Parlamentskorrespondenz Nr. 881 vom 16.11.2005

NR-Plenum: Jugend braucht Bildung, Beschäftigung und Chancen

Aktuelle Stunde: Koalition lehnt Vergleich mit Frankreich ab

Wien (PK) - Die andauernden Krawalle in den hauptsächlich von Zuwanderern bewohnten Vororten von Paris und in anderen französischen Großstädten waren das Thema der Aktuellen Stunde, mit der der Nationalrat heute seine 127. Sitzung einleitete. Für die Themenwahl zeichnete die SPÖ verantwortlich, deren Vorsitzender, Abgeordneter Dr. GUSENBAUER (S), die Ursachen der Unruhen in der die tiefen sozialen Krise, im Mangel an Bildungschancen, Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven sah. Auch für Österreich zeigte sich Gusenbauer besorgt, weil hier 62.000 junge Menschen keine Arbeit haben, um 25.000 mehr als im Jahr 2000, und ein Fünftel der 15-jährigen laut PISA-Studie nicht richtig lesen und daher Ausbildungschancen kaum wahrnehmen können.

"Der soziale Aufzug funktioniert nicht mehr", warnte Gusenbauer. Man müsse die soziale Durchlässigkeit wieder herstellen, wenn man den sozialen Frieden erhalten wolle. Die Bildungsstatistik zeige, dass einerseits 83 % der Kinder aus städtischen Akademikerfamilien eine Chance auf einen akademischen Abschluss haben, andererseits aber nur 7 % der Kinder aus ländlichen Arbeiterfamilien. Die Schule trage in Österreich offenbar nicht dazu bei, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, sondern pflanze sie weiter fort. Gusenbauer gab den Landeshauptleuten recht, die darauf drängen, mehr Begleit- und Stützlehrer für Schüler mit nicht deutscher Muttersprache einzusetzen. Es gelte, soziale Probleme an der Wurzel zu lösen, Defizite im Bildungssystem zu beheben und den jungen Menschen Bildung, Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven zu geben.

Bundesminister Dr. BARTENSTEIN schloss insofern an seinen Vorredner an, als auch er zu geringe Bildungschancen und zu wenige Arbeitsplätze für Jugendliche als Ursachen für die Krawalle in Frankreich nannte. Die Situation in Österreich sei aber grundlegend von jener in Frankreich zu unterscheiden. Schüler mit nicht deutscher Muttersprache werden von 2.305 Begleitlehrern gefördert, 1.300 von ihnen seien alleine in Wien tätig. Auch auf dem Arbeitsmarkt sei die Situation nicht vergleichbar. Während Frankreich eine Jugendarbeitslosigkeit von 21,7 % verzeichne, liege der Vergleichswert in Österreich bei 10,6 %. Österreich arbeite intensiv daran, die Entstehung von No-future-kids zu verhindern. Etwa durch das kürzlich verabschiedete große Qualifikationspaket im Umfang von 285 Mill. €, das zusätzlich 61.500 Arbeitsplätze bringt. 160 Mill. € werden dabei für die Qualifikation junger Menschen aufgewendet. Zwar sei die Arbeitslosigkeit unter der ausländischen Bevölkerung in Österreich doppelt so hoch wie bei den Inländern, junge Ausländer seien aber unterproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Das AMS leiste hervorragende Arbeit bei der Vermittlung von Jobs für junge Menschen, berichtet der Arbeitsminister und teilte mit, dass im Jahr 2005 die Zahl der Lehrverträge um 1.757 oder 3,7 % erhöht werden konnte. "Die Lehrstellenlücke ist kleiner geworden". Dennoch kündigte Minister Bartenstein weitere Anstrengungen an, um die kommenden starken Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen.

Abgeordneter AMON (V) bezeichnete die Arbeitslosigkeit als ein europäisches Problem, das in Österreich erfolgreicher gelöst werde als anderswo. Bundesregierung und Sozialpartner arbeiteten gemeinsam daran, dass kein Jugendlicher ohne Lehrstelle bleibe und konnten dabei zuletzt große Fortschritte erzielen. Die Opposition sollte darauf verzichten, aus den dramatischen Ereignissen in Frankreich innenpolitisches Kleingeld zu münzen. Den schulpolitischen Vergleich mit Finnland, das die Opposition immer wieder als Vorbild darstelle, lehnte Amon einmal mehr ab: Dort sei Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in Österreich, obwohl Österreich einen wesentlich höheren Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund aufweise. Die Randale in Frankreich gehe auf mangelnde Bildung und zu wenige Jobs zurück und seien überdies durch eine politische Debatte ausgelöst worden.

Abgeordnete Mag. GROSSMANN (S) schickte voraus, dass sich Gewalt niemals rechtfertigen lasse, sah aber diejenigen, die in Frankreich als Täter verfolgt werden, in Wahrheit als Opfer. Es handle sich um junge Menschen mit Sprachproblemen, deren Emotionen nicht verstanden werden, mit deren Problemen sich niemand auseinandersetze. Die brennenden Häuser und brennenden Autos seien die Antwort der jungen Menschen auf offen gebliebene Fragen und auf ein Klima der sozialen Kälte. Wer all dies bisher nicht wahrhaben wollte, sollten endlich erkennen, dass Kosten der sozialen Gerechtigkeit eine Investition in die eigene Sicherheit seien. Die Unterschiede zwischen Österreich und Frankreich erklärte die Rednerin mit der Bildungspolitik der siebziger Jahre, die es auch Arbeiterkindern ermöglicht hat, einen Hochschulabschluss zu erreichen. Wer den sozialen Frieden erhalten möchte, müsse die Jugendarbeitslosigkeit verkleinern, denn die Gesellschaft darf jungen Menschen nicht sagen: "Wir brauchen dich nicht", schloss Abgeordnete Grossmann.

Abgeordneter SCHEIBNER (F) warf der SPÖ vor, die Ereignisse in Frankreich zum Anlass von Propagandatiraden zu nehmen und dabei die Täter und Opfer im Stil einer längst überholten falschen Sozialromantik zu verwechseln. Man müsse nach den Ursachen forschen, dürfe aber Straftäter, die die Autos ihrer Nachbarn anzünden, nicht als Opfer darstellen. Scheibner wandte sich gegen eine Zuwanderungspolitik, die an der sozialen Realität vorbeigehe und wies auf Probleme in Wien hin, wo es Volksschulklassen gebe, in denen bis zu 90 % der Schüler eine nicht deutsche Muttersprache haben. Scheibner unterstrich die Notwendigkeit einer kontrollierten Zuwanderung und der Unterscheidung zwischen Asylwerbern und Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich kommen. Auch im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit lehnte Scheibner einen Vergleich mit den französischen Verhältnissen ab und wies auf die drei Konjunkturpakete, das Lehrlingspaket und das jüngste Beschäftigungspaket der Bundesregierung hin.

Abgeordneter ÖLLINGER (G) kritisierte die Regierungsparteien, die die Realität nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Ausländische Jugendliche aus Nicht-EU-Ländern haben in Österreich in der Regel keine Beschäftigungsbewilligung. Und junge Österreicher aus Zuwandererfamilien erlebten auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor krasse Benachteiligungen. Zynismus warf Öllinger der Regierung vor, wenn sie nun das Staatsbürgerschaftsrecht für Menschen verschärfen wolle, die zu geringe Deutschkenntnisse haben, obwohl sie den muttersprachlichen Unterricht einschränke. Seine abschließende rhetorische Frage, wie gelebte Integration in Österreich aussehe, beantwortete Öllinger, indem er feststellte: "Man sieht nach wie vor keine schwarzen Krankenpfleger, keine türkischen Polizisten, keine serbischen AMS-Angestellten und keine politischen Funktionäre mit Migrationshintergrund".

Abgeordnete FUHRMANN (V) rief die Opposition auf, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich doppelt so hoch sei wie in Österreich und man die Verhältnisse dort nicht auf Österreich übertragen könne. Jungen Menschen brauchen kein Mitleid, sondern zielgerichtetes politisches Handeln. Dies leiste die Bundesregierung: die Sozialausgaben steigen, die Maßnahmen zur Förderung der Lehrausbildung wurden intensiviert und die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik wurden verdoppelt.

Abgeordneter DDR. NIEDERWIESER (S) trat der Behauptung entgegen, die Regierung verzeichne beim Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit Erfolge - tatsächlich sei die Jugendarbeitslosigkeit in den letzten fünf Jahren stark gestiegen. Das Frühförderungsmodell von Ministerin Gehrer funktioniere nicht und die jetzt beworbene Hochschulmilliarde komme erst 2007. Niederwiesers Vorschläge lauteten, die Berufschulen für Jugendliche ohne Lehrstelle zu eröffnen und zusätzliche Begleitlehrer für Schüler mit nicht deutscher Muttersprache einzusetzen.

Abgeordnete Dr. PARTIK-PABLE (F) warnte davor, die dramatischen Vorgänge in Frankreich zum Anlass zu nehmen, in Österreich eine soziale Krise herbeizureden und stellte überdies fest: "Menschen, die Autos anzünden, sind keine Opfer, sondern Täter". Regierung und Parlament haben in Österreich erfolgreiche Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit ergriffen. In Österreich habe es eine erhöhte, aber keine unkontrollierte Zuwanderung gegeben und es gebe keine Stadtviertel, in die sich die Exekutive nicht mehr hineinwage wie in Frankreich. Der Sozialstaat funktioniere und vermittle Wärme, nicht Kälte. Laut Partik-Pable haben die Jugendlichen in Österreich gute Perspektiven und sie haben ein soziales Umfeld, das die Entstehung von Verhältnissen wie in Frankreich verhindere.

Abgeordnete MANDAK (G) bedauerte, dass an der heutigen Debatte als einziger Regierungsvertreter Minister Bartenstein anwesend sei. Ihrer Ansicht nach hätten auch die Ministerinnen Gehrer und Prokop, die bei diesem wichtigen Komplex mitzusprechen hätten, auf der Regierungsbank Platz nehmen müssen. Den Regierungsmitgliedern warf sie mangelndes Problembewusstsein angesichts der Unruhen in Frankreich vor, auch vermisste sie Aussagen zu den 42.580 arbeitslosen Jugendlichen in unserem Land. Diese jungen Menschen gibt es, sie haben keine Arbeit und momentan auch keine Perspektive; deshalb dürfe man vor den Problemen nicht die Augen verschließen, so Mandak.

Zu Beginn der 127. Sitzung des Nationalrates nahm Präsident Andreas Khol die Angelobung des neuen ÖVP-Abgeordneten Dr. Karl-Heinz Dernoscheg vor. Der steirische Mandatar folgt dem kürzlich ausgeschiedenen Werner Miedl nach.

(Schluss Aktuelle Stunde/Forts. NR)