Parlamentskorrespondenz Nr. 801 vom 21.11.2001

EINHELLIGE ZUSTIMMUNG DES NATIONALRATS FÜR DEN VERTRAG VON NIZZA

"Erweiterung der Zone von Frieden und Stabilität"

Wien (PK) - Der Vertrag von Nizza , die Grundlage für die Osterweiterung der Europäischen Union, und die Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern zur partnerschaftlichen Durchführung der Regionalprogramme im Rahmen der EU-Strukturfonds waren der zweite große Themenblock der heutigen Sitzung des Nationalrats. Beide Punkte der Tagesordnung fanden die einhellige Zustimmung aller Fraktionen.

Abgeordneter Dr. GUSENBAUER (S) erinnerte daran, dass mit diesem Vertragswerk die Zone von Frieden und Stabilität, die sich nach dem 2. Weltkrieg gebildet hat, nun um Zentral- und Osteuropa erweitert werden soll. Zum ersten Mal stehe die Welt vor einer neuen Situation: Der Westen nimmt gemeinsam mit Russland die globalen Herausforderungen an.

Allen müsse klar sein, dass die Frage der Kernkraftwerke und deren Sicherheit nicht das einzige Problem im Zuge der Erweiterung darstellt, meinte Gusenbauer. Die Fragenliste reiche von der Zukunft des Transitverkehrs über die Landwirtschaft bis hin zur Finanzierung der EU. Österreich muss nach Meinung Gusenbauers die Frage klären, will man bei jeder Einzelfrage, die ein Problem aufwirft, sofort die Veto-Karte ziehen oder suche man in den Verhandlungen einen vernünftigen Ausgleich.

Abgeordneter JUNG (F) verstand nicht, weshalb man sich nicht gegen eine "tickende Atombombe" wehren soll, sei doch das Veto im Vertrag festgeschrieben, gegen dessen Inanspruchnahme die Sozialdemokraten sind. Die SPÖ sei nur zu feige, meinte er, die Dinge beim Namen zu nennen. Österreich werde sich auch gegen den beabsichtigten europaweiten Haftbefehl wehren müssen, kündigte er an.

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) trat gleichfalls dafür ein, die Zone des Friedens und der Stabilität auf unsere Nachbarländer auszudehnen und bezeichnete dies als wichtigen Fortschritt für Europa und Österreich. Besonders unterstrich der Redner die ständige Information zwischen den Verhandlern und den Parlamentariern im Zuge der Beratung des Vertrages von Nizza, machte darauf aufmerksam, dass den Verhandlern eine Entschließung des Hauptausschusses mitgegeben wurde, und wies darauf hin, dass diese österreichische Praxis von anderen Ländern als beispielgebend angesehen wurde.

In einer tatsächlichen Berichtigung wies Abgeordneter Mag. KOGLER (G) darauf hin, dass seine Fraktion bloß die ersten beiden Absätze des Berichts des französischen Vorsitzes über die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und nicht das gesamte Dokument fristgerecht erhalten hat.

Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL stellte dem Vertrag von Nizza ein positives Zeugnis aus, da die Voraussetzungen für die Erweiterung geschaffen, die Integration vertieft und zugleich die österreichischen Interessen gut gewahrt werden konnten.

Sodann befasste er sich mit den Auswirkungen des Terroranschlages vom 11. September. Schüssel zeigte sich erfreut darüber, dass die EU innerhalb weniger Wochen 80 verschiedene Einzelmaßnahmen gesetzt hat, die beweisen, dass der Kampf gegen den Terror wirklich ernst genommen wird. Als Beispiele führte er das Austrocknen der Finanznetze, den verstärkten Kampf gegen die "Schläfer", die Zusammenarbeit der Geheimdienste sowie die militärischen Aktionen an. Er war der Auffassung, dass die militärischen Einsätze so gezielt und wirksam waren, dass ein relativ rasches Ergebnis sichtbar ist. Gleichzeitig wurden aber auch politische Initiativen gesetzt und das Augenmerk verstärkt auf den Nahen Osten gelenkt. In diesem Zusammenhang finde er es sehr beeindruckend, dass der amerikanische Präsident George Bush in seiner Rede vor der UNO zum ersten Mal von zwei Staaten in der Region gesprochen hat, von Palästina und von Israel. Denn es werde keinen Frieden geben, wenn nicht die palästinensische Bevölkerung einen eigenen voll entwickelten Staat bekommt, unterstrich Schüssel.

Österreich habe sich sehr massiv eingebracht in einer Neubewertung der Beziehungen zum Iran, führte Schüssel weiter aus. Die bilateralen Kontakte wurden nie abgebrochen und daraus sei eine Vertrauensbasis erwachsen, die auch für die Amerikaner und Briten von großer Bedeutung ist. Dies erkläre auch, warum seine Besuche in Washington und London auf relativ großes Interesse gestoßen sind.

Weiters wies Schüssel darauf hin, dass er aufgrund aktueller Vorkommnisse mit den Regierungskollegen der mittleren und kleineren EU-Länder Kontakt aufgenommen hat, um den Tendenzen einzelner großer Länder, eine Art Direktorium zu bilden, entgegen zu wirken. Er halte dies für eine völlig falsche Vorgangsweise, weil dadurch die Position der EU geschwächt wird. Deshalb sei es wichtig, in einer solchen Frage Flagge zu zeigen.

Der Kampf gegen den Terror ist nicht vorbei, unterstrich der Kanzler, denn nun werde sichtbar, dass das Al-Qa'ida Netzwerk  viel weiter verbreitet sei als man angenommen hat. So sei etwa in Kabul ein Headquarter von Osama Bin Laden entdeckt worden, wo Anleitungen zum Bau von kleineren und einfacheren Atombomben genauso zu finden waren wie die Herstellung von höchst gefährlichen Giftsubstanzen. Je präziser und konsequenter man diese Terrornetzwerke verfolgt, umso schneller kann man sie auch ausschalten und umso limitierter können die jeweiligen Maßnahmen sein.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) ging auf die Wortmeldung des Bundeskanzlers ein und machte darauf aufmerksam, dass der Iran deshalb gerade auf Österreich setze, weil es ein neutrales Land sei. Um eine glaubwürdige Außenpolitik zu machen, fehle jedoch ein einheitliches Konzept und eine bessere Koordination zwischen dem Kanzler, der Außenministerin und dem Bundespräsidenten. Kritisch beurteilte Lunacek den Nizza-Vertrag, da sich letztlich die nationalen und nicht die gemeinsamen europäischen Interessen durchgesetzt haben. Die Grünen werden dem Vertragswerk aber zustimmen, kündigte sie an, da die Frage der Erweiterung ein zentrales Anliegen ihrer Partei sei. Den Entschließungsantrag lehne ihre Fraktion aber ab, weil er eine siebenjährige Übergangsfrist für den Arbeitsmarkt vorsehe.

Der Vertrag von Nizza, der heute ratifiziert werden soll, öffne die Tür zur Erweiterung der EU und schaffe die institutionellen Vorraussetzungen für eine größere Union, erläuterte Abgeordneter Dr. EINEM (S). Damit die Erweiterung auch in Österreich ein Erfolg und von der Bevölkerung akzeptiert werde, müsse man erreichen, dass etwaige Risken tunlichst vermieden werden. Seit Ende September habe man intensive Gespräche mit der Bundesregierung geführt und sich nun auf einen Dreiparteien-Entschließungsantrag geeinigt, der leider von den Grünen nicht mitgetragen wird. Sodann erläuterte er die Inhalte des Antrages der u.a. konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Österreich, eine behutsame Öffnung des Arbeitsmarktes sowie Regelungen bezüglich der Dienstleistungsfreiheit und der Landwirtschaft enthält.

Abgeordneter Dr. FEURSTEIN (V) dankte dem Bundeskanzler für dessen Arbeit in den letzten Wochen, denn es sei nicht leicht, ein gutes Verhältnis mit dem Iran kontinuierlich aufrecht zu erhalten. Was die Aussagen der Abgeordneten Lunacek betrifft, so habe er den Eindruck, dass sie krampfhaft versuche, kritische Bemerkungen zum Vertrag von Nizza zu finden. Er halte den Vertrag von Nizza für ein Reformwerk, das z.B. im sozialpolitischen Bereich einen wichtige Fortschritte bringe. So komme es etwa zu einer Verbesserung des Wissensstandes, einem Austausch von Informationen, einer Bewertung der Sozialpolitik sowie zu einer Festlegung von Mindeststandards.

Abgeordnete Dr. LICHTENBERGER (G) bedauerte, dass zu wenig Informationsarbeit im Vorfeld der Ratifizierung des Vertrages von Nizza geleistet wurde. Grundsätzlich positiv bewertete sie die Einigung in der Frage des Konvents zur Reform der Institutionen der Europäischen Union. Dem Entschließungsantrag können die Grünen deshalb nicht zustimmen, weil die siebenjährige Übergangsfrist am Arbeitsmarkt keine sinnvolle Maßnahme darstelle, sondern lediglich eine Förderung des Schwarzmarktes darstelle. Negativ beurteilte sie auch die Schwerpunktsetzung in der Verkehrspolitik.

Abgeordneter SCHIEDER (S) befasste sich mit der Neutralität und ging detailliert auf die unterschiedlichen Rechtsauffassungen ein, die von den Regierungsfraktionen einerseits und den Sozialdemokraten andererseits vertreten werden. Hinter dieser juristischen Diskussion stehe, dass sich ÖVP und FPÖ politisch von der Neutralität verabschiedet haben, meinte Schieder. Für sie stellt das Neutralitätsgesetz nur mehr ein Hindernis dar. Daher sei ihnen jedes Argument Recht und dem Bundeskanzler kein Vergleich zu peinlich, um das Neutralitätsgesetz auszuhebeln bzw. herabzusetzen. Die Sozialdemokraten treten dieser Vorgangsweise vehement entgegen, denn das Neutralitätsgesetz sei für die SPÖ nicht nur weiter rechtlich verbindlich, sondern Grundlage der österreichischen Politik in- und außerhalb der Europäischen Union.

Abgeordnete Mag. KUBITSCHEK (S) meinte, die Diskussion über die Zukunft Europas solle über rein technokratische Fragen hinaus gehen und vielmehr auch Probleme anschneiden, die die Menschen wirklich betreffen. Europäischer Handlungsbedarf bestehe, wie die Rednerin betonte, bei der Weiterentwicklung des EU-Sozialraums und der Gestaltung einer Beschäftigungsunion als gleichwertigem Pendant zur Wirtschafts- und Währungsunion.

Der Regierung warf Kubitschek vor, keine konstruktive Europapolitik zu betreiben. Die öffentliche Diskussion über die Zukunft Europas beschränke sich derzeit auf die Frage der Sinnhaftigkeit einer Vetodrohung zur Osterweiterung, bedauerte sie.

Abgeordnete SILHAVY (S) drängte auf innerstaatliche Maßnahmen, um den Menschen die Ängste vor der Osterweiterung zu nehmen. Sie appellierte in diesem Sinn an die Bundesregierung, gegen Sozialbetrug und illegale Beschäftigung vorzugehen.

Abgeordneter Dr. BAUER (S) verwies auf Meinungsumfragen, denen zufolge eine überwältigende Mehrheit der Österreicher die Erweiterung begrüßt. Es gebe weder Ängste noch Horrorszenarien, folgerte er. Die Politik forderte Bauer auf, an den Erweiterungsprozess nicht defensiv, sondern offensiv heranzugehen.

Abgeordnete PFEFFER (S) erinnerte in ihrer Wortmeldung an die Vorteile des EU-Beitritts und der Ostöffnung für das Burgenland.

Abgeordnete ACHATZ (F) appellierte an die Bundesregierung, auf die strikte Einhaltung des Nizza-Vertrages zu achten und keine übereilten Beitritte zu akzeptieren. Sie warnte in diesem Zusammenhang vor finanziellen Mehrbelastungen durch die Osterweiterung bei Beibehaltung der derzeitigen Agrarförderung.

Bei der Abstimmung wurde der Vertrag einstimmig angenommen.

Der S-F-V-Entschließungsantrag betreffend EU-Erweiterung erhielt mehrheitliche Zustimmung.

Einstimmig genehmigt wurde schließlich der Vertrag zwischen Bund und Ländern über die Durchführung der EU-Regionalprogramme 2000 -2006.

(Schluss Nizza-Vertrag/Forts. NR)