reichsrat behandelte nur jene Agenden, die nicht die ungarische Krone betrafen. Damit kündigte sich bereits die Gestaltung der Doppelmonarchie an. Ein Teil der Vertreter, insbesondere jene Ungarns, blieben dem Reichstag aber fern, womit die Verfassung nicht voll mit Leben erfüllt wurde.

Mit diesem "Februarpatent" schlug die Geburtsstunde des österreichischen Parlaments. Der Reichsrat wurde am 1. Mai 1861 feierlich eröffnet.

Schmerlings Bestreben galt der Einheit und Festigung des Reiches und in diesem Sinne lehnte er auch jedes Hervorkehren der Nationalitäten ab. In der deutschen Frage trat er deshalb dafür ein, das Gebiet des deutschen Bundes auch durch jene Teile der Monarchie zu erweitern, die nicht deutschsprachig waren, und zwar ohne jegliche Sonderstellung. Er war daher auch ein vehementer Gegner, nichtdeutschen Völkern innerhalb der Monarchie eine Sonderstellung einzuräumen. Damit machte er die Magyaren zu seinen Widersachern, die Tschechen und Polen hatte er durch die Tatsache vergrämt, dass sie auf den engeren Reichsrat beschränkt blieben. Er hatte aber auch die ausgleichsfreundlichen Deutsch-Liberalen nicht ganz auf seiner Seite, da sich diese für die Wiederherstellung des alten ungarischen Verfassungsrechts erwärmen konnten. Andere wollten wiederum Zwangsmaßnahmen gegen die Ungarn setzen, um sie in den Reichsrat zu bringen. Beiden Gruppen tat Schmerling zu wenig.

Hinzu kam, dass Schmerling vorwiegend der Einstellung des Kaisers Rechnung tragen wollte, der im Februarpatent bereits den Gipfel seiner Zugeständnisse sah. Die Deutsch-Liberalen aber sahen darin lediglich ein Staatsgrundgesetz über die Reichsvertretung, das alle anderen Fragen des Staatslebens offen ließ. Auf dieser Grundlage sollte nach ihrer Ansicht nun eine vollständige Verfassung erarbeitet werden. Wichtigste Themen dabei betrafen die Trennung von Verwaltung und Justiz und insbesondere die Wiedereinführung der Geschworenengerichte, die Ministerverantwortlichkeit und das Notverordnungsrecht des Kaisers, das Vereins- und Versammlungsrecht, die Pressefreiheit, die Freiheit der Person und des Hausrechts, die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre und die rechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften, vornehmlich die Beseitigung des Konkordats.

Das alles aber ging dem Kaiser zu weit, und da Schmerling bemüht war, dem Kaiser entgegen zu kommen, auch wenn er dessen Meinung nicht teilte, versuchte er kaum, liberale Anträge gegen die Krone durchzusetzen. Damit vertiefte sich die Kluft zwischen dem Staatsminister und seinen Parteifreunden. Jedenfalls gelang es, 1862 das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit durchzusetzen, das heute noch Teil unseres Rechtsbestandes ist: BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit. Das Protestantengesetz aus 1861 brachte für die konfessionelle Minderheit in den österreichischen Ländern der Habsburgermonarchie Freiheit des Bekenntnisses, öffentliche Religionsausübung und Selbstverwaltung, wenn auch innerhalb bestimmter Grenzen. 

Im Sommer 1865 kulminierten die Zwistigkeiten. Die Liberalen verweigerten Schmerling die Gefolgschaft, der Kaiser begann sich mit dem Gedanken an einen dualistischen Staat anzufreunden, womit das Ende des Kabinetts besiegelt war und Schmerling Ende Juli aus dem Amt schied. Als Mitglied des Herrenhauses bekämpfte er vehement den Ausgleich mit Ungarn, unterstützte aber jetzt die liberalen Forderungen, vor allem die Grundrechtsbestrebungen, die dann zu den Dezembergesetzen 1867 führten. Jetzt war er sicher, dass die Krone dem nicht mehr so ablehnend gegenüberstand.

Schmerling war der "Elder Statesman" par excellence und wurde 1871 zum Präsidenten des Herrenhauses gewählt. Gegen das klerikale Ministerium Taaffe übernahm er dann die Rolle des Oppositionsführers und beendete Ende 1891 mit 86 Jahren seine politische Laufbahn. Er starb am 23. Mai 1893 in Wien. (Schluss)

Hinweis: Die Büste von Anton Ritter von Schmerling steht seit 2004 nicht mehr unter der Parlamentsrampe, sondern hat, bedingt durch den Bau des Besucherzentrums, in einem Gang im Erdgeschoß des Parlamentsgebäudes einen neuen Platz gefunden.