Parlamentskorrespondenz Nr. 336 vom 08.05.2002

TEMELIN-SONDERAUSSCHUSS: WAS SAGEN DIE FACHLEUTE?

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Wien (PK) - Im Anschluss an die Generaldebatte, mit der die Abgeordneten die heutige Sitzung des Temelin-Sonderausschusses eingeleitet hatten, kamen die insgesamt zehn Experten, die den Beratungen eingangs beigezogen worden waren, zu Wort.

Eingeleitet wurde das Expertenhearing von Patricia Lorenz (Global 2000), die in dem Brüsseler Abkommen nicht den "großen Wurf mit großem Potential" sah, als der es bezeichnet worden war. Österreich habe viele Chancen vergeben, habe sich überrumpeln lassen, lautete ihre Einschätzung. So sei etwa die UVP nach tschechischem Recht statt nach internationalen Standards durchgeführt worden, klagte Lorenz, die auch den Abschluss des Energiekapitels als "großen Fehler" bezeichnete. Lorenz machte auf Äußerungen der Vorsitzenden der tschechischen Atomenergiebehörde aufmerksam, die zu dem Abkommen angemerkt habe, es mache nur minimale Änderungen am Kraftwerk und keinerlei Umbauten notwendig. Die Stilllegung des AKW werde von niemandem auch nur angedacht, alles, worum es jetzt noch gehen könne, sei Schadensbegrenzung. Dass die EU-Energiekommissarin Temelin zu einem Standardmodell für EU-AKW machen wolle, sei ein Rückschritt, sagte Lorenz. Auch wandte sie sich dagegen, die AKW-Sicherheitskontrolle bei der EU-Kommission anzusiedeln, sei doch die Kommission nicht einmal in der Lage, die Kontrollen gemäß Euratom-Vertrag wahrzunehmen.

Sektionschef Dr. Ernst Streeruwitz (Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft) trat der Argumentation entgegen, Sicherheitsstandards und UVP für AKW seien abzulehnen, weil ein AKW nicht sicher und nicht umweltverträglich sein könne. Der in Brüssel vereinbarte Prozess laufe, der Workshop über die Strahlenausbreitung werde noch in diesem Mai stattfinden. Die Frage der hochenergetischen Rohrleitungen auf der 28,8 m-Bühne werde im Herbst behandelt. Der Fahrplan zur Umsetzung der Schlussfolgerungen des Melker Prozesses wird nach Auskunft des Sektionschefs eingehalten. Die Nullvariante sei von Anfang an eingebracht und den Tschechen deutlich gemacht worden, dass die Nichtinbetriebnahme des AKW Temelin die akzeptablere und ökonomisch bessere Variante für Tschechien wäre. Die österreichische Haltung zur Atomenergie sei in der EU singulär. "Wir müssen die Realität zur Kenntnis nehmen. Wir sind außerordentlich engagiert, es ist aber nicht leicht, Koalitionspartner in der Ausstiegsfrage zu finden." Die österreichische Position zur Änderung des Euratom-Vertrags - die einstimmig erfolgen müsste - werde von anderen EU-Ländern nicht mitvertreten und geteilt.

Der Melker Prozess habe Einblicke ermöglicht, die anders nicht zu gewinnen gewesen wären. Temelin ist kein "Schrottreaktor", sagte der Sektionschef. Es ist eine neue Anlage mit Problemen, für deren Behebung ein Zeitplan ausgearbeitet wurde, der eingehalten wird.

DI Herbert Lechner (Energieverwertungsagentur) informierte die Abgeordneten über die Ergebnisse einer Rentabilitätsberechnung für das AKW Temelin. Aufbauend auf fünf Szenarien könne man klar feststellen, dass dieses Kraftwerk eine unrentable Investition darstelle. Die Inbetriebnahme des AKW Temelin erzeuge keinen ökonomischen Nutzen. Am ökonomisch sinnvollsten sei die Nullvariante. Nur unter einer einzigen - sehr unrealistischen - Bedingung, nämlich des Exports zu sehr hohen Marktpreisen, könnte Temelin rentabel betrieben werden. Das dafür erforderliche Preisniveau sei auf dem Binnenmarkt aber nicht zu erzielen. Ein Export der gesamten Stromproduktion sei überdies auch aus technischen Gründen nicht möglich, weil die dafür notwendigen Leitungskapazitäten fehlten.

Radko Pavlovec (Amt der Oberösterreichischen Landesregierung) erinnerte an Schwierigkeiten bei der Auswertung des Zwischenfalles vom 7. Februar dieses Jahres und schlug angesichts des Umstandes, dass bei diesem Zwischenfall Ventile versagten, die Gegenstand der internationalen Vereinbarung seien, vor, das Tempo bei der Prüfung der Ventilqualifikation, wie sie der "Fahrplan" vorsehe, zu beschleunigen.

Der Experte informierte über die Entwicklung der tschechischen Stromexporte seit 1999 und stellte dabei fest, dass Tschechien relativer Spitzenreiter bei den Stromexporten sei. Pavlovec hielt die Einhaltung des Atomstromimportverbots aus Drittstaaten für wichtig und machte darauf aufmerksam, dass Tschechien bemüht sei, die Auswirkungen der Marktöffnung rückgängig zu machen und durch eine Integration der CES und der tschechischen Distributionsfirmen die Kosten des Stromexports auf die tschechischen Inlandskunden zu überwälzen. Dies sei eine Quersubventionierung, wie sie in der EU nicht zulässig sei. Pavlovec regte eine Least-cost-Studie zur Inbetriebnahme des AKW Temelin an, die alle volkswirtschaftlichen Effekte (steigende Arbeitslosigkeit u.a.) berücksichtige.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Kromp (Institut für Risikoforschung) berichtet von Erfolgen der Anti-Atom-Politik aller Bundesregierungen und meinte, auch wenn man nicht alles erreicht habe, sollte man die Zeit nicht mit rückwärts gewandter Kritik verschwenden, sondern den Blick nach vorne richten. Die Nullvariante sei seiner Meinung nach nicht leicht erreichbar. Österreich sei in ein internationales Umfeld eingebunden und müsse zu vermeiden trachten, dass die Österreicher auf internationaler Ebene mit einer skurrilen "Atomfurcht" identifiziert würden. Temelin habe ein mächtigeres Containment als viele deutsche AKW. Die Fragen der Sicherheit und der Rentabilität sollten im Detail geklärt werden. Über die Reihenfolge des vorgesehen Fahrplans und die Dringlichkeit sei er nicht glücklich. Den WPNS-Prozess (Working Party on Nuclear Safety) der EU halte er für wichtig. Der Abschlussbericht liege noch nicht vor, seine Abfassung befinde sich in der kritischen Phase, die derzeit vorliegenden - unakzeptablen - Entwürfe sollten verbessert werden.

Auch Kromp hielt das AKW Temelin nicht für einen "Schrottreaktor",  sondern für eine eindrucksvolle technische Anlage, bei der aber Hausaufgaben, die vor einer Inbetriebnahme zu erledigen gewesen wären, nicht gemacht worden seien.

Univ.-Prof. Dr. Helga Kromp-Kolb (Institut für Meteorologie) bezog sich auf Ausbreitungsberechnungen für radioaktive Aerosole, die Österreich im Falle eines schweren Unfalls in Temelin massiv betreffen würden. In diesem Zusammenhang machte die Wissenschaftlerin auf Widersprüche zwischen österreichischen Berechnungen und den Ergebnissen der tschechischen UVP aufmerksam, die beim bevorstehenden Expertenworkshop angesprochen werden. Aus meteorologischer Sicht liege das AKW Temelin für Österreich ungünstiger als andere AKW, lautete die Beurteilung der Expertin.

Grundsätzlich sprach Kromp-Kolb ihr Bedauern darüber aus, dass es bei der Einschätzung von Atomgefahren keinen objektiven Richter gebe und die technischen Risken sehr unterschiedlich bewertet würden. Daher sei es wichtig, externe Experten in alle Überprüfungen einzubinden. Die Sicherheitskultur, die sowohl bei den AKW-Betreibern als auch bei der Atomaufsichtsbehörde in Tschechien herrsche, entspreche nicht den internationalen Standards, schloss Kromp-Kolb.

Univ.-Prof. Dr. Peter Böhm (Universität Wien) konzentrierte sich auf rechtliche Aspekte der Temelin-Diskussion und führte aus, dass das Völkerrecht bis vor kurzem von einer nationalen Souveränität in der Energiepolitik ausgegangen sei. Neuere Entwicklungen deuteten aber darauf hin, dass dieser Grundsatz nicht mehr uneingeschränkt gelte. Böhm sah Ansätze für das Entstehen eines internationalen Umweltrechts und für die Beschränkung der nationalen Souveränität, wo es um die Sicherheit des Nachbarn gehe. Böhm empfahl eine offene Informationspolitik und den Verzicht auf einseitige Expertisen. Der Melker Prozess habe Fortschritte gebracht, stellte Böhm fest. In der Frage möglicher Sanktionen wies der Jurist auf die Verknüpfung mit dem Beitrittsprozess und auf das Energiekapitel hin, wobei er aber zu bedenken gab, dass ein Aufschnüren des Energiekapitels nur aus guten Gründen möglich sein werde. Wichtig werde es sein, in der Evaluierung zu einer möglichst objektiven Zusammensetzung der Expertengremien zu kommen. Sollte sich herausstellen, dass Zusagen nicht voll erfüllt werden, müsste man sagen, es sei gerechtfertigt, das Energiekapitel vor den Beitrittsverhandlungen aufzuschnüren.

Univ.-Prof. Dr. Ing. Helmut Karwat (München) bezeichnete das Containment des AKW Temelin als "nicht schlecht"; der als "Containment-Papst" apostrophierte Wissenschaftler wollte aber ein Versagen des Containments bei einem schweren Unfall im AKW Temelin nicht ausschließen. Er hielt es für notwendig, das Sprödbruchverhalten des Reaktordruckbehälters abzuklären und riet zu Überlegungen, wie man mit dem erhöhten Risiko im Vergleich zu westlichen AKW umgehen wolle. Um mit den Folgen eines schweren Unfalles fertig zu werden, empfahl Karwat die Ausarbeitung von Evakuierungsplänen und empfahl die Einbeziehung externer Experten, um mit Tschechien in aussichtsreiche Gespräche über Vorkehrungen für den Fall eines schweren Unfalls einzutreten.

DI Geert Weimann (Österr. Forschungs- und Prüfzentrum Arsenal Ges.m.b.H.) schloss sich Prof. Karwat in der Einschätzung an, dass die Versagenswahrscheinlichkeit des Containments in Temelin höher sei als bei westlichen AKW. Als verbesserungsbedürftig schätzte Weimann auch die Sicherheitskultur bei den tschechischen Betreibern und Behörden ein. Beim Versuch, die Sicherheit des AKW Temelin in die Nähe eines westlichen AKW zu bringen, seien insgesamt 75 Mängel festgestellt worden, von denen 66 oder 67 behoben wurden, 8 seien auf dem Wege der Behebung. Österreich müsse auf die Realisierung der Maßnahmen drängen, die der Behebung dieser Sicherheitsmängel dienen.

Dr. Karl Kienzl (Umweltbundesamt) informierte die Abgeordneten darüber, dass die Koordination bei der Erfüllung des "Fahrplanes" beim Umweltbundesamt liege und das Umweltbundesamt auch an der UVP teilgenommen habe. Da der UBA-Vertreter aber kein Stimmrecht hatte, trage er auch keine Verantwortung für das Ergebnis der UVP.

Die Energiepartnerschaft Österreichs mit EU-Beitrittskandidaten bezeichnete Kienzl als einen guten Weg in der Atompolitik. Von der tschechischen Seite bekomme das UBA viele Informationen, in manchen Bereichen bestünden aber auch Informationsdefizite. Das Umweltbundesamt verfüge zu keinem Kernkraftwerk über so viele Informationen wie zu Temelin.

In einer zweiten Verhandlungsrunde beantworteten die Experten Detailfragen der Abgeordneten.

Univ.-Prof. Dr. Peter Böhm (Universität Wien) sah in einer Klage wegen Wettbewerbsverzerrungen einen möglichen Hebel, um zu einer EU-Prüfung des AKW Temelin zu kommen, da das Wettbewerbsrecht von den EU-Organen sehr ernst genommen werde. Die Frage nach einer möglichen Sanktionierung des Brüsseler Vertrages läuft für Böhm im Endeffekt auf ein Veto hinaus.

Univ.-Prof. Dr. Ing. Helmut Karwat (München) bezeichnete Vorkehrungen als wichtig, um zu verhindern, dass es im Falle einer Kernschmelze zu einem Containment-Versagen kommt. Bisher sei nichts geschehen, um einen Hochdruckunfall zu vermeiden, auch seien die Pläne nicht realisiert worden, um im Falle einer Kernschmelze eine Zerstörung der Bodenplatte zu vermeiden. Temelin weise ein erhöhtes Risiko bei Störfällen auf, die über Auslegungsstörfälle hinausgehen, sagte Karwat.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Kromp (Institut für Risikoforschung) teilte mit, dass Maßnahmen noch ausstehen, die vor der Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes hätten getroffen werden müssen. Die Prüfung der Sprödbruchproblematik des Druckbehälters werde Auskunft über die Lebensdauer des AKW Temelin geben und sei daher sehr wichtig für die Rentabilitätsberechnungen. Bei der Prüfung des Primärkreislaufes seien nicht die schärfsten Methoden angewendet worden, sodass nicht alle möglichen Defekte ausgeschlossen werden könnten; dies soll bis 2004 nachgeholt werden. Die Turbine stehe nicht im Vordergrund von Sicherheitsüberprüfungen, teilte der Experte mit. Beim Störfall am 7. Februar dieses Jahres haben, so Kromp, wie in der Folge auch DI Geert Weimann und Radko Pavlovec, Umkehrventile versagt.

Aus diesem Zwischenfall resultierte für Radko Pavlovec unmittelbarer Handlungsbedarf. Die laut Fahrplan für den Herbst dieses Jahres vorgesehene Qualifizierung der Ventile sollte seiner Meinung nach vorgezogen werden.

SC DR. Ernst Streeruwitz (BM für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft) kündigte eine genaue Analyse des Vorfalls vom 7. Februar im Rahmen des Berichts an, den der Bundesminister vorlegen werde. In der derzeitigen Situation sah der Sektionschef keine Möglichkeit, über eine Öffnung des Fahrplanes zu verhandeln, da auf der tschechischen Seite derzeit die Gesprächspartner fehlten.

Schließlich unterbrach Ausschussobmann Georg Oberhaidinger die Beratungen des Temelin-Sonderausschusses bis 6. Juni dieses Jahres. (Schluss)