Parlamentskorrespondenz Nr. 579 vom 06.07.2005

SCHÜSSEL IM PLENUM: STIMMUNG IN EUROPA IST DRAMATISCH GESUNKEN

Erklärung des Kanzlers zur EU und Ernennung eines Staatssekretärs

Wien (PK) - Vor Eingang in die Tagesordnung kündigte Nationalratspräsident Dr. KHOL für 15 Uhr eine kurze Debatte über die Anfragebeantwortung 2797/ AB der Gesundheitsministerin auf die Anfrage 2886/J der Sozialdemokraten betreffend Veterinärjahresbericht 2004 an.

ERKLÄRUNG VON BUNDESKANZLER SCHÜSSEL ZUM THEMA „EUROPÄISCHE UNION UND ERNENNUNG EINES STAATSSEKRETÄRS FÜR DIE EU-PRÄSIDENTSCHAFT“

Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL sah die Europäischen Union vor großen Herausforderungen stehen. Nach den Erfolgen der Euro-Einführung und der Erweiterung um zehn neue Mitglieder befinde sich der neue EU-Vertrag "in der Warteschleife" und die Stimmung in Europa sei dramatisch gesunken. "Die europäische Idee hat Gegenwind", sagte Schüssel. 

Die EU müsse entscheiden, ob die Türkei beitreten oder nicht beitreten solle. Schüssel will verhandeln, denn es sei im europäischen wie im türkischen Interesse, dass die Türkei die Menschenrechte, die Prinzipien guten Regierens, der Sicherheit und der Freiheit übernimmt. Dabei zeige sich nun, dass die österreichische Forderung nach Alternativen zum Vollbeitritt richtig sei. Die Erfüllung gemeinsamer europäischer Ziele müsse klar gestellt werden. Die Aufnahmefähigkeit der EU müsse ein entscheidendes Kriterium sein, wenn es um den Beitritt eines so großen Landes wie der Türkei gehe. Immer mehr Länder schwenken auf diese Position ein, sagte Schüssel und dankte der SPÖ ausdrücklich für den Konsens in dieser Frage.

Das Nein zum Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden habe nicht nur mit dem Text des Vertrages zu tun, sondern auch andere Gründe, meinte der Bundeskanzler und nannte die Sorge der Menschen um den Arbeitsplatz und um den Standort Europa. Zwar habe Europa in zehn Jahren 10 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen und die Zahl der Arbeitslosen um 3 Millionen gesenkt. 20 Millionen Arbeitslose seien aber nach wie vor ein großes Fragezeichen. Der Forderung nach einer "Festung Europa", nach dem "Betätigen der Stopptaste" erteilte der Bundeskanzler aber eine Absage und plädierte für praktische Lösungen, wobei er Österreich als Beispiel einer global vernetzten Volkswirtschaft nannte. "Sozial ist; was Arbeit schafft", sagte Bundeskanzler Schüssel.

Dem britischen Premierminister und Ratsvorsitzenden Blair, mit dem er freundschaftlich zusammenarbeiten wolle, gab Schüssel recht, wenn er mehr Mittel für Forschung, Entwicklung, Bildung und Infrastruktur verlangte. Grundfalsch sei es aber, die Agrarpolitik zum Sündenbock für europäische Probleme zu machen. "Sauberes Trinkwasser, gesunde Lebensmittel und eine gepflegte Landschaft sind Teil des Lebensmodells, das sich Europa aufgebaut hat". Europa zahle nicht 2 € pro Kuh. Europa zahle die Arbeit von Bauern, Händlern und Lebensmittelbetrieben und schaffe Arbeitsplätze im ländlichen Raum. Der Forderungen nach einer Halbierung des Einkommens hunderttausender Menschen in Europa und in Österreich erteilte Bundeskanzler Schüssel eine klare Absage.

Angesichts der großen Aufgaben, vor denen die Bundesregierung bei der Vorsitzführung in der EU 2006 stehe, stellte der Bundeskanzler den Abgeordneten mit Dr. Hans Winkler einen erstklassigen europäischen und außenpolitischen Fachmann vor, der die Außenministerin tatkräftig unterstützen werde.

Zum Schluss kam der Bundeskanzler noch einmal zum Thema schlechte Stimmung in Europa zurück und schlug vor, den Menschen einmal ein Gedankenexperiment nahe zu legen. Man sollte sich einmal vorzustellen, was wäre, wenn es das Projekt Europa nicht gäbe, was es bedeuten würde, keine gemeinsame Währung, geschlossene Grenzen und keine Zusammenarbeit der europäischen Staaten zu haben.

Abgeordneter Dr. GUSENBAUER (S) suchte einleitend Antworten auf die Frage, warum kontroverse Sachdiskussionen in Europa - anders als in Österreich, das auch im innenpolitischen Streit nie in Zweifel gezogen werde - zur Infragestellung des Projekts Europa insgesamt führten. Gusenbauer vermutete, dass das gemeinsame Bewusstsein, die europäische Identität noch nicht gefestigt genug sei. Dies sei erstaunlich, denn die europäische Integration sei zweifellos ein Erfolgsprojekt. Gusenbauer will die Unzufriedenheit der Bürger wegen der Arbeitslosigkeit ernst nehmen, sich streitbar den großen Themen der europäischen Politik stellen, dabei aber den europapolitischen Konsens wahren.

Es wäre aber falsch, so weiter zu machen wie bisher. Man müsse etwa einsehen, dass der "Fleckerlteppich" an Verfassungsreferenden in Europa keine gute Idee gewesen sei. Man habe damit rechnen müssen, dass Verfassungsreferenden in die innenpolitischen Auseinandersetzungen europäischer Staaten hineingezogen werden. Skeptisch zeigte sich Gusenbauer auch gegenüber der Forderung, Europa nur besser zu erklären. Dabei schwinge die Haltung mit "Wir, die Politiker, machen ohnedies alles richtig, die Bürger verstehen es halt nicht".

Bei 20 Millionen Arbeitslosen könne man nicht von einem sozialen Europa reden. Wir brauchen keine "Festung Europa", sollten uns aber fragen, ob es richtig verstandene internationale Solidarität sei, Textilien zu importieren, die aus Produktionen ohne Arbeitsrecht, aus Kinder- und Zwangsarbeit stammen. Kann man vom gemeinsamen Auftreten Europas in der Welt sprechen, so lange die EU bei den Vereinten Nationen und in den internationalen Finanzinstitutionen keine Stimme habe? In diesem Zusammenhang erneuerte Gusenbauer seinen Vorschlag auf Bündelung der europäischen Stimmrechte in internationalen Institutionen.

Der SPÖ-Vorsitzende plädierte auch dafür, europäische Interessen entschlossen wahrzunehmen, etwa die Situation der vielen mittelständischen Softwareproduzenten, die bei der bevorstehenden Entscheidung des europäischen Parlaments über Softwarepatente berücksichtigt werden sollte. "Europa muss eigenständiger handeln", verlangte der SPÖ-Vorsitzende.

Eine Reform der Agrarpolitik habe nicht nur Tony Blair, sondern auch schon Agrarkommissar Fischler verlangt, hielt Gusenbauer fest. Die Gemeinsame Agrarpolitik habe das Bauernsterben nicht verhindern können. Diese Agrarpolitik gehe an 90 % der europäischen Bauern vorbei, klagte Alfred Gusenbauer.

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) begrüßte Staatssekretär Hans Winkler als einen ausgewiesenen außenpolitischen Experten und als eine Persönlichkeit, der Vieles zuzutrauen sei. Die Rede von SPÖ-Vorsitzendem Gusenbauer qualifizierte der außenpolitische Sprecher der ÖVP als einen neuerlichen europapolitischen Kurswechsel, wenn er auch einräumte, dass er sich darüber freue, wenn Gusenbauer auf den Schüssel-Kurs einschwenke. Vor kurzem noch habe man aus der SPÖ Anderes gehört, da sei von einer Kehrtwende in der Europapolitik die Rede gewesen. Spindelegger warnte davor, angesichts aktueller Probleme eine Krise der EU herbeizureden. Die Europäische Union sei ein erfolgreiches Projekt, das es auszubauen gelte. Skeptikern sei klarzumachen, was Europa alles gebracht habe: die gemeinsame Währung, die Reisefreiheit und ein Mehr an Sicherheit.

Überdies zeigten Wirtschaftdaten, dass die EU ein erfolgreiches Wohlstandsprojekt sei. Österreich habe seit dem EU-Beitritt sein BIP pro Kopf der Bevölkerung von 19.000 € auf 27.000 € steigern und den Rückstand zur Schweiz um 75 % verringern können.

In einem V-F-Entschließungsantrag, den Spindelegger abschließend einbrachte, wird die Bundesregierung aufgefordert, für die Interessen Österreichs als Nettozahler einzutreten, die Entwicklung des ländlichen Raumes und den Strukturwandel in den Grenzregionen zu unterstützen sowie Mittel für den Ausbau der Verkehrswege und für Forschung und Entwicklung bereitzustellen.

Abgeordneter Dr. VAN DER BELLEN (G) begrüßte den neuen Staatssekretär und betonte, seine Fraktion halte die Schaffung dieses Postens angesichts der bevorstehender Präsidentschaft für außerordentlich gut und mit der Person Dr. Winklers auch hervorragend besetzt. Gleichzeitig brauche es aber auch eine Politik, die verantwortungsvoll mit Europa umgehe. Es könne nicht angehen, dass alles, was im Land funktioniere, den eigenen Politikern geschuldet sei, alles, was nicht funktioniere, in die Verantwortung Brüssels falle.

Er habe es satt, dass die Erfolgsstory Erweiterung der EU schlecht geredet werde. Die Beitritte der zehn neuen Mitgliedsstaaten sei ein noch größerer Erfolg für die EU gewesen als die Einführung des Euro, und Österreichs Unternehmen hätten diese Erweiterung auch optimal genutzt. Und auch die kommende Erweiterung um Bulgarien, Rumänien und Kroatien werde gleichfalls eine beispiellose Erfolgsgeschichte werden. Hier müsse man - nicht zuletzt auch im Interesse österreichischer Unternehmen - aufs Tempo drücken und eben auch entsprechende Schritte setzen. Dies gelte mutatis mutandis auch für die Türkei, betonte der Redner, wobei man aber den diesbezüglichen zeitlichen Horizont realistisch bewerten müsse.

Der Redner bedauerte das "Nein" der Franzosen und Niederländer zum EU-Verfassungsvertrag, hätte dieser doch enorme Vorteile für die Bürger gebracht, während man jetzt wieder auf das Niveau von Nizza zurückgefallen sei. Wenn auch die Gründernationen der EU jetzt in einer schwierigen Situation seien und es so etwas wie ein Führungsvakuum gebe, dann müssten eben andere Nationen die Initiative ergreifen. Aus der Sicht der österreichischen Präsidentschaft sei das vielleicht nicht einmal das Schlechteste, meinte Van der Bellen. Der von seinem Vorredner eingebrachte Antrag sei hier allerdings nicht der richtige Weg. An dieser Stelle dürfe man nicht "kleinkrämerisch" agieren, unterstrich der Abgeordnete.

Abgeordneter SCHEIBNER (F) meinte, man könne für Europa sein und dennoch die Interessen Österreichs und seiner Bevölkerung im Auge behalten. Denn genau hier liege ja das Problem hinsichtlich der Akzeptanz Europas durch die Bürger, die sich über mangelnde Sensibilität seitens Brüssel beklagten. Es gehe beim Europaprojekt um ein Europa der Menschen, und dem sei Rechnung zu tragen.

Genau deshalb müsse man sich sehr grundsätzlich mit der aktuellen Situation auseinandersetzen, drohe derzeit doch Stillstand, fehle zurzeit doch eine adäquate Reaktion auf das Votum der Bürger. Jede Erweiterung brauche eben auch Vertiefung, und an dieser Stelle müssten weitere Schritte erst noch zu setzen sein. Gerade bei der letzten Erweiterung habe man die aufgestellten Kriterien nicht vollständig eingehalten, was sich politisch gerächt habe.

Er stehe zu dieser Verfassung, betonte Scheibner, und genau deshalb brauche es Ideen, wie man aus dieser schwierigen Lage wieder herauskomme, um doch noch zu einer gemeinsamen Verfassung zu kommen. Darin liege aber auch die Chance der österreichischen Präsidentschaft, um beispielsweise ein europaweites Referendum über eine europäische Verfassung zu bekommen. Ähnliches gelte auch für die Frage der Finanzen, meinte der Redner. Es sei nötig, die Strukturen zu diskutieren und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen. Diese Diskussion würde zu führen sein, wenn man beim europäischen Projekt wirkliche Fortschritte erzielen wolle, zeigte sich der Redner überzeugt, der sodann weitere Themen aus dem Bereich der Außenpolitik berührte.

Vizekanzler GORBACH hieß den neuen Staatssekretär in der österreichischen Bundesregierung herzlich willkommen. Er werde einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der Regierung leisten, und dafür wünsche er Winkler viel Glück und Erfolg. Das Regierungsmitglied analysierte sodann die aktuelle Lage innerhalb der EU und meinte, alle Verantwortlichen in der Union müssten flexibler werden und erkennen, dass die Prioritäten in Ruhe neu gesetzt werden sollten. Starre Haltungen seien vor diesem Hintergrund kontraproduktiv.

Europa solle sich um jene Dinge kümmern, die nur Europa leisten könne. Es brauche eine weitere Vertiefung, Transparenz und Bürgernähe. Europa müsse sich in dieser Konsolidierungsphase auch einig darüber werden, wo seine Grenzen liegen sollen. Österreich werde durch seine bevorstehende Präsidentschaft hier eine wichtige Aufgabe anzugehen haben, unterstrich der Vizekanzler. Die Bürger wollten keinen europäischen Bundesstaat mit einer Zentrale in Brüssel, sie wollten ein "Europa der Vaterländer", wie es einst die Gründerväter anvisiert hätten. Davon sollte man sich leiten lassen, brauche man doch ein Europa der Bürger mit mehr Demokratie und weniger Bürokratie, so Gorbach.

Abgeordneter Dr. CAP (S) äußerte die Befürchtung, der neue Staatssekretär werde die eigentliche Arbeit zu leisten haben, während sich die Regierungsspitze aufs Repräsentieren und Wahlkämpfen beschränken könnte, und dies auf Kosten der Steuerzahler. Die Zahl der Staatssekretäre nehme enorme Formen an, in der Öffentlichkeit werde dies zu Recht kritisiert.

Cap kritisierte zudem die neoliberale Ausrichtung der EU, die in der Bevölkerung mehr und mehr auf Unverständnis stoße, zumal die Bilanz dieser Politik ernüchternd ausfalle. Die Menschen müssten wieder den Eindruck bekommen, dass ihre Interessen wahrgenommen werden, und dies sei derzeit nicht der Fall, weshalb eben die Skepsis gegenüber der EU so groß sei. Die Bürger erwarteten sich von der EU eine soziale Union, und genau an dieser Stelle sei die EU säumig, deren derzeitige Ausrichtung zu wenig sei. Die EU müsse die Grundstimmung der Menschen ernst nehmen und entsprechend agieren, meinte Cap.

Abgeordneter Dr. STUMMVOLL (V) meinte, man müsse sich intensiver mit der Zukunft Europas auseinandersetzen, hänge die weitere Entwicklung der Union doch auch von der Akzeptanz der EU seitens ihrer Bürger ab. Daraus müsse man die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Derzeit trete die Union dem Bürger eher unsympathisch gegenüber, was aber auch daran liege, wie die Dinge kommuniziert würden. Man müsse die positiven Seiten der EU stärker betonen, gäbe es doch zu den grundlegenden Zielen der Union keine Alternative. Die Union solle sich daher auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren, denn für diese habe sie auch eine breite Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Sodann brachte der Redner konkrete Beispiele für seine Ansicht. Man brauche mehr Europa im Bereich Sicherheit, Wachstum und Stabilität, man brauche aber weniger Europa im Bereich Bürokratie und Bürgerferne.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) fragte, warum es nicht möglich gewesen sei, eine der Staatssekretärsfunktionen einzusparen, zumal deren Bilanz ja relativ schütter sei. Im Übrigen verfüge Österreich nun über sieben Staatssekretäre, und allesamt seien es Männer, was aus frauenpolitischer Sicht bemerkenswert sei.

Die Ernennung des neuen Staatssekretärs erfolge relativ spät, zudem sei die diesbezügliche inhaltliche Debatte bislang leider ausgeblieben. Grundlegende Diskussionen seien noch zu führen, konkrete Maßnahmen zu setzen, gerade bei Themen wie dem Lateinamerika- oder dem Gipfel Europa - USA fehlten bislang noch jedwede Darlegungen über die diesbezüglichen inhaltlichen Vorhaben. Hier sei es nötig, diese Dinge stärker mit dem Hause zu debattieren, unterstrich die Rednerin, die dies an konkreten Beispielen wie der Dienstleistungsrichtlinie illustrierte. (Forts.)