Parlamentskorrespondenz Nr. 266 vom 05.05.2003

KHOL: ES GEHT DARUM, WIE WIR ES HEUTE BESSER MACHEN KÖNNEN

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Wien (PK) - Mit einer Rede von Nationalratspräsident Andreas Khol begann heute Vormittag die Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im historischen Sitzungssaal des Parlaments. Wir bringen im Folgenden den Wortlaut dieser Rede:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Am 5. Mai 1945 wurden die noch lebenden Opfer des nationalsozialistischen Verbrecherstaates, die im Konzentrationslager in Mauthausen gequält und geschunden wurden, von amerikanischen Soldaten befreit. Die Bilder des Grauens, die Gesichter und Körper der Überlebenden, die ihre Befreier begrüßten, kann niemand je vergessen, der sie gesehen hat.

Damit wir alle nicht vergessen, was Gewalt und Rassismus angerichtet haben und was sie immer und auch in Zukunft anrichten können, wenn nicht an der Wurzel bekämpft, gestalten wir alle den 5. Mai alljährlich im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus als Tag gegen Gewalt und Rassismus. Als Tag des Gedenkens an jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auf Grund ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihres Eintretens für das Vaterland, ihrer politischen oder religiösen Überzeugung, oder einfach wegen ihres „Anders-Seins“ verfolgt, gequält, getötet wurden.

So begrüße ich Sie alle, auch im Namen des Bundesratspräsidenten Herwig Hösele, im historischen Reichsratssitzungssaal zu unserer Gedenkveranstaltung.

Die Republik ist heute hier versammelt. Ich begrüße sehr herzlich und mit großem Respekt unser Staatsoberhaupt, Bundespräsident Dr. Thomas Klestil. An der Spitze der Bundesregierung sind Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel und Vizekanzler Mag. Herbert Haupt unter uns. Ich danke ihnen für ihr Kommen. Wir sind geehrt durch die Anwesenheit von Alt-Bundespräsident Dr. Kurt Waldheim und seiner Frau. Ich begrüße alle anwesenden Mitglieder des Nationalrates, die Bundesrätinnen und Bundesräte und die Mitglieder anderer gesetzgebender Körperschaften. An der Spitze des Diplomatischen Corps heiße ich den Nuntius, Erzbischof Dr. Georg Zur willkommen. Ich begrüße die Vertreter und Vertreterinnen Oberster staatlicher Organe, Mitglieder der Höchstgerichte, die Vertreter der Religionsgemeinschaften sowie die Vertreter der Länder und Gemeinden. Und mit besonderer Herzlichkeit begrüße ich die wenigen noch Überlebenden aus den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Verbrecherstaates. Es freut mich auch sehr, dass so viele junge Menschen unter uns sind, Angehörige des Bundesheeres, Schülerinnen und Schüler. Sie alle sind sehr herzlich begrüßt in diesem Sitzungssaal.

Wir wollen heute aller Opfer des Nationalsozialismus gedenken. Im Geiste des „niemals wieder“ wollen wir aber auch die Zukunft gestalten. Wir machten es uns nämlich zu leicht, würden wir es beim Gedenken an die Verbrechen des nationalsozialistischen Schreckens bewenden lassen und damit unserer Verantwortung, die andauert, genügen wollen.

Das Gedenken an den 5. Mai 1945 darf nicht nur nach hinten gerichtet sein. Ein Gedenktag ist ein wichtiger Teil in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – ebenso soll er uns dazu veranlassen, Probleme der Gegenwart vor dem eigenen Gewissen zu betrachten. Gedenktage dürfen sich nicht nur an die Verantwortung früherer Generationen richten, dies wäre zu einfach, vielmehr sollen sie an die Verantwortung, die wir heute alle tragen, mahnen.

Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir auch einen Appell an jeden persönlich richten, seinem Gewissen auch in schwierigen Zeiten und unter Bedrohung zu folgen. Es geht nämlich nicht darum, was frühere Generationen hätten besser machen können, sondern dass wir es heute besser machen müssen.

Flucht und Exil ist in vielen Teilen der Welt auch heute an der Tagesordnung. Sind es oft nicht die Besten, die ihr Land verlassen müssen? Wie werden sie woanders aufgenommen? Was können wir tun, dass die Menschenwürde der Vertriebenen gewahrt wird?

Gewalt und Rassismus treten uns auch heute wieder in ständig neuen Erscheinungsformen entgegen, manchmal frech und unverschämt offen, gleichsam im Alltagsgewand, manchmal getarnt und verkleidet. Sie zu erkennen, sie zu brandmarken und auch an der Wurzel zu bekämpfen, ist jeder Generation heute und in Zukunft wesentliche Aufgabe.

Das Parlament und die heutigen Generationen haben Verantwortung wahrgenommen und den österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet. Bis heute wurden über 46.000 Auszahlungen entschieden. Der Fonds steht mit über 30.000 Betroffenen oder deren Nachkommen in Kontakt und erfüllt damit eine bedeutende Brückenfunktion. Der Vorsitzende der Österreichischen Pensionisten in Israel, Gideon Eckhaus, hat mir unlängst geschrieben: Der Fonds hat viel zum Ansehen der Republik Österreich geleistet. Ich danke daher allen, die an dieser Arbeit beteiligt sind, den vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, vor allem aber dem Gründungsvorsitzenden des Fonds Präsident Dr. Heinz Fischer und der Generalsekretärin Mag. Hannah Lessing. Sie haben den Fonds durch ihre Arbeit gestaltet und geprägt.

Für die Zwangs- und Sklavenarbeiter der nationalsozialistischen Herrschaft, die in Österreich fronten, litten und fern von der Heimat darben mussten, haben wir den Versöhnungsfonds geschaffen und bis jetzt in fast 100.000 Fällen helfen können. Auch dieser Fonds hat das Ansehen Österreichs gemehrt. Ich danke den Mitarbeitern unter der Leitung von Präsident Botschafter Dr. Ludwig Steiner und Generalsekretär Botschafter Dr. Richard Wotawa.

Ein weiterer Fonds wurde eingerichtet; der General Settlement Fund, der im Wesentlichen für eine Abgeltung von entzogenen Mietrechten, Einrichtungen und sonstigen Vermögensteilen geschaffen wurde. Die Frist für die Anmeldung der Ansprüche ist bis Ende dieses Monates, Ende Mai dieses Jahres, offen. Bisher wurden über 10.000 Anträge gestellt. Ich hoffe sehr, dass der Fonds auch mit der Auszahlung an die hochbetagten Opfer beginnen kann – dies ist allerdings vom Rechtsfrieden abhängig, dem in den USA zwei anhängige Verfahren entgegen stehen.

Maria Schaumayr, Wolfgang Schüssel und Stuart Eiszenstat haben sich um Versöhnungsfonds und General Settlement Fund verdient gemacht. Auch ihnen danke ich, auch ihnen gebührt Dank und Anerkennung.

Die Historikerkommission hat unter dem Vorsitz von Verwaltungsgerichtshofpräsident Dr. Clemens Jabloner inzwischen ihren umfangreichen und brillant geschriebenen Bericht vorgelegt; sie hat damit einen unschätzbar wichtigen Beitrag zur Aufhellung der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich geleistet. Und ich muss Ihnen sagen, wer diesen Bericht liest, und ich habe das getan, ist vom Zusammenwirken von Grausamkeit, Habgier und Bürokratie bis ins Innerste erschüttert. Ich danke Präsident Clemens Jabloner und den vielen hundert Mitarbeitern für ihre Arbeit.

Am nächsten Sonntag können wir das neue Besucherzentrum in Mauthausen seiner Bestimmung übergeben, als Ergebnis der Reforminitiative vom Bundesminister für Inneres, Dr. Strasser - KZ-Gedenkstätte Mauthausen heißt diese Initiative. Damit werden die Weichen für die Zukunft gestellt, um das Vermächtnis der Überlebenden für künftige Generationen zu erhalten. So wird dieses Stätte des Grauens, das KZ-Mauthausen, auch die Rolle eines Lernortes für die Zukunft übernehmen.

Und ebenso ist jeder Generation auch in Zukunft aufgetragen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Die parlamentarische Initiative zur Errichtung des Gedenktages am 5. Mai hat Früchte auch außerhalb des Parlaments getragen. Es ist ermutigend, meine Damen und Herren, dass eine Privatinitiative zweier junger Österreicher, Andreas Kuba und Josef Neumayr, rund 15.000 Schülerinnen und Schüler an über 500 Schulen in der ganzen Republik bewegen konnte, die Lebensgeschichten von österreichischen Opfern des Nationalsozialismus auszuforschen. Die jungen Menschen schreiben einen Brief an das Opfer, als Ergebnis ihrer Arbeit, und einen Brief an die Zukunft. Darin wird festgehalten, was der einzelne Briefschreiber auf Grund seiner Beschäftigung mit der schrecklichen Vergangenheit als für die Zukunft wesentlich erachtet. Ich glaube, besser kann man wohl den Absichten des Gedenktages gegen Rassismus und Gewalt nicht entsprechen. Ich danke allen, die diese Initiative ergriffen und dazu beigetragen haben. Im Anschluss an unsere Veranstaltung wird der Herr Bundespräsident die Schlussveranstaltung dieser Initiative am Heldenplatz durch eine kurze Ansprache eröffnen. Im Sinne der Initiatoren lade ich Sie alle ein, nach Ende unserer Veranstaltung hier den Herrn Bundespräsidenten und mich dorthin zu begleiten.

Ein zukunftweisender wichtiger Beitrag im Kampf für Frieden, Menschenrechte, Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheit und damit gegen Rassismus und Gewalt ist die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitglieder, darunter vier unserer Nachbarländer. Die Europäische Union ist heute und in der Zukunft ein Bollwerk gegen Tyrannei, Rassenwahn und Gewalt. Die Europäische Grundrechtscharta ist nicht nur Papier, darf nicht nur Papier bleiben.

Intoleranz und Gewalt führen zur Vertreibung von Gedanken, Menschen und ihren Werken. Damals durch den Nationalsozialismus und später durch andere Diktaturen. Die Vertreibung von annähernd der Hälfte der vor dem so genannten Anschluss im Jahr 1938 wirkenden österreichischen Literaten bedeutete für sie unsagbare Not und Elend und einen gewaltigen Aderlass für unser Land. Unter dem Motto „Vergiss das Wort, vergiss das Land, Flucht und Exil“ im Spiegel vertriebener österreichischer Literatur hat Miguel Herz-Kestranek Literaturstellen dieser Vertriebenen ausgesucht und wird sie uns nun vortragen. Umrahmt wird diese Lesung vom Kantoralensemble Wien, der Dirigent ist Rami Langer. Wir danken allen mitwirkenden Künstlern.

Aus den Texten, die Sie heute hören werden, strahlt eine ungebrochene Liebe zu unserem Vaterland Österreich. Es sind Hymnen an die verlorene Heimat, und wir dürfen Kraft schöpfen aus der Stärke jener, die trotz ihres schweren Schicksals diese Liebe zur Heimat bewahrt haben. Die Texte unter dem Titel „Vergiss das Wort, vergiss das Land“ sind ein Auftrag, gerade dieses Wort und dieses Land in Frieden und Freiheit zu schützen. (Schluss Khol/Forts.)