Parlamentskorrespondenz Nr. 726 vom 29.09.2005

Gefährdet Dienstleistungsrichtlinie europäisches Sozialsystem?

Bartenstein: Richtlinie bringt Vorteile für Konsumenten

Wien (PK) - Die SPÖ wählte für den ersten Europatag des Nationalrats folgendes Thema aus: "Dienstleistungsrichtlinie – Binnenmarkt auf dem Rücken der österreichischen Klein- und Mittelbetriebe und der Arbeitnehmer?"

Abgeordneter VERZETNITSCH (S) pflichtete dem Bundeskanzler darin bei, dass es um die Verteidigung und Sicherung des europäischen Lebensmodells und die soziale Verantwortung gehe. Wenn diese Prinzipien aber ernst genommen werden, dann sei man gefordert, dies bei der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auch gleich in die Tat umzusetzen. Bei der Richtlinie gehe es im Prinzip darum, dass in Hinkunft Unternehmen in allen Staaten der EU ihre Dienstleistungen unbürokratisch anbieten können. Das klinge gar nicht schlecht, räumte Verzetnitsch ein, aber das Problem sei das von EU-Kommission vorgeschlagene Herkunftslandprinzip. Das bedeutet nämlich, dass es in Zukunft zwar eine Dienstleistungsfreiheit gibt, aber nach 25 unterschiedlichen Regelungen. Auch die Entsenderichtlinie löse nicht dieses Problem, da sie nicht unzulässige Vertragsklauseln verhindert und auch nicht den Schadenersatz, die Fragen der Versetzung, der Entgeltfortzahlung oder des Kündigungsschutzes regelt. Das heißt aber, dass keine fairen Wettbewerbsbedingungen herrschen und dass ein Sozialdumping betrieben wird, weshalb das Herkunftslandprinzip klar abzulehnen sei.

Bundesminister Dr. BARTENSTEIN merkte in Richtung seines Vorredners an, dass Österreich im Gegensatz zu Deutschland die Entsenderichtlinie sehr weitgehend umgesetzt habe und niemand unter dem Kollektivlohn bezahlt werden dürfe. Es sei eine große Herausforderung, in Europa Dienstleistungsfreiheit herzustellen, um damit eine der größten Wachstums- und Beschäftigungschancen zu schaffen. Es müsse gehandelt werden, war Bartenstein überzeugt, da das heutige Dienstleistungshandelsniveau innerhalb von Europa niedriger sei als vor zehn Jahren. Dabei liege der Anteil der Dienstleistungen an der gesamten Wertschöpfung bei 70 %, gab der Minister zu bedenken. Eine Liberalisierung in diesem Bereich würde vor allem dem Mittelstand viel bringen, da es sich große Unternehmen eher "richten können". Vorteile gibt es natürlich auch für die Arbeitnehmer und Konsumenten, weil mehr Wettbewerb zu einer besseren Qualität und wohl auch zu niedrigeren Preisen führen wird. Außerdem rechne man damit, dass nach der Umsetzung der Richtlinie zusätzliche 600.000 Jobs entstanden sein werden. Was das Herkunftslandprinzip angeht, so sei er der Auffassung, dass man davon grundsätzlich nicht abrücken sollte. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass es auch noch die Entsenderichtlinie und die Berufsanerkennungsrichtlinie gebe, die mit der Dienstleistungsrichtlinie in einem engen Zusammenhang stehen. Bartenstein trat weiters dafür ein, dass Ausnahmen für den sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge vorgesehen werden. Überdies sollten Ausübungsvorschriften überall dort, "wo eine allgemeine Rücksichtnahme gegeben ist", wie zum Beispiel im Sozial- oder Umweltbereich, durch das Herkunftslandprinzip nicht unterminiert werden. Es müsse auch sichergestellt werden, dass effiziente Kontrollen im Rahmen einer Behördenkooperation und eine lückenlose Rechtsverfolgung gewährleistet werden.

Eigentlich gebe es in Österreich derzeit nur zwei Proponenten, die die Dienstleistungsrichtlinie unbedingt haben wollen, nämlich die Industriellenvereinigung und Minister Bartenstein, konstatierte Abgeordneter Dr. EINEM (S). Die großen Unternehmen erwarten sich natürlich, dass es durch die neuen Regelungen für sie billiger wird und dass sie besser exportieren können. Aber man müsse sich auch fragen, in welcher Weise die kleinen Firmen, die nur ein paar Angestellte haben, davon profitieren. Einem befürchtete, dass sich der Wettbewerb massiv zu Lasten der KMU verschärfen wird, da immer mehr große Konzerne auf den österreichischen Markt drängen. Die neuen Regelungen könnten auch dazu führen, dass heimische Firmen ihre Bediensteten künftig in Portugal anmelden, weil es dort zum Beispiel keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt. Kritisch beurteilte der SPÖ-Redner, dass bis dato auch noch keine Untersuchungen in Auftrag gegeben wurden, die die Auswirkungen der Dienstleistungsrichtlinie auf die einzelnen Gruppen näher beleuchten. Schließlich brachte er noch einen Entschließungsantrag ein.

Abgeordneter NEUGEBAUER (V) kam auf eine Studie des Industriewissenschaftlichen Instituts zu sprechen. Die Autoren gehen davon aus, dass 1 Mill. € an exportierten Dienstleistungen etwa 800.000 € Wertschöpfung im Inland gegenüberstehen. Der Binnenmarkt sei ein Kernbereich des gemeinsamen Europas und daher müsse nun auch der Austausch an Dienstleistungen geregelt werden, meinte der Redner. Da es in Europa aber unterschiedliche Standards im Sozial- und Arbeitnehmerschutzbereich gibt, sind entsprechende Regelungen natürlich notwendig. Ein ruinöser Wettbewerb würde nicht nur den Arbeitnehmern schaden, sondern auch den klein- und mittelständischen Unternehmen. Neugebauer war ebenso wie Bartenstein überzeugt davon, dass man die Dienstleistungs-, die Entsende- und die Berufsanerkennungsrichtlinie im Verbund betrachten müssen. Deshalb sei es seiner Meinung nach sinnvoll, dass man die "Verkettung der drei Richtlinien" festschreibt.

Die heutige Debatte über die Dienstleistungsrichtlinie komme zum richtigen Zeitpunkt, meinte Abgeordneter Mag. HAUPT (F), denn am 5. Oktober werden die nächsten Entscheidungen in Brüssel getroffen. Die weiteren Harmonisierungsschritte seien seiner Meinung nach sicherlich eine conditio sine qua non. Allerdings müsse dann auch die Zusammenarbeit zwischen den Behörden in Europa funktionieren, weil ansonsten jene Betriebe, die sich an alle Vorschriften halten, von den Firmen, die Sozialdumping betreiben und das System ausnützen, vom Markt verdrängt werden. Es müssen daher entsprechende Vorkehrungen getroffen werden, forderte Haupt. Notwendig sei auch eine Harmonisierung der Sozialstandards in den einzelnen Ländern, die ausgehend von Mindeststandards nach oben angeglichen werden sollten.

Abgeordnete SBURNY (G) bedauerte, dass EU-Abgeordnete nicht mitdiskutieren können, da es interessant wäre, die Themen aus den verschiedensten Blickwinkeln zu betrachten. Insbesondere hinsichtlich der Dienstleistungsrichtlinie wäre es ihrer Meinung nach wichtig, die EU-ParlamentarierInnen in die Debatte mit einzubeziehen, da in dieser Frage das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht hat. Dieses habe sich gestern durchaus kritisch zum gegenständlichen Richtlinienentwurf geäußert. Der Bericht des Europäischen Parlaments entspreche auch dem, was heute die Abgeordneten Verzetnitsch und Haupt vorgebracht hätten, betonte Sburny.

Die Grünen treten selbstverständlich für einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ein, sagte sie, soziale Standards, Umweltschutz und Verbraucherschutzrechte dürften jedoch nicht unter die Räder kommen. Deshalb müsste das Herkunftslandprinzip aus der Richtlinie gestrichen werden und eine Positivliste mit ausschließlich kommerziellen Dienstleistungen erstellt werden. Bleibe man beim Herkunftslandprinzip würde man neben den Kollektivverträgen auch unter völlig anderen Rahmenbedingungen arbeiten können. Erstmals würden die Betriebe in der Lage sein, zu Dumpinglöhnen anzustellen, wodurch sämtliche Standards in Österreich unterminiert und Ressentiments gegen Menschen aus anderen Ländern geschürt würden, befürchtet Sburny. In diesem Zusammenhang brachte sie einen Entschließungsantrag der Grünen ein.

Abgeordneter Mag. MOSER (S) erblickte in der vorliegenden Dienstleistungsrichtlinie ebenfalls eine Gefahr für das europäische Sozialsystem. Die Verankerung des Herkunftslandprinzips würde Chaos pur nach sich ziehen und nur der Stärkere sowie die niedrigsten Standards würden sich durchsetzen. Rechtliche Unsicherheit, Intransparenz und eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten wären die Folge. Der SPÖ-Ansatz gehe daher von einer Harmonisierung aus, da für alle die gleichen Regeln gelten müssten. Die Kontrolle habe in Österreich zu bleiben, forderte Moser, denn nur so könne die Qualität sicher gestellt werden. Er appellierte daher abschließend an die Bundesregierung, auf EU-Ebene gegen das Herkunftslandprinzip zu stimmen.

Abgeordneter Dr. MITTERLEHNER (V) warf seinem Vorredner vor, Halbwahrheiten zu verkünden, und meinte, dass es aufgrund der unterschiedlichen Interessen in Europa realistischerweise zu keiner Harmonisierung kommen werde. Mitterlehner sah bei der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie keine Probleme, da seiner Meinung nach alles klar geregelt sei. Die Richtlinie bringe Chancen vor allem für die Klein- und Mittelbetriebe, weil diese aufgrund bürokratischer Hürden oft nicht exportieren könnten. Diese Hürden seien auch der Grund dafür, dass trotz Erfolgen beim Export von Dienstleistungen derzeit ein Rückgang zu verzeichnen sei. Selbstverständlich müssten die Standards entsprechend definiert werden, sagte Mitterlehner. (Forts.)