Parlamentskorrespondenz Nr. 283 vom 08.05.2003

VERBALER SCHLAGABTAUSCH ÜBER SELBSTBEHALTE IM GESUNDHEITSWESEN

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Wien (PK) - Zu einem verbalen Schlagabtausch zum Thema Selbstbehalte im Gesundheitswesen kam es heute in der Aktuellen Stunde, mit der die Sitzung des Nationalrats eröffnet wurde. Die Fraktion der Grünen hatte mit "Gesundheitsreform statt Krankensteuern - Nein zur Erhöhung von Selbstbehalten" das Thema vorgegeben.

Gesundheitspolitik gehöre zu den sensibelsten Politikfeldern, eröffnete Abgeordneter Dr. GRÜNEWALD (G) die Debatte, und zwar wegen der damit verbundenen Kosten wie wegen der damit gegebenen Betroffenheit. Alle hätten gewusst, dass die Gesundheitskosten steigen - durch den medizinischen Fortschritt, die steigende Lebenserwartung und die zunehmende Alterung der Gesellschaft - aber man habe gewartet und sich gegen Beitragserhöhungen gestellt. Jetzt allerdings denke man um. Die Bevölkerung habe ein Recht auf Chancengleichheit in Diagnose und Therapie. Er habe den Eindruck, es gelte das Dogma "Wer krank ist, ist selber Schuld"; ein Dogma könne aber Wissen nicht ersetzen. Selbstbehalte würden für Steuerungs- und Finanzierungsinstrumente gehalten; die "Erfindung von Selbstbehalten" sei "eine der Privatoffenbarungen" gewesen, die Bundeskanzler Schüssel "überfallen" habe. Zurück blieben die Kranken, betonte Grünewald.

Der Abgeordnete verwies auf Studien, denen zufolge nur übermäßig hohe Selbstbehalte die Patienten abhalten könnten, Leistungen zu beanspruchen, die sie brauchen. Kranke verhielten sich nicht wie "normale Konsumenten" und seien daher nicht nach Marktregeln allein zu bemessen. Patienten könnten nur entscheiden, zum Arzt zu gehen oder nicht, dann aber würde von den Ärzten entschieden. Somit hätten Kranke keinen Einfluss auf die entstehenden Kosten, betonte Grünewald. Die Verschleppung von Diagnosen mache das System teurer, die Gefahr der Selbstmedikation steige, soziale Härten und - beim Versuch, diese abzufedern - ein bürokratisches Chaos entstünden. Die Gesundheitskosten würden nicht sinken, sondern vom öffentlichen in den privaten Sektor verschoben. Österreich liege bereits weltweit an dritter Stelle, was die privaten Ausgaben für Gesundheit anlange. In den Koalitionsgesprächen mit der ÖVP sei über die Harmonisierung der Selbstbehalte auf einem einheitlichen Niveau gesprochen worden, sagte Grünewald abschließend. Die Grünen hätten sich aber gegen Selbstbehalte als zusätzliche Einnahmenquelle gewandt. Die neuen Belastungen beträfen zu 88 % die Versicherten und nur zu 12 % die Dienstgeber, womit die Balance weiter gestört würde. Eine Delegation der Frage an die Kassen hält Grünewald für "fatal".

Gesundheitsministerin RAUCH-KALLT bekannte sich zur ersten Hälfte des Titels der Aktuellen Stunde "Gesundheitsreform statt Krankensteuer": Es gehe darum, ein hochwertiges Gesundheitssystem mit einem niederschwelligen sozialen Zugang zu sichern, in dem jeder Hilfe bekomme, der sie brauche, unabhängig von Alter, Einkommen und Wohnort. Rauch-Kallat nannte zwei Herausforderungen, die dieses System zu bewältigen habe: den medizinischen Fortschritt und die demographische Entwicklung.

Zur Bewältigung dieser Herausforderungen gebe es verschiedene Möglichkeiten: Man könne immer wieder die Beiträge zur  Krankenversicherung erhöhen, was die Regierung - die jetzt eine Angleichung gemacht habe - ablehne. Es gebe im System eine Fülle von Selbstbehalten, die - mit Ausnahme der Ambulanzgebühr - in den letzten 30 Jahren von sozialdemokratischen Gesundheitsministern eingeführt worden seien. Es gebe allerdings einen schwer durchschaubaren Wildwuchs, der überschaubar gemacht und vereinheitlicht werden solle. Dazu gab es die Idee, einen Selbstbehalt für den Arztbesuch einzuführen, der sozial gestaltet sein müsse und für chronisch Kranke und kinderreiche Familien gedeckelt sein solle. Damit würde die Krankenscheingebühr abgelöst. Vorgesehen sei nun, dass der Hauptverband gemeinsam mit den Sozialversicherungsträgern ein entsprechendes Modell erarbeite.

Abschließend nannte die Gesundheitsministerin Ziele der Gesundheitsreform: Aus den Krankenversicherungen sollten Gesundheitsservicezentren gemacht werden, "damit die Österreicherinnen und Österreicher in Hinkunft möglichst gar nicht erst krank werden". Schwerpunkt werde daher die Gesundheitsvorsorge  sein: gesünder leben, mehr Bewegung, Entspannung und Stressbewältigung, Unfallvorsorge und Vorsorgeuntersuchungen.

Abgeordneter Dr. RASINGER (V) wies eingangs seiner Rede den Vorwurf des Abgeordneten Grünewald als "Unterstellung" zurück, die Regierung behandle die Kranken nach dem Motto, wer krank ist, sei selbst dran Schuld. Bundeskanzler Schüssel habe sich zum österreichischen "Weltklassesystem" bekannt. Wenn man dieses System wolle, müsse man die Dinge beim Namen nennen. Rasinger verwies auf 20.000 Schlaganfälle jährlich, 14.000 künstliche Hüftgelenke und 15.000 Herzeingriffe zur Dehnung von Gefäßen. All das bringe Lebensqualität und koste Geld. Selbstbehalte seien notwendig, betonte Rasinger, sie sollten Patienten aber nicht von Leistungen abhalten. Als Größenordnung für Selbstbehalte nannte der Redner 1 % der Kasseneinnahmen. Würde dem Gesundheitssystem kein Geld zugefügt, müsse verdeckt rationiert werden - und "keine Leistung" heiße "100 % Selbstbehalt".

S-Abgeordneter LACKNER zitierte zunächst Bundeskanzler Schüssel, der sich am 9. Juli 2002 gegen eine Zwei-Klassen-Medizin, gegen Beitraqserhöhungen und gegen Selbstbehalte ausgesprochen habe. Die Fakten sprächen allerdings eine andere Sprache. Die gesundheitliche Versorgung sei ein öffentliches Anliegen und nicht die Privatsache der BürgerInnen, betonte Lackner. Auch die Erfahrungen nährten die Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Selbstbehalten. Selbstbehalte wirkten generell abschreckend, was nachteilige gesundheitliche Folgen und Mehrkosten nach sich ziehe. Die Gesamteinnahmen blieben zudem hinter den Erwartungen zurück, Ausnahmen könnten keinen Schutz für Einkommensschwache und chronisch Kranke gewährleisten. Selbstbehalte würden nicht zu den Zielen Gerechtigkeit und Effizienz beitragen, hob der Redner hervor. Insgesamt sieht Lackner keinen Reformansatz, sondern einen Griff in die Brieftaschen.

Gesundheitspolitik sei tatsächlich sensibel, und eine Zwei-Klassen-Medizin undenkbar, begann Abgeordnete ROSENKRANZ (F) ihre Rede. Reform müsse sein, wenn nicht das Niveau sinken solle, daher sei auch mehr Geld erforderlich. Überrascht sei sie, dass gleich zu Beginn einer Debatte das Mittel des Selbstbehalts ausgeschlossen würde; Selbstbehalte könnten, sofern sie nicht allein zur Geldbeschaffung eingesetzt würden, ja auch gute Effekte haben. Selbstbehalte zwängen z.B. die im Gesundheitsbereich Tätigen zu Sorgsamkeit. Jetzt habe die Selbstverwaltung die Möglichkeit, einen Vorschlag zu machen. Rosenkranz verwies in diesem Zusammenhang auf die entsprechende Regelung bei den Eisenbahnern. Die Reform werde sozial gerecht gehalten sein: Chronisch Kranke, Menschen mit geringem Einkommen und Kindern müssen entsprechend berücksichtigt werden.

G-Abgeordneter ÖLLINGER wollte nicht Gesundheitsministerin Rauch-Kallat für die Versäumnisse der letzten Jahre in der Gesundheitspolitik verantwortlich machen, sie müsse aber aus den Erfahrungen lernen. Der Abgeordnete skizzierte die Parallelen zwischen der Politik vor drei Jahren und heute im Hinblick auf die Ermächtigung des Hauptverbands, ein Modell auszuarbeiten. 2001 sei das 1. Vorhaben eine "Umfärbung" des Hauptverbands gewesen; 2002 sei das Chaos mit der Ambulanzgebühr entstanden; 2003 sei es mit dem Chaos rund um die Chip-Card weiter gegangen. Die Chip-Card sei die Voraussetzung dafür, dass es besser funktioniere, sie komme aber nicht vor 2005. Kritisch wandte sich Öllinger gegen die von Rasinger prognostizierten Einnahmen in Höhe von 1 % der Gesundheitskosten für die Reform des Gesundheitssystems durch Selbstbehalte und gegen die Absicht der Regierung, die AUVA zu zerschlagen.

Ein erster Schritt der Reform müsse die Bereinigung des unüberschaubaren Systems der Selbstbehalte sein, forderte Abgeordnete RIENER (V). Als besondere Herausforderung wertet sie die psychischen Belastungen durch Krankheitsfolgen. Auf diesem Gebiet gebe es die höchsten Selbstbehalte, kritisierte die Abgeordnete, und forderte einen entsprechenden Umbau und eine österreichweite psychotherapeutische Versorgung. Es gehe dabei darum, Menschen zu unterstützen, damit sie "fit fürs Leben" bleiben. Erfreut zeigte sich Riener darüber, dass ein Schwerpunkt in der Gesundheitsvorsorge gesetzt werde. Abschließend schlug sie vor, die Gesundenuntersuchungen um den psychischen Bereich zu erweitern.

Die Einführung von Selbstbehalten erschwere den Zugang zu einer optimalen gesundheitlichen Versorgung und führe zu einer Zwei-Klassen-Medizin, kritisierte Abgeordnete BURES (S). Wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Einführung von Selbstbehalten würden nicht beantwortet und auf die Krankenversicherungsträger und die Ärzte abgeschoben. Bures warf der Regierung vor, die Bevölkerung zu verunsichern.

F-Abgeordneter LICHTENEGGER ist von der Qualität des österreichischen Systems überzeugt und sieht bei den Eisenbahnern ein Vorbild für Selbstbehaltregelungen, über die sich niemand aufrege. Selbstbehalte sollten gewährleisten, dass jeder die benötigten Leistungen bekomme. Er erinnerte daran, dass von 17 bestehenden Selbstbehalten 16 von SP-Gesundheitsministern eingeführt worden seien. Er gab sich überzeugt, dass der Hauptverband ein Modell vorlegen werde, durch das das Gesundheitsbewusstsein und das Kostenbewusstsein gestärkt und Qualität gewährleistet werde.

Abgeordnete HAIDLMAYR (G) knüpfte an die Aussage von Gesundheitsministerin Rauch-Kallat an, dass jeder Hilfe bekomme, der sie brauche. Dies sei allerdings, im Zusammenhang mit Selbstbehalten, eine Frage des Preises. Denn was bei Selbstbehalten für den einen im Promille-Bereich liege, liege bei anderen im zweistelligen Prozent-Bereich. Der Verwaltungsaufwand für Einkommenserhebungen im Interesse einer sozialen Staffelung sei höher als die Einkünfte aus Selbstbehalten, sagte Haidlmayr. Es stimme auch nicht, dass durch Selbstbehalte die Qualität steigen würde. Es gehe der Regierung nur um eine Geldbeschaffungsaktion. Nicht jeder habe den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung, sagte die Abgeordnete weiter und untermauerte dies mit Hinweisen auf Barrieren für behinderte und Reisekosten für einkommensschwache Personen. Selbstbehalte seien Steuern für kranke Menschen und daher abzulehnen. Noch immer gebe es kein gleiches Recht auf Rehabilitation und keine gleichen Chancen in der Gesundheitsversorgung, und darüber sollte geredet werden, schloss Haidlmayr. (Schluss Aktuelle Stunde/Forts. NR)