Parlamentskorrespondenz Nr. 673 vom 07.10.2002

EIN PHILOSOPH AUF DER SUCHE NACH DEN FUNDAMENTEN DES RECHTS

Hans Kelsen, der Jurist des Jahrhunderts

Wien (PK) - Er hat der Rechtswissenschaft mit seiner "Reinen Rechtslehre" ein theoretisches Fundament gegeben, hat maßgeblich an der Ausarbeitung des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 mitgewirkt, mit dem Verfassungsgerichtshof ein Vorbild moderner Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen, Bahnbrechendes auf dem Gebiet des Völkerrechts geleistet und klassische Werke der politischen Theorie verfasst. Die Rede ist von Hans Kelsen, dem weltberühmten österreichischen Staatsrechtler und Rechtsphilosophen, den viele seiner Fachkollegen als den "Juristen des Jahrhunderts" bezeichnet haben.

Ein Porträt Hans Kelsens, das posthum von Ulrich Gansert angefertigt wurde und den Gelehrten im Alter von 70 Jahren zeigt, kann der Parlamentsbesucher im Vorraum des Budgetsaales betrachten. Hier befand sich am Beginn der Ersten Republik jenes Lokal III, in dem Kelsen als Experte des Verfassungsausschusses an der Textierung des Bundes-Verfassungsgesetzes mitwirkte, das die Konstituierende Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 einstimmig beschloss und das noch heute die Grundlage für das staatliche Leben der Republik Österreich bildet.

Als Sohn eines jüdischen Lampenhändlers 1881 in Prag geboren, war Hans Kelsen als Kind mit seiner Familie nach Wien übersiedelt. Er maturierte am Akademischen Gymnasium und studierte von 1901 bis 1906 bei dem berühmten Verfassungsrechtler Eduard Bernatzik Staatsrecht. Schon als Student publizierte Kelsen eine Untersuchung zu Dantes Staatslehre und habilitierte sich nach Studien bei Georg Jellinek in Heidelberg mit dem 1911 erschienen Werk "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus dem Begriff des Rechtssatzes". Hans Kelsen lehrte zunächst als außerordentlicher Professor an der Exportakademie (heute Wirtschaftsuniversität), dann an der Wiener Universität und folgte 1919 seinem Lehrer Eduard Bernatzik als Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht nach.

Erste praktische Erfahrungen mit dem Verfassungsrecht konnte der 1914 zum Heer einberufene Hans Kelsen in der letzten Phase des Krieges sammeln. Als Militärjurist zum Rechtsberater von Kriegsminister Rudolf Stöger-Steiner aufgestiegen, arbeitete Kelsen an einer Verfassungsreform für die Zeit nach dem Krieg. Kelsen hatte damals auch Kontakt zu Kaiser Karl und erlebte die verzweifelten Versuche, den alten Staat zu retten, aus nächster Nähe mit.

VERFASSUNGSKONSULENT IN EINER PARLAMENTARISCHEN REVOLUTION 

Als die Provisorische Nationalversammlung nach dem Zusammenbruch der Monarchie in einem revolutionären Akt den Staat "Deutschösterreich" aus der Taufe hob und unter der Federführung Karl Renners daranging, nach und nach eine neue - zunächst provisorische - Verfassung auszuarbeiten, wurde Hans Kelsen als Konsulent für Verfassungsfragen in die Staatskanzlei berufen. Für den jungen Gelehrten sprachen dessen hervorragender Ruf als Verfassungsjurist sowie der Umstand, dass er Karl Renner politisch nahe stand und dessen verfassungstheoretische Positionen teilte.

Am 30. Oktober 1918 verabschiedeten die Abgeordneten das von Karl Renner entworfene und von ihm als "Notdach", als "Stück einer Verfassung" bezeichnete Gesetz "über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt". Ein Staatsrat wurde als Organ zur Ausübung der Exekutivgewalt eingerichtet und damit der Wille der Abgeordneten zum Ausdruck gebracht, die Regierungsgeschäfte selbst, durch einen ihrer Ausschüsse zu führen. Dieser Staatsrat agierte als ein vielköpfiger Ministerpräsident mit Richtlinienkompetenz, leitete als Ministerrat Gesetzesvorschläge zu und bereitete als Ausschuss Plenarbeschlüsse vor. Das tägliche Regierungsgeschäft lag beim Staatsratsdirektorium, das aus den Präsidenten der Nationalversammlung und Karl Renner als Leiter der Staatskanzlei bestand, die Leitung der Ministerien hatten Staatssekretäre inne. So blieb alle Macht in den Händen des Parlaments und die Regierung auf das Verwalten beschränkt. Der Beschluss der Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918 kann als Geburtsstunde des parlamentarischen Systems in Österreich bezeichnet werden, wobei die klassisch-liberale Trennung von gesetzgebender und exekutiver Gewalt, von Parlament und Regierung, zunächst noch zugunsten des gewaltenverbindenden Prinzips aufgehoben war.

Nachdem die Provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 die bis dahin noch offene Frage der Staatsform in ihrer ersten Sitzung im Haus an der Ringstraße mit dem "Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich" beantwortet, die Monarchie abgeschafft und die Republik begründet hatte, setzte sie in der "Dezembernovelle" erste tastende Schritte in Richtung klassisches Gewaltentrennungsmodell. Das Verordnungsmonopol des Staatsrates wurde aufgehoben, Karl Renner formell zum Staatskanzler, das Präsidium der Nationalversammlung erhielt Kompetenzen eines Staatsoberhauptes und der Staatsrat ein suspensives Veto gegen Beschlüsse der Nationalversammlung. Ebenfalls im Dezember wurden die bereits in der Monarchie bewährten Institutionen Rechnungshof und Verwaltungsgerichtshof in die neue Staatsordnung übernommen und das alte Reichsgericht in einen Verfassungsgerichtshof umgewandelt.

Für die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung, die am 16. Februar 1919 stattfand, hatte Hans Kelsen ein Verhältniswahlrecht ausgearbeitet. Hauptaufgabe dieses Parlaments war die Ausarbeitung einer endgültigen Verfassung. Gesetze über die Volksvertretung und die Staatsregierung komplettierten zunächst die provisorische Verfassung Deutschösterreichs. Diese "Märzverfassung", die Ignaz Seipel eine Vorreform auf dem Weg zur definitiven Verfassung nannte, befestigte die Parlamentsherrschaft und gestaltete sie zugleich neu. Als Organ der ständigen Verbindung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung wurde der Hauptausschuss geschaffen. Er schlug der Konstituierenden Nationalversammlung die Staatsregierung vor, die im Sinne eines klassischen parlamentarischen Systems nun nicht mehr einem Staatsrat, sondern dem ganzen Plenum verantwortlich war. Als Staatsoberhaupt fungierte der Präsident der Konstituierenden Nationalversammlung. Erste Kompromisse in der Kompetenzfrage zwischen Staat und Ländern ließen Tendenzen in Richtung Bundesstaat erkennen, eine formelle Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Gesamtstaates bestand aber noch nicht, eine Lücke, die man mit "Länderkonferenzen" zu schließen versuchte.

MITSCHÖPFER DER ÖSTERREICHISCHEN BUNDESVERFASSUNG

Auf dem Weg, den die "Konstituierende Nationalversammlung" bis zum Beschluss der definitiven Verfassung zurücklegte, kam Hans Kelsen, der Verfassungskonsulent der Staatskanzlei, eine Schlüsselposition zu. Den Auftrag, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, erhielt er von Karl Renner vor dessen Abreise zu den Friedensverhandlungen nach St. Germain im Mai 1919. Renners Direktiven lauteten auf eine parlamentarische Demokratie und einen Bundesstaat, in dem die zentralen Organe wichtige Kompetenzen innehaben. Der Föderalismus, der in der provisorischen Verfassung keine Rolle gespielt hatte, war ein neues Motiv in der Verfassungsentwicklung der Republik. Denn die Provisorische Nationalversammlung hatte die unitaristischen Traditionen der Habsburgermonarchie, die ein dezentralisierter Einheitsstaat war, fortgesetzt. Die österreichischen Länder, die über historisch weit zurückreichende staatsrechtliche Traditionen und eigenständige kulturelle Identitäten verfügen, setzten aber nach und nach den Anspruch durch, konstitutive Teile der Republik und Träger ihres politischen Willens zu sein. So wurden auf den Länderkonferenzen in Salzburg (Februar 1920) und Linz (April 1920) die Grundfragen des österreichischen Staatsrechts seit 1848 behandelt: Die Einrichtung Österreichs als Bundesstaat, die Stellung der zweiten Kammer, die Ausgestaltung der Kompetenzbestimmungen und die Demokratisierung der Verwaltung. Beide Entwürfe, die schließlich in Linz präsentiert wurden, jener des Christlichsozialen Michael Mayr und der Gegenentwurf des Sozialdemokraten Robert Danneberg, hatten Kelsensche Vorentwürfen zur Basis.

Dies war eine gute Voraussetzung für die zügigen und letztlich erfolgreichen Ausschussverhandlungen im Sommer 1920: Die Parteien konnten einander in systematisch verwandten Entwürfen begegnen. Politische Kompromisse waren wegen der ideologischen Differenzen, die sich zwischen den Parteien seit Beginn der zwanziger Jahre verschärften, ohnehin schwierig und auf vielen Gebieten gar nicht mehr möglich. Das zeigt auch der Zerfall der Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen im Juni 1920. Dennoch setzten die Parteien die Arbeiten an der Verfassung in der Absicht fort, sie vor Ende der Legislaturperiode abzuschließen. Der Verfassungsausschuss nahm am 8. Juli 1920 seine Verhandlungen auf, berief Hans Kelsen als Experten und setzte einen siebenköpfigen Unterausschuss ein, in dem unter anderen Otto Bauer, Ignaz Seipel und Robert Danneberg vertreten waren. Auch die Leiter des Verfassungs- und des Verwaltungsreformdienstes Georg Fröhlich und Egbert Mannlicher sowie Kelsens Schüler Adolf Merkl wirkten als Fachleute mit.

Der Unterausschuss begann seine Arbeit am 11. Juli und formulierte auf der Grundlage des Linzer Entwurfes und unter Heranziehung des sozialdemokratischen und eines Entwurfes der Großdeutschen in dreizehn Sitzungen einen Textvorschlag. Politisch strittige Fragen wurden ab 1. September 1920 in Parteienverhandlungen unter dem Vorsitz des Präsidenten der Konstituierenden Nationalversammlung, Karl Seitz, ausgeräumt oder ausgeklammert, sodass der Unterausschuss seine Arbeit am 23. September abschließen und dem Vollausschuss berichten konnte. Kelsen hatte maßgeblichen Anteil an der Formulierung des Verfassungstextes, die Abschnitte über den Verfassungs- und den Verwaltungsgerichtshof sowie über die Rechtsstellung Wiens als Bundesland stammen aus seiner Feder. Der Verfassungsausschuss nahm noch zahlreiche, aber inhaltlich unwesentliche Änderungen vor, sodass dessen Obmann Otto Bauer dem Plenum am 29. September berichten und einen Antrag vorlegen konnte. Nach ausführlicher Debatte und weiteren unwesentlichen Abänderungen wurde das Bundes-Verfassungsgesetz am 1. Oktober 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung einstimmig beschlossen.

Nach der Abstimmung hielt der Präsident der Konstituierenden Nationalversammlung, Karl Seitz, vom Präsidium aus eine Ansprache und hob unter den Männern, die zum Gelingen des schwierigen Verfassungswerkes beigetragen hatten, den Staatsrechtslehrer der Wiener Universität Hans Kelsen hervor, "der sich mit seinem reichen Wissen und Können und seiner unermüdlichen Arbeitskraft patriotisch in den Dienst der Sache gestellt hat".

DIE REINE RECHTSLEHRE

Zu den oft gerühmten Qualitäten des Bundes-Verfassungsgesetzes zählt dessen klare und nüchterne Sprache, die auch die wissenschaftlichen Werke Hans Kelsens auszeichnet. Sie entspricht der Rechtstheorie Kelsens, die auf der rigorosen Philosophie und Erkenntnislehre Kants aufbaut, die Kelsen bereits als Gymnasiast schätzte. Ausgangspunkt seiner Lehre war die Kritik an dem Rechtspositivismus, dem Kelsen in seinem Jusstudium begegnete. Er befriedigte den analytisch und theoretisch hochbegabten Studenten nicht, weil er, so Kelsen, seinem  Anspruch, Wissenschaft vom Recht zu sein, nicht gerecht wurde. Er beschränkte sich nicht auf das Recht an sich, auf die effektive Rechtsordnung, sondern bezog allerlei soziologische, politische und metaphysische Urteile ein. Kelsen entwickelte daher die Idee einer "Reinen Rechtslehre", die er in seinem 1934 erschienen Buch als eine "von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte" Rechtstheorie beschrieb. Kelsen wollte "von der eingewurzelten Gewohnheit abgehen, im Namen der Wissenschaft vom Recht, unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten."

Gegenstand der Rechtswissenschaft war für Kelsen nicht das "Sein" der Natur, des Menschen oder der Gesellschaft, wie es Natur- und Sozialwissenschaftler beschreiben, sondern ein davon klar geschiedenes "Sollen", das Kelsen als Inhalt der Normen verstand, wobei er Rechtsnormen von anderen - religiösen und ethischen - Normen durch ihre Wirksamkeit, ihre generelle Durchsetzbarkeit unterschied. Eng mit dieser Auffassung der Rechtsnormen verbunden ist Kelsens Staatstheorie: Der Staat ist für den Juristen Kelsen kein soziales Phänomen, sondern eine Rechtsordnung. Kelsens Theorie wurde als "Wiener Schule" oder "Kritischer Positivismus" weltweit bekannt und fand zahlreiche Anhänger. Adolf Merkl etwa entwickelte auf ihrer Grundlage die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, die Kelsen in sein Lehrgebäude übernahm.

Freilich stieß Kelsen mit seiner Rechtsphilosophie auch auf Kritik. Sein Positivismus biete keine Handhabe gegen undemokratische oder totalitäre Systeme, wurde etwa eingewendet, weil er allen wirksamen Rechtssystemen ungeachtet ihrer moralischen Qualität zubillige, rechtmäßig zu sein. Auf diesen Vorwurf reagierten Kelsen und seine Schüler mit dem Hinweis, dass die klare Unterscheidung zwischen Recht und Moral, die die "Reine Rechtslehre" auszeichne, keinerlei Überhöhung von Recht und Staat zulasse und daher jedem Individuum  die Möglichkeit offen lasse, sich aus moralischen Gründen gegen eine Rechtsordnung zu stellen und sich für ihre Änderung einzusetzen.

WEGWEISER AUS DER KRISE DES PARLAMENTARISMUS

Für den Rechtsphilosophen und politischen Theoretiker wie für den liberalen Demokraten Hans Kelsen war der Parlamentarismus das Herzstück der modernen Demokratie, für das er die klassische Definition von der "Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, also demokratisch, gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehrheitsprinzip" formulierte.

Als der Parlamentarismus in den zwanziger Jahren von links und rechts - die Parolen hießen "Rätedemokratie" und "berufsständische Ordnung" - in Frage gestellt wurde und auch in der liberalen Mitte von "Krise", "Bankrott" und "Agonie" der Parlamente die Rede war, verteidigte Kelsen den Parlamentarismus mit einer scharfsinnigen Analyse und unterbreitete bemerkenswerte Reformvorschläge. Kelsen erinnerte zunächst an die "respektable Leistung" der Parlamente bei der schrittweisen Überwindung der absoluten Monarchien, an die Beseitigung der Privilegien ständischer Rechtsordnungen, die volle Emanzipation des Bürgertums und die politische Gleichberechtigung der Arbeiterschaft, räumte aber ein, dass die weitreichenden Hoffnungen, die viele an die Durchsetzung des Parlamentarismus geknüpft hatten, von der repräsentativen Demokratie nicht zur Gänze erfüllt wurden, weil das Majoritätsprinzip und die Mittelbarkeit der Willensbildung auch einen Verzicht auf Freiheit und demokratische Selbstbestimmung mit sich bringen. Die Reformansätze, die Kelsen entwickelte, sind Jahrzehnte später für den Parlamentarismus der Zweiten Republik richtungweisend geworden: So schlug Kelsen vor, die Wähler in einem höheren Maße direkt an der Gesetzgebung zu beteiligen, als dies das klassische System des modernen Parlamentarismus vorsah und er plädierte dafür, nicht nur Verfassungsreferenden vorzusehen, sondern auch Gesetzesreferenden (Volksabstimmungen) und Volksinitiativen (Volksbegehren) zuzulassen.

Darüber hinaus ging Hans Kelsen, der als Ausschussexperte in einem der erfolgreichsten Gremien der österreichischen Parlamentsgeschichte mitgearbeitet hatte, auch auf die praktische Gesetzgebungsarbeit der Parlamente ein und setzte gegenüber der zeitgenössischen Kritik an mangelnder Fachkompetenz der Parlamente auf den Ausbau der bestehenden Fachausschüsse. Kelsen hat damit die Entwicklung "vom Redeparlament zum Arbeitsparlament" angesprochen, in dem die Ausschüsse, Unterausschüsse, Expertenhearings und Enqueten immer größere Bedeutung gewinnen. Hans Kelsen hatte erkannt, dass moderne, immer komplexer werdende Gesellschaften gezwungen sind, auch ihre Normerzeugung zunehmend arbeitsteilig zu organisieren.

EIN ÖSTERREICHISCHES GELEHRTENSCHICKSAL IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT

Die zwanziger Jahre waren zunächst Hans Kelsens goldene Wiener Jahre, in denen er die reiche Ernte seiner wissenschaftlichen Arbeit einbringen konnte. Sein Seminar, dem von Anfang an Adolf Merkl, Leonidas Pitamic und Alfred Verdross angehört hatten, war zum Kristallisationspunkt der "Wiener Rechtstheoretischen Schule" geworden. Schon 1913 hatte Kelsen in dem Brünner Professor Frantisek Weyr einen Anhänger und lebenslangen Freund gefunden, der Kelsens Lehren zur Basis seiner "Brünner Schule der Rechtstheorie" gemacht und viel zum internationalen Ansehen Kelsens beigetragen hatte. Trotz starken Engagements Kelsens in der Lehre publizierte er viele juristische und politikwissenschaftliche Werke. Zudem war Kelsen Verfassungsrichter und ständiger Referent des Gerichtshofes. Hatte es Kelsen in seiner akademischen Laufbahn stets verstanden, sich gegen antisemitische und politische Vorbehalte durchzusetzen, sah er sich in seiner Funktion als Verfassungsrichter bald Anfeindungen ausgesetzt, die ihm das Leben in Wien zunehmend verdüsterten und ihn letztlich veranlassten, seine Heimat zu verlassen. Kelsen vertrat in der Frage der Dispensehen eine laizistische Haltung und weigerte sich als Verfassungsrichter, die Ehen wiederverheirateter Katholiken, deren erste Ehe von einer Verwaltungsbehörde geschieden worden waren, durch ein Gerichtsurteil für ungültig zu erklären.

Diese kompetenzrechtlich einwandfreie, der verfassungsrechtlich gebotenen Trennung von Verwaltung und Judikatur entsprechende Auffassung brachte Kelsen erbitterte Feindschaft im katholischen Lager ein und zog Pressekampagnen sowie Verleumdungen in der Öffentlichkeit nach sich. Durch die Novellierung der Bundesverfassung im Jahr 1929, mit der die Regierung unter dem Titel einer "Entpolitisierung" eine Änderungen der Bestellung der Verfassungsrichter durchsetzte, verlor Kelsen schließlich sein Richteramt und hätte es nur als Kandidat der Sozialdemokratie wiedererlangen können. Zwar stand Kelsen Persönlichkeiten und Ideen der Sozialdemokratie nahe, die Parteiunabhängigkeit war ihm aber wichtig, da es für ihn undenkbar war, als Vertreter einer Partei Verfassungsgerichtsbarkeit auszuüben. Tief gekränkt über die Entfremdung des Verfassungsgerichtshofes, seines "Lieblingskindes", von dessen parlamentarischen Ursprüngen verließ er 1930 Österreich.

Kelsens erste Station in der Emigration war eine Professur an der Universität Köln, wo er im Völkerrecht ein neues Arbeitsgebiet fand. Im Jahr 1933 rettete Kelsen nur das mutige Eintreten eines Hörers, der ihm Unterschlupf gewährte und Ausreisepapiere besorgte, vor der Verhaftung durch die Nazis. Bis 1936 arbeitete Kelsen dann am "Institut Universitaire des Haute Etudes Internationale" in Genf, ehe er im Herbst 1936 nach Prag übersiedelte, wo ihm aber völkisch orientierte Studenten die Arbeit als Universitätslehrer sehr schwer machten.

Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs emigrierte Kelsen im Alter von 59 Jahren nach Amerika, wo er zunächst an der "New School for Social Research", dann zwei Jahre lang an der Harvard Law School lehrte, ehe er als Professor für Politikwissenschaft an die University of California in Berkeley berufen wurde. In seiner neuen Heimat widmete sich Kelsen dem Völkerrecht und der Analyse des angelsächsischen Rechtsystems und verband weiterhin akademische Lehre und Forschung mit Politikberatung. So beteiligte sich der Wissenschaftler an der Vorbereitung der Alliierten für die Verwaltung der befreiten deutschen Gebiete, beriet die "War Crimes Commission" und wirkte an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher mit. Im Jahr 1950 verfasste Hans Kelsen einen bis heute maßgeblichen Kommentar zur Satzung und zum Recht der Vereinten Nationen und blieb auch über seine Emeritierung 1952 hinaus rastlos wissenschaftlich aktiv.

Freunde beschrieben Hans Kelsen als einen peniblen Arbeiter, der seine Theorien entschieden und streitbar zu vertreten wusste. Legendär war Kelsens Großzügigkeit, selbst gegenüber jenen, die ihn menschlich enttäuscht hatten. Der Verfechter von Demokratie und Toleranz hat seine Ideale nicht nur theoretisch, sondern in seinem Leben verwirklicht. Als ihn ein Schüler einmal fragte: "Herr Professor Kelsen, Sie sind Freimaurer, ich bin Katholik, Sie sind Liberaler, ich bin Konservativer, Sie sind Republikaner, ich bin Monarchist - warum fördern Sie mich?" soll Kelsens Antwort gelautet haben: "Sehen Sie, lieber junger Freund, eben weil Sie all das nicht sind, was ich bin, darum fördere ich Sie."

Seine österreichische Heimat hat Hans Kelsen nach dem Krieg wiederholt besucht, zuletzt aus Anlass seines 90. Geburtstages im Jahr 1971. Damals ehrte die Republik Hans Kelsen durch Einrichtung einer Bundesstiftung und des Hans Kelsen-Instituts in Wien, das am 30. Oktober 1972 seine Arbeit an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Reinen Rechtslehre aufnahm. - Hans Kelsen starb am 19. April 1973 in Berkeley. Sein Nachlass enthielt ein umfassendes Werk zum Hauptthema seines wissenschaftlichen Lebenswerks, eine "Allgemeine Theorie der Normen". (Schluss)