Parlamentskorrespondenz Nr. 527 vom 04.07.2002

MASSENVERFAHREN: VWGH WIRD ENTLASTET, VFGH MUSS WARTEN

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Wien (PK) - Dem Verwaltungsgerichtshof winkt in Zukunft eine Entlastung im Zusammenhang mit Massenverfahren. Der Verfassungsausschuss des Nationalrats beschloss heute - auf Basis eines Antrags der Koalitionsparteien - mit VP-FP-Mehrheit eine entsprechende Novellierung des Verwaltungsgerichtshofgesetzes. Grundgedanke der Gesetzesänderungen ist es, den Anfall tausender gleichartiger Beschwerden vor dem VwGH zu vermeiden, ohne dabei jedoch den Rechtsschutz zu beeinträchtigen.

Konkret kann der Verwaltungsgerichtshof künftig, wenn ihm eine erhebliche Zahl gleichartiger Beschwerden gegen Bescheide vorliegt oder er solche erwartet, einen Beschluss fassen, den der Bundeskanzler bzw. der zuständige Landeshauptmann kundzumachen hat. Eine solche Kundmachung hat zur Folge, dass letztinstanzliche Verwaltungsverfahren, in denen die betreffende Norm anzuwenden ist, unterbrochen werden. Erst wenn das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes in dieser Rechtsfrage kundgemacht wird, sind diese Verwaltungsverfahren fortzusetzen und dann auf Grundlage dieses Erkenntnisses zu entscheiden.

Auch für den Verfassungsgerichtshof war bereits vor einiger Zeit eine ähnliche Regelung initiiert worden, diese könne aufgrund der dazu erforderlichen Verfassungsänderung jedoch noch nicht beschlossen werden, heißt es in den Erläuterungen zum gegenständlichen Entwurf. Da jedoch eine Flut von Beschwerden die Funktionsfähigkeit des Verwaltungsgerichtshofes zu beeinträchtigten droht, habe man sich nun entschieden, den Antrag, der den Verwaltungsgerichtshof betrifft, vorrangig zu behandeln. Die neuen Bestimmungen, die in ihrer endgültigen Formulierung auf einem heute eingebrachten V-F-Abänderungsantrag beruhen, sollen mit 1. Oktober 2002 in Kraft treten.

Im Rahmen der Diskussion wiesen sich die Abgeordneten der Koalitionsparteien auf der einen Seite und die SPÖ auf der anderen Seite gegenseitig die Schuld dafür zu, warum heute für den Verfassungsgerichtshof nicht eine ähnliche Regelung wie für den Verwaltungsgerichtshof beschlossen wird. Abgeordnete Ulrike Baumgartner-Gabitzer (V) und Abgeordneter Michael Krüger (F) machten geltend, dass die SPÖ bei seinerzeitigen Verhandlungen diese Frage in unzulässiger Weise mit anderen Verfassungsänderungen junktimiert habe und es daher zu keiner Einigung gekommen sei. So habe die SPÖ etwa durchsetzen wollen, dass bereits außer Kraft getretene Gesetze nachträglich für verfassungswidrig erklärt werden können, was Baumgartner-Gabitzer jedoch als nicht zielführend ablehnt.

Abgeordneter Johannes Jarolim äußerte namens der SPÖ hingegen die Vermutung, dass der Verfassungsgerichtshof wegen mehrerer für die Regierung missliebiger Entscheidungen bestraft werden solle. Es habe bereits eine vier-Parteien-Einigung in der Frage gegeben, den VfGH in Zusammenhang mit Massenverfahren zu entlasten, sagte er, diese sei von den Koalitionsparteien aber just zu dem Zeitpunkt widerrufen worden, zu dem der VfGH Teile der Pensionsregelung aufgehoben habe. Jarolim bot der Koalition neuerliche Verhandlungen zu diesem Thema an und beantragte in diesem Sinn eine Vertagung des vorliegenden Antrags, um für VwGH und VfGH gleichzeitig eine Regelung zu beschließen.

Seitens der Koalition wurde das Verhandlungsangebot Jarolims ausdrücklich begrüßt, sowohl FPÖ als auch ÖVP sprachen sich jedoch gegen eine weitere Verzögerung der Regelung für den Verwaltungsgerichtshof aus. Abgeordnete Baumgartner-Gabitzer und Abgeordneter Krüger gaben zu bedenken, dass im Sommer möglicherweise Massenverfahren auf den VwGH zukommen, deshalb müsse eine rasche Entscheidung getroffen werden. Schließlich könnten Massenverfahren einen Gerichtshof tatsächlich lahmlegen, sagte Krüger. Staatssekretär Franz Morak teilte in diesem Zusammenhang mit, dass auch VwGH-Präsident Clemens Jabloner dringend darum gebeten habe, den Gesetzentwurf heute im Verfassungsausschuss zu beschließen.

Abgeordnete Terezija Stoisits (G) unterstützte dem gegenüber den Vertagungsantrag der SPÖ und betonte, es wäre sinnvoll, Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof gleich zu behandeln. 

Einstimmig beschloss der Verfassungsausschuss eine von ÖVP und FPÖ beantragte Änderung des Verfassungsgerichtshofgesetzes. Danach fallen Personalangelegenheiten am Verfassungsgerichtshof und Angelegenheiten, die "die sachlichen Erfordernisse betreffen", in Hinkunft in die Kompetenz des jeweiligen VfGH-Präsidenten und nicht mehr unter die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers. Vor wichtigen Personalmaßnahmen ist der aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und den ständigen Referenten des Verfassungsgerichtshofes bestehende Personalsenat zu hören. Begründet wird dieser Schritt damit, dass der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 10. März 2000 eine ähnliche Bestimmung den Verwaltungsgerichtshof betreffend als verfassungswidrig aufgehoben hat.

Auch diese Bestimmungen sollen gemäß einem heute von Abgeordneter Baumgartner-Gabitzer eingebrachten und bei der Abstimmung mitberücksichtigten V-F-Abänderungsantrag am 1. Oktober 2002 in Kraft treten.

VERWALTUNGSGERICHTSHOF NOTORISCH ÜBERLASTET

Weiters boten die von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vorgelegten Tätigkeitsberichte des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes für die Jahre 1999 und 2000 den Abgeordneten Gelegenheit, sich mit der Arbeitsbelastung der beiden Gerichtshöfe und anderen Fragen auseinanderzusetzen.

Abgeordneter Johannes Jarolim (S) wies auf die notorische Überlastung des Verwaltungsgerichtshofes hin und mahnte die dringende Einrichtung von Landesverwaltungsgerichtshöfen ein. Er verstehe nicht, warum diese immer wieder geforderte und seiner Ansicht nach sinnvolle Maßnahme nicht umgesetzt werde, meinte er. Schließlich müsse man fast schon von Rechtsverweigerung sprechen, wenn jemand nach einem in der Regel ohnehin schon langen Verfahren dann noch bis zu vier Jahre auf eine Entscheidung des VwGH warten müsse.

Abgeordnete Ulrike Baumgartner-Gabitzer (V) räumte ein, dass der Verwaltungsgerichtshof überlastet sei, machte aber geltend, dass bereits einzelne Maßnahmen zu dessen Entlastung gesetzt worden seien. Insbesondere verwies sie auf die Kompetenzerweiterung der Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern und den nunmehrigen Gesetzentwurf in Bezug auf Massenverfahren. Baumgartner-Gabitzer ist überzeugt, dass die genannten Maßnahmen eine wesentliche Entlastung des Verwaltungsgerichtshofes bringen werden.

Ähnlich äußerte sich auch Abgeordneter Michael Krüger (V). Er gab zu bedenken, dass für die Einrichtung von Landesverwaltungsgerichtshöfen eine Zweidrittelmehrheit notwendig sei, über die die jetzige Regierung aber nicht verfüge. Er selbst habe nichts gegen eine Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern, skizzierte er, vielmehr sei dies eine alte Forderung der FPÖ, um die volle Funktionsfähigkeit des VwGH wieder herzustellen. Krüger wies darauf hin, dass es immer wieder zu Verurteilungen Österreichs vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wegen überlanger Verfahrensdauer komme. Allerdings glaubt auch er, dass die im Rahmen der Verwaltungsreform gesetzten Maßnahmen zu einer Entlastung des VwGH führen werden.

Staatssekretär Franz Morak hielt fest, die Bundesstaatsreform, zu der auch die Einrichtung von Landesverwaltungsgerichtshöfen gehöre, sei ein "Evergreen" im Parlament. Es liegt seiner Auffassung nach aber nicht nur an einzelnen Ländern, dass es zu keiner Umsetzung komme. Mit der Aufwertung der Unabhängigen Verwaltungssenate gibt es ihm zufolge immerhin eine Teilerfüllung der Forderungen und eine substanzielle Verbesserung für den Verwaltungsgerichtshof.

Diese Sicht konnten Abgeordneter Peter Wittmann (S) und sein Klubkollege Jarolim jedoch nicht teilen. Wittmann betonte, man habe die Chance verpasst, für den VwGH Erleichterungen zu schaffen, da die Unabhängigen Verwaltungssenate keine generelle reformatorische Entscheidungsbefugnis erhalten haben, sondern hier vom Good-will der ersten Instanz abhängig seien. Jarolim meinte, die UVS seien kein Ersatz für Landesverwaltungsgerichtshöfe.

Sowohl Jarolim und Wittmann als auch die Grün-Abgeordneten Terezija Stoisits und Madeleine Petrovic übten vehemente Kritik an den Angriffen auf den Verfassungsgerichtshof durch Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider. Es sei "ungeheuerlich", was Anfang 2002 passiert sei, sagte Stoisits und forderte eine gemeinsame Ablehnung der Angriffe durch den Verfassungsausschuss. Wittmann unterstrich, es gehe nicht an, wie manche Repräsentanten des Staates mit dem VfGH umgingen und eine wesentliche Säule der Rechtsstaatlichkeit desavouierten.

Abgeordnete Petrovic kritisierte auch die Reaktion auf das VfGH-Erkenntnis zu den zweisprachigen Ortstafeln. Sie wertete es als "ein gewisses Zeichen von Feigheit", dass der vorliegende Bericht im Ausschuss enderledigt und nicht im Plenum des Nationalrates diskutiert wird.

Abgeordneter Michael Krüger (F) hielt dazu fest, für ihn sei es klar, dass man Institutionen wie den Verfassungsgerichtshof in keinster Weise in Frage stellen solle.

Der Bericht des Bundeskanzlers wurde einstimmig zur Kenntnis genommen. Daraus geht hervor, dass der Verwaltungsgerichtshof mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen hat und nach wie vor notorisch überlastet ist. So betrug die durchschnittliche Erledigungsdauer der im Jahr 2000 mit Sachentscheidung erledigten Bescheidbeschwerden fast 20 Monate, 1.021 Beschwerdefälle waren bereits länger als drei Jahre anhängig, was; wie VwGH-Präsident Clemens Jabloner im Bericht festhält, bereits zu einer Reihe von Verfahren vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof geführt hat. Er warnt zudem davor, dass bei gleichbleibenden Arbeitsbedingungen die Qualität der Entscheidungen in Zukunft in Frage gestellt sein könnte, da ein Richter zur Erarbeitung eines Entscheidungsentwurfs pro Beschwerdefall im Durchschnitt nicht einmal mehr zwei Arbeitstage zur Verfügung hat, und das bei steigender Komplexität des "Normenmaterials".

Insgesamt wurden im Jahr 2000 6.565 neue Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof herangetragen, dazu kamen 2.188 Anträge auf Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung. Gleichzeitig waren 9.332 Beschwerden und 421 Anträge auf aufschiebende Wirkung aus früheren Jahren anhängig. Erledigt wurden im Jahr 2000 7.104 Beschwerden und 2.323 Anträge auf aufschiebende Wirkung.

Die Lage am Verfassungsgerichtshof ist zwar weniger dramatisch, aber auch er ist stark belastet. So wurden im Jahr 2000 2.789 neue Fälle an ihn herangetragen, 2.902 Fälle konnten erledigt werden. 16 der offenen Fälle datieren aus dem Jahr 1997, 115 aus dem Jahr 1998. Wie bereits in den vorangegangenen Jahren betraf ein Großteil der neu an den VfGH herangetragenen Fälle Beschwerden von Bürgern, darüber hinaus gingen beim VfGH 173 Gesetzesprüfungsanträge sowie 145 Anträge auf Prüfung von Verordnungen ein. Die restlichen Fälle betrafen Kompetenzkonflikte, Wahlanfechtungen, vermögensrechtliche Ansprüche und Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Rechnungshof und geprüften Rechtsträgern hinsichtlich der Prüfungszuständigkeit.

Unmut bei den Verfassungsrichtern ruft die ihrer Ansicht nach verstärkt zu beobachtende Praxis hervor, so genannte Sammelgesetze zu erlassen und ein und dieselbe Rechtsvorschrift in kürzesten Abständen zu ändern. Diese Umstände führten dazu, dass die Rechtsordnung immer schwerer zu durchschauen sei, meint der VfGH, was in weiterer Folge zu einem Konflikt mit einem Grundprinzip der Verfassung, dem rechtsstaatlichen Prinzip, führen könnte. (Fortsetzung)