Parlamentskorrespondenz Nr. 267 vom 05.05.2003

BUNDESRATSPRÄSIDENT HÖSELE: ES GILT, DEN ANFÄNGEN ZU WEHREN

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Wien (PK) - Mit einer Rede von Bundesratspräsident Herwig Hösele und dem gemeinsamen Singen der Bundeshymne ging heute Mittag die Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im historischen Sitzungssaal des Parlaments zu Ende. Wir bringen im Folgenden den Wortlaut dieser Rede:

Die Jahre 1938-1945 waren die finstersten unserer Geschichte. Gewalt und Rassismus haben viele verschiedene Facetten. Sie können daher nicht als historische Phänomene abgetan werden, sondern müssen uns allzeit als drohende Gefahren bewusst sein.

Flucht vor Gewalt und Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen sind ebenso alte wie aktuelle Erscheinungen und Exil als bittere Lebensrealität von Menschen finden wir leider zu allen Zeiten – oft ergreifend geschildert - gleich jenen Werken der österreichischen Exilliteratur, die Miguel Herz-Kestranek für die heutige Gedenkveranstaltung kundig und sensibel ausgewählt und eindrucksvoll gelesen und präsentiert hat: Hochgeschätzter Miguel Herz-Kestranek, nochmals vielen herzlichen Dank dafür!

Über die vielen Künstler, Wissenschafter und Politiker, die Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurden, dürfen wir die tausenden, zehntausenden, hunderttausenden anderen Menschen nicht vergessen, die ihr Schicksal geteilt haben, ohne durch „Prominenz“ ins Blickfeld der historischen Forschung getreten zu sein.

Der Geschichte einen Namen geben, der Geschichte ein Gesicht geben, der Geschichte viele Namen, viele Gesichter geben: dieses Ziel haben sich auch die Initiatoren des bereits vom Herrn Nationalratspräsidenten angesprochenen Projekts „A Letter to the Stars“ gesetzt. Auch ich danke Alfred Worm, Josef Neumayr und Andreas Kuba für diese wertvolle Initiative unserer Jugend. Und ich möchte Sie, meine Damen und Herren, nochmals herzlich zur Teilnahme an dieser Schlussveranstaltung, einladen, die unser Staatsoberhaupt, der Herr Bundespräsident mit einer Ansprache eröffnen wird. Es sind 80.000 Briefe, 80.000 Schicksale, die ge- und beschrieben wurden. Briefe wider das Vergessen unter dem Motto „Gedanken aus der Gegenwart an die Vergangenheit für die Zukunft".

Vergessen wir nie die Menschen, die durch nationalsozialistische Verbrechen ermordet worden sind! Vergessen wir nie die Menschen, die durch den Nationalsozialismus ihrer Heimat beraubt worden sind! Erinnern wir uns ihrer als stete Mahnung zu jenem „Nie wieder!", das eine bleibende Erkenntnis der furchtbaren Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors sein muss.

Es gilt aber stets aufs Neue, diesem „Nie wieder" in vielen Lebenssituationen gerecht zu werden und es gilt den Anfängen zu wehren!

Es gilt vor allem auch positive Zeichen auf breitester Basis zu setzen. - Einige besonders bedeutsame wurden vom Herrn Nationalratspräsidenten bereits angesprochen. Ich darf ein weiteres kleines Beispiel hinzufügen. In der im Jahr 2000 wiedererrichteten Grazer Synagoge wurde als Beitrag zur Europäischen Kulturhauptstadt 2003 vor wenigen Wochen von Kindern und Jugendlichen aus 15 Nationen, basierend auf biblischen Texten, das Singspiel "Exodus" welturaufgeführt – ein multikultureller Beitrag zur Suche und Sehnsucht nach Heimat und Frieden – für mich ein ähnlich bewegendes Ereignis wie die heutige Stunde, wie sicherlich anschließend am Heldenplatz und am Sonntag in Mauthausen!

Welche nachhaltig wirkenden Schlussfolgerungen können aus so wichtigen, zeichenhaften Stunden gezogen werden? Besonders eindrucksvoll für mich ist es vor allem auch im persönlichen Zeugnis und der klaren Formulierung des ungarischen Literaturpreisträgers Imre Kertesz zum Ausdruck gekommen - gegen jegliches System totalitärer Gewalt. Kertesz hat in seiner Nobel-Vorlesung in Stockholm im Dezember 2002 folgendes formuliert. Ich darf zitieren: „Zweifellos ist, dass wir uns nach Auschwitz selbst überlassen sind. Wir müssen uns unsere Werte selbst erschaffen, Tag für Tag. und durch jenes andauernde, aber unsichtbare ethische Wirken, das diese Werte eines Tages ans Licht bringt und vielleicht zu einer neuen europäischen Kultur erhebt.“ Soweit Kertesz. Die Werte Menschenrechte und Menschenwürde, Demokratie, Solidarität, Verantwortungsbewusstsein, Toleranz, Dialogbereitschaft und Liberalität müssen uns im Sinne unserer europäischen Kultur und im sich vereinigenden Europa Tag für Tag leiten. Es sind die Werte, mit denen die offene und demokratische Zivilgesellschaft wirkungsvoll gegen ihre Feinde auftreten muss, von denen ich einige nenne: Fundamentalismus jedweder Provenienz, Xenophobie, Ausgrenzung, Intoleranz, Demagogie, Gleichgültigkeit und – ja, ich erwähne bewusst in dieser Stunde auch eine oberflächliche Spaßgesellschaft als vielleicht wenig sichtbaren, aber gefährlichen Feind. Hermann Broch hat diese Aufgabe in einem Satz zusammengefasst, den Miguel Herz-Kestranek als fordernde Schlusssequenz wählte und den ich besonders unterstreiche: „Die Zurückführung des Menschen in das offene System der Humanität ist die Aufgabe der Demokratie.“ Das ist eine wahrlich große tagtägliche Aufgabe für alle. Sie fordert uns heute, morgen, jeden Tag.

Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, abschließend den Künstlern, Herrn Miguel Herz-Kestranek und dem Kantoralensemble Wien mit seinem Dirigenten Rami Langer im Namen aller nochmals ein aufrichtiges Wort des Dankes für ihren hoch stehenden und berührenden Beitrag zur Gestaltung dieser Gedenkveranstaltung zu sagen!

Unsere Veranstaltung wird nun ausklingen, indem wir gemeinsam die erste Strophe der österreichischen Bundeshymne anstimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und darf Sie, meine Damen und Herren, bitten, sich dazu von Ihren Plätzen zu erheben. Herzlichen Dank! (Schluss)