Parlamentskorrespondenz Nr. 168 vom 12.03.2002

HAUPTAUSSCHUSS DISKUTIERT ÜBER EUROPÄISCHEN RAT IN BARCELONA

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Wien (PK) – Der Hauptausschuss, der heute unter wechselndem Vorsitz von Nationalratspräsident Heinz Fischer und dem Dritten Präsidenten des Nationalrates Werner Fasslabend tagte, stand ganz im Zeichen des kommenden Europäischen Rates von Barcelona am 15. und 16. März. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Außenministerin Ferrero-Waldner informierten die Abgeordneten über Themenschwerpunkte des Rates und standen ihnen Rede und Antwort.

Ergänzt wurde die Tagesordnung um eine von den Grünen beantragte Aktuelle Stunde aus Anlass der Zurückholung eines österreichischen UN-Polizisten aus dem Kosovo, der unter Verdacht steht, eine strafbare Handlung begangen zu haben.

Weitere Tagesordnungspunkte betrafen die Publizistikförderung des Jahres 2001, den Übungs- und Ausbildungsplan des Bundesheeres im Ausland sowie die Ausfuhrförderung.

EUROPA DARF DER WEITERENTWICKLUNG DER GEWALTSPIRALE IM NAHEN OSTEN NICHT LÄNGER ZUSEHEN

Am Beginn der Diskussion im Vorfeld des kommenden Europäischen Rates gab Bundeskanzler Wolfgang Schüssel einen Überblick über die Themenschwerpunkte, die sich um die Umsetzung Lissabon-Strategie und damit um die Wirtschafts- und Arbeitspolitik ranken. So würden die Wettbewerbspolitik, die Frage der Wirtschaftsreformen, der Beschäftigungsstrategie, der Forschungsstrategie und der europäische Raum für Verkehr und Kommunikation im Mittelpunkt der Tagung stehen. Auch die EU-Erweiterung werde unter dieser Agenda behandelt, so der Bundeskanzler. Der Zeitpunkt für diese europäische Debatte sei unter der gegenwärtigen Konjunktur ein äußerst interessanter, da die wirtschaftliche Entwicklung sowohl in Amerika als auch in Europa erstmals wieder leichte Anzeichen eines Aufwärtstrends zeige. Man erwarte Mitte des Jahre eine vorsichtige und ab Beginn 2003 wieder eine deutliche Belebung der Konjunktur.

Das wichtigste außenpolitische Thema beim kommenden Gipfel wird das Nahostproblem sein, da Europa nicht weiter der Gewaltspirale zusehen könne. Der Bundeskanzler bewertete daher den Besuch des iranischen Staatspräsidenten Khatami und seines Außenministers in Österreich als besonders wichtig, da man zu differenzierter Auffassung kommen müsse, je nachdem, wer welche Ziele verfolge. Ferrero-Waldner berichtete, dass man eine diesbezügliche Erklärung vorbereiten werde, und hob die Initiative des saudischen Prinzen Abdullah besonders hervor.

Unter Bezugnahme auf eine entsprechende Frage des Abgeordneten Niederwieser äußerte sich der Bundeskanzler kritisch zu den jüngsten Ankündigungen der USA in Richtung Einsatz von Atomwaffen. Er sprach sich klar für eine Abrüstung der atomaren Bedrohung aus, räumte aber gleichzeitig warnend ein, dass man die terroristische Bedrohung nicht gering achten dürfe. Dagegen würden jedoch keine Atomwaffen, sondern nur eine exzellente Zusammenarbeit von Innen- und Justizverwaltung, von Geheimdiensten und Polizei helfen.

Nachdem Abgeordnete Ulrike Lunacek (G) die Probleme in der Förderung der Entwicklungszusammenarbeit angesprochen hatte, informierte Bundesministerin Ferrero-Waldner, dass die spanische Präsidentschaft einen Vorschlag unterbreitet habe, bis 2006 die Mittel durchschnittlich auf 0,39% zu erhöhen.

SCHÜSSEL: REFORM DER SOZIALEN SYSTEME SOLL SOZIALEN ZUSAMMENHALT SICHERN - OPPOSITION URGIERT SOZIALE ABSICHERUNG DER FRAUEN UND ERHÖHUNG DER FRAUENBESCHÄFTIGUNGSQUOTE

Ein zentrales Thema in der anschließenden Diskussion war die Beschäftigungspolitik. Bundeskanzler Schüssel sprach sich dabei gegen eine Änderung hinsichtlich nationaler Kompetenzen aus, auf europäischer Ebene gehe es hingegen darum, Best-Practice-Modelle umzusetzen. Ziel sei es, die Erwerbsquote bis 2010 auf 70% (bei Frauen auf 60%) zu erhöhen, wobei 2005 67% bzw. bei den Frauen 57% erreicht werden sollten. Die durchschnittliche Beschäftigungsquote älterer ArbeitnehmerInnen sollte 2010 bei 50% liegen. Österreich habe mit einer Beschäftigungsquote von 68,2% bei Männern und 59,9% bei Frauen diese europäischen Ziele bereits erreicht. Handlungsbedarf gebe es jedoch bei der Beschäftigung älterer MitarbeiterInnen, die in Österreich nur 34% betrage.

Aufgrund der demographischen Entwicklung ergebe sich aber das Problem der Finanzierbarkeit der Pensionssysteme, weshalb es einen Druck von Seiten der Kommission gebe, die Sozialsysteme umzubauen und den sozialen Zusammenhang zu stärken. Mit der Neuregelung der Abfertigung in Form einer Mitarbeitervorsorge habe Österreich einen wichtigen Schritt in diese Zielrichtung getan, meinte Schüssel. Im Herbst würden die Länder auch Berichte über die Nachhaltigkeit ihrer Pensionssysteme vorlegen, was in der Folge bei den Stabilitäts- und Konvergenzstrategien zu berücksichtigen sein werde. Der Trend gehe in Richtung Anhebung des Pensionsalters. Österreich sei hier ohnehin vorsichtig vorgegangen, um den Vertrauensschutz nicht zu verletzen.

Die VertreterInnen der Oppositionsparteien urgierten eine bessere Koordinierung von Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik. Abgeordneter Caspar Einem (S) sprach vor allem die Notwendigkeit an, den sozialen Dialog zu intensivieren und die Sozialpartner mehr einzubeziehen. Abgeordnete Heidrun Silhavy (S) kritisierte insbesondere, dass die Sozialminister nicht nach Barcelona eingeladen wurden, was die Dominanz der Wirtschafts- und Finanzpolitik unterstreiche und verdeutliche, dass die Sozialpolitik diesen beiden unterworfen werde. Sie plädierte für Spielräume innerhalb der nationalen Haushalte, um in schwierigen Konjunkturzeiten besser steuern zu können. Ihre Klubkollegin Barbara Prammer konzentrierte sich auf die niedrige Frauenerwerbsquote in Europa und in Österreich und wies darauf hin, dass trotz ansteigender Pensionsberechtigungen von Frauen die Pensionen selbst extrem niedrig und in letzter Zeit sogar gesunken seien. Auch Silhavy forderte daher eine eigenständige Alterssicherung für Frauen.

In die gleiche Kerbe schlug Abgeordnete Evelin Lichtenberger (G), die meinte, dass die Konzentration auf die Wirtschaftspolitik falsch sei und der soziale Zusammenhalt durch europäische Mindeststandards abgesichert werden müsse. Europa sollte sich als Sozialunion definieren, derzeit bewiesen die Vorkommnisse in vielen Branchen, dass der Wettbewerb ein Senkung der sozialen Standards mit sich bringe. Sie plädierte dafür, dass bei der Frauenbeschäftigung vor allem auch die Frage der Qualität der Arbeit im Vordergrund stehen müsse und die Beschäftigung über die Existenzsicherung hinausgehen sollte.

Abgeordnete Silhavy thematisierte auch die Mobilisierung der Arbeitsmärkte und fragte, was die Wirtschaft hier einbringen könne. Sie schnitt auch die Armutsbekämpfung kurz an. Abgeordneter Gottfried Feurstein (V) teilte diese Sorgen um die Armut in Europa, fügte aber gleichzeitig hinzu, dass man in Österreich in dieser Hinsicht niedrig liege. Der VP-Sozialsprecher kritisierte jedoch, dass auf die Erwerbstätigkeit ein zu großer Stellenwert gelegt werde, während dem Problem und der Betroffenheit der Arbeitslosigkeit zu wenig Raum gewährt werde.

Abgeordneter Michael Spindelegger (V) warf in diesem Zusammenhang das von der Regierung beschlossene Kinderbetreuungsgeld ein und betonte, dass Karenzzeiten pensionsbegründend seien und Frauen nun die Möglichkeit hätten, in dieser Zeit dazuzuverdienen. Dem schloss sich der Bundeskanzler an und bat, "von der Ideologie wegzukommen". Man brauche sowohl Kinderbetreuungseinrichtungen als auch die Familienförderung. Das Kindergeld sei zwar keine Antwort auf alle, aber eine gute Antwort auf viele Fragen. Österreich habe mit seiner Familienförderung den europäischen Spitzenplatz inne und mit der Familienhospizkarenz betrete Österreich europäisches Neuland. Hinsichtlich der Frauenbeschäftigung widersprach Schüssel den Oppositionsabgeordneten insofern, als er meinte, der Zuwachs liege nicht nur bei Mindest- und Teilzeitbeschäftigung. Was die Frage der Pensionszahlungen bei Frauen betreffe, so müsse man dabei auch über die finanzielle Grundlage für die Realisierung solcher Wünsche reden, meinte Schüssel.

Von Abgeordnetem Erwin Niederwieser (S) wurde auch das lebenslange Lernen in die Diskussion eingeworfen. Der Bundeskanzler sagte dazu, dass er dessen Meinung hinsichtlich der Bedeutung für die Qualifikation teile, und lebenslanges Lernen daher einen Schwerpunkt im Konjunkturpaket darstelle. So werde der Forschungsfreibetrag auf 10% abgehoben, die Forschungsprämie betrage 3%, der Bildungsfreibetrag steige auf 20%, alternativ werde es eine Bildungsprämie von 6% geben.

Der Bundeskanzler sprach sich dezidiert gegen verbindliche Ziele im Zuge der Lissabon-Strategie aus, wie Abgeordneter Einem es gefordert hatte, da dies die nationale Souveränität unterminieren würde. Er hält auch nichts davon, den Stabilitätspakt abzuändern. Die Struktur der öffentlichen Haushalte habe sich mit nur wenigen Ausnahmen stark verbessert, an dem Ziel der Senkung der Steuer- und Abgabenquote werde man festhalten, dies werde aber nur möglich sein bei der Ausschöpfung des Rationalisierungspotenzials innerhalb der Verwaltung.

WEGEKOSTENRICHTLINIE HAT PRIORITÄT

Besonderes Interesse zeigten die Abgeordneten auch für den Bereich Verkehr und Kommunikation, zumal bis 2010 der Verkehr auf der Straße enorm anwachsen werde, sofern keine Gegenstrategien entwickelt werden. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei der Verbesserung der Transeuropäischen Netze und der Wegekostenrichtlinie zu, wie Schüssel hervorhob. Die Eisenbahn werde man sowohl hinsichtlich des Ausbaus der Infrastruktur als auch hinsichtlich der Liberalisierung des Personen- und Güterverkehrs verbessern müssen. Dem konnte sich Abgeordnete Evelin Lichtenberger (G) zwar anschließen, sie bemerkte aber, dass man die Preisfrage nicht außer Acht lassen dürfe. Abgeordneter Anton Wattaul (F) sprach sich ebenfalls für ein europaweites Schienennetz aus, das wirtschaftlich geführt werden könne, man brauche aber Schiene und Straße. Die Abgeordneten Andreas Khol (V) und Erwin Niederwieser (S) fragten insbesondere nach dem Transitvertrag.

Dazu führte der Bundeskanzler aus, dass nun wirtschaftliche Rahmenbedingungen angesprochen würden, auf die man aufbauen müsse. Österreich habe in dieser Hinsicht viel und professionelle Lobbyingarbeit zu leisten, die Kommission werde nun dem Rat einen Vorschlag unterbreiten, und dieser müsse zustimmen. Schüssel schloss nicht aus, dass es im Europäischen Parlament Stolpersteine geben werde.

EUROPA IST NOCH KEINE KONJUNKTURLOKOMOTIVE

Im weiteren Verlauf der Diskussion erläuterte der Kanzler, dass es im Telekommunikationsbereich Fortschritte gegeben habe, die Reformarbeit stecke jedoch in den Fragen des Risikokapitals, des Gemeinschaftspatents, des Rahmens für öffentliche Aufträge, der Liberalisierung der Elektrizitäts- und Gasmärkte, des einheitlichen Marktes für alle Finanzdienstleistungen und des  Satellitennavigationssystemes. Besonderes Augenmerk werde auch Basel II geschenkt, da man verhindern wolle, dass jene Banken, die vornehmlich Mittelbetriebe finanzieren, unter Druck kommen. Österreich könne sich dabei einer breiten Unterstützung erfreuen, er hielte es aber auch für notwendig, dass sich die Kommission des Themas der Eigenkapitalbildung in einem Grünbuch annimmt. Diese Frage wurde insbesondere von Abgeordnetem Hans Müller (F) angesprochen. Als geplante legistische Vorhaben, über die noch in diesem Jahr Einigung erzielt werden soll, nannte Schüssel Regelungen gegen Marktmissbrauch, zur Finanzierungssicherheit, zu internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen und zu den Pensionsfonds. Grundsätzlich bedauerte er jedoch, dass es Europa noch nicht geschafft habe, eine Konjunkturlokomotive wie Amerika zu werden.

Bundesministerin Ferrero-Waldner ging auf die Umweltdimension der nachhaltigen Entwicklung ein und unterstrich, dass die EU die Nachhaltigkeit als ein Konzept anerkenne. Interne Strategien sollen durch externe Strategien erweitert werden, welche nächste Woche diskutiert und beim Rat in Sevilla beschlossen werden sollen. Ein ernsthaftes Problem stelle aber der Mangel an Global Government in diesem Bereich dar, weshalb sie sich für stärkere internationale Netzwerke und Partnerschaften einsetze. Ohne größere Kohärenz der Politik werde man das Ziel nicht erreichen, weshalb dieser Bereich voll in den Lissabon-Prozess eingebunden werden müsse. (Fortsetzung)

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