Parlamentskorrespondenz Nr. 264 vom 29.03.2006

EU-Ratsvorsitzender Schüssel berichtet vom EU-Frühjahrsgipfel

Aktuelle Stunde: Der Bundeskanzler zwischen Lob und Kritik

Wien (PK) - Unter der Vorsitzführung von Nationalratspräsident Andreas Khol diskutierte der Nationalrat eingangs seiner 142. Sitzung im Rahmen einer Aktuellen Stunde die "Ergebnisse des Europäischen Rates in Brüssel vom 23. und 24. März 2006". Die Auswahl des Themas oblag der ÖVP. - Zuvor war der neue SPÖ-Abgeordnete Wolfgang Katzian, der des freigewordene Mandat von Friedrich Verzetnisch übernahm, angelobt worden.  

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) sprach einleitend von erfreulichen Ergebnissen und großartigen Beschlüssen des Europäischen Rates unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Schüssel - Österreich habe sich in Europa hervorragend profilieren können. Die Behauptung der Opposition, auf diesem EU-Gipfel sei nichts beschlossen worden, sei entschieden zurückzuweisen. Tatsächlich habe Österreich dem Themenkomplex Beschäftigung und Wachstum Priorität gegeben und einen Beschluss für zwei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich pro Jahr herbeigeführt. Dabei erinnerte Spindelegger daran, dass Österreich durch sein 285 Mill. €-Beschäftigungsprogramm schon im Vorjahr dafür gesorgt habe, dass überall dort Arbeitsplätze entstehen, wo Arbeit nachgefragt werde, etwa im Gesundheitswesen. Derartige Programme werden in allen 25 EU-Ländern dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit an der Wurzel zu bekämpfen, vor allem die Arbeitslosigkeit junger Menschen. Auch auf diesem Gebiet sei Österreich mit der Einführung des Blum-Bonus - Förderung von Unternehmen, die zusätzliche Lehrstellen anbieten - bereits vorangegangen.

Besonders wichtig sei die Förderung von Forschung und Entwicklung. Der Redner begrüßte daher den Beschluss, den F&E-Anteil am BIP bis 2010 auf 3 % anzuheben. "Das wird Europa wettbewerbsfähig machen", zeigte sich Spindelegger überzeugt.

Nach der schmerzlichen Erkenntnis Anfang des Jahres, wie sehr Europa von Energieimporten abhängig sei, hat der EU-Frühjahrsgipfel nunmehr beschlossen, den Anteil erneuerbarer Energieträger am Energieverbrauch bis 2015 auf 15 % zu steigern. Auch hier gehe Österreich, sei es bei der Wasserkraft, sei es bei der Biomasse, als Vorbild für eine europäische Perspektive voran.

Abschließend zitierte Abgeordneter Spindelegger das Lob des französischen Staatspräsidenten Chirac für den hervorragend vorbereiteten EU-Gipfel und sagte: "Bundeskanzler Schüssel ist nicht nur ein guter Bundeskanzler, sondern mittlerweile auch ein Staatsmann europäischen Formats".

Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL informierte die Abgeordneten einleitend darüber, dass es dem österreichischen Vorsitz gelungen sei, alle Ziele, die er sich für den EU-Frühjahrsgipfel vorgenommen habe, im Schlussdokument unterzubringen. Er habe auch erreicht, das österreichische Modell der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Sozialpartnern beim Thema Wachstum und Beschäftigung auf die europäische Ebene zu heben, indem er die europäischen Sozialpartner und den Präsidenten der europäischen Zentralbank zum Gipfel eingeladen habe.

Angesichts des unbefriedigenden Ergebnisses der bisherigen Umsetzung der Lissabon-Strategie und vor dem Hintergrund besserer Konjunkturaussichten habe der Gipfel beschlossen, die Beschäftigung jährlich um 1 % anzuheben, was 10 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze bis 2010 bedeutet. Besonders wichtig sei der Beitrag der 23 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Europa. Sie sind die Hoffnungsträger der Beschäftigungspolitik und sollen durch geringere Gebühren, vereinfachte Berichtspflichten und eine Senkung der Verwaltungskosten unterstützt werden. "Wenn wir den KMU das Arbeiten erleichtern, lebt die Hoffnung auf mehr Arbeitsplätze", sagte der Bundeskanzler. Österreich sei bei dieser Politik eines der Vorbildländer, für Österreich ist 2006 ein Beschäftigungswachstum von 1,3 % erreichbar. Die konkreten Ziele lauten dabei auf eine Reduktion der Zahl der Schulabbrecher und eine Verminderung der Jugendarbeitslosigkeit.

Der Bundeskanzler betonte die Bedeutung der österreichischen Beteiligung am europäischen Institut für Technologie und die Absicht, eine Elite-Universität zu schaffen und bekannte sich nachdrücklich dazu, dafür mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Das Ziel, im Jahr 2010 einen 3-prozentigen BIP-Anteil der Forschung zu erreichen, sei beim Brüsseler Gipfel festgeschrieben worden, berichtete der Bundeskanzler.

Mehr Geld von der Europäischen Entwicklungsbank werde über die Forschung hinaus dem Ausbau der transeuropäischen Netze und der Förderung der KMU zur Verfügung stehen.

Dazu kommt eine neue europäische Energiepolitik mit einem höheren Maß an Versorgungssicherheit, Umweltqualität und Wettbewerbsfähigkeit. Der grenzüberschreitende Stromhandel soll auf 10 % angehoben, der Anteil erneuerbarer Energieträger auf 15 % gesteigert und die Wasserkraftreserven sollen stärker genutzt werden. Der  Einsatz von Biotreibstoffen, der allerdings neue Treibstoffentwicklungen und neue Motoren erfordere, soll auf 8 % steigen. Und nicht zuletzt geht es um Investitionen in eine höhere Energieeffizienz.

Ende April wird sich ein EU-Gipfel mit dem Thema Erweiterung und Aufnahmefähigkeit der EU befassen, kündigte der EU-Ratsvorsitzende an und machte auf Bemühungen für eine "Choreographie" für die nächsten Schritte beim EU-Verfassungsvertrag aufmerksam. "Viel Arbeit liegt noch vor uns", schloss der Bundeskanzler und warb um die Unterstützung der Nationalratsabgeordneten.

Abgeordneter Dr. STUMMVOLL (V) zeigte sich erfreut über das französische Lob für die exzellente österreichische Vorsitzführung in der EU. "Wir sind wieder wer in Europa", formulierte der Abgeordnete und unterstrich die Notwendigkeit, die Erwartungen der Menschen bei den Themen Wachstum und Arbeitsplätze zu erfüllen. Daher ein deutliches Ja zur Verpflichtung der Mitgliedsländer, insgesamt zwei Millionen Arbeitsplätze pro Jahr zusätzlich zu schaffen. Dem dienen Investitionen in Forschung und Entwicklung und die Förderung der KMU, wobei der Abgeordnete die erfolgreichen österreichischen Maßnahmen der letzten Jahre in Erinnerung rief.

Abgeordneter Dr. CAP (S) konfrontierte den Bundeskanzler und dessen "Sozialrhetorik" mit den österreichischen Realitäten. Schüssel habe  mehr als 380.000 Arbeitslose zu verantworten, das Land verzeichne keinen Beschäftigungszuwachs, sondern habe - wenn man Vollzeitarbeitsplätze rechne - 30.000 Arbeitsplätze verloren. Angesichts dessen sah Cap den EU-Gipfel mit seinen unverbindlichen Beschlüssen, die keinerlei Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten bedeuten, als "Plauderstunde, eine Art 5-Uhr-Treffen". Die Regierung habe es verabsäumt, für eine Lockerung der Maastricht-Kriterien einzutreten, klagte Cap und kritisierte weiter, der Ratsvorsitzende Schüssel habe nichts gegen die Renaissance der Atomenergie in Europa unternommen. Beim Thema EU-Erweiterung sprach der SPÖ-Klubobmann die Befürchtung aus, die EU werde sich erweitern, während zugleich ein "feines, kleines Kerneuropa" entstehe - und Österreich werde schauen müssen, wo es bleibe.

Abgeordneter SCHEIBNER (F) sprach von einer unaufgeregten, aber effizienten österreichischen EU-Präsidentschaft, die richtigerweise dafür gesorgt habe, dass man sich in der EU mit Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsprogrammen beschäftigt. Scheibner lobte das Engagement von Vizekanzler Gorbach und Abgeordneter Bleckmann für die Erhöhung der F&E-Mittel und unterstützte einmal mehr den Beschluss für eine Elite-Universität in Österreich. Beim Thema Atomenergie drängte der F-Klubobmann auf die Schließung unsicherer Kernkraftwerke und forderte verbindliche Programme für den Ausstieg aus der Kernenergie. Kritik der Türkei an der österreichischen EU-Vorsitzführung münzte Scheibner in Lob für die Bundesregierung um, denn ein Land, das die Kriterien dafür nicht erfülle, könne nicht Vollmitglied der Europäischen Union werden.

Abgeordnete Dr. GLAWISCHNIG-PIESZEK (G) meinte, von den Ausführungen des Bundeskanzlers bleibe substantiell nicht viel übrig, wenn man das Selbstlob Schüssels abziehe. Man müsse ihn daran erinnern, dass Österreich seine Spitzenposition in der Beschäftigungspolitik längst verloren habe, auch in der Jugendbeschäftigung. Aus Grüner Sicht sei besonders bedauerlich, dass die Anti-AKW-Politik und die Frage des Ausstiegs aus dem Euratom-Vertrag kein Thema der Europäischen EU-Präsidentschaft sei, obwohl Frankreich den Ausbau der Atomenergie als Mittel zur Lösung der Klimaprobleme offen propagiere. Der Boom bei den erneuerbaren Energieträgern in Österreich finde nicht wegen, sondern trotz der politischen Rahmenbedingungen statt. Aber immer noch werden Ölheizungen gebaut, was einer Arbeitsplatzvernichtung gleich komme, weil so der Umstieg auf erneuerbare Energieträger gebremst werde und die Importabhängigkeit weiter wachse.

Abgeordneter DONABAUER (V) wies die Ausführungen des Abgeordneten Cap entschieden zurück und unterstrich die europäische Vorbildrolle Österreichs auf vielen politischen Gebieten, insbesondere bei der Beschäftigungspolitik sowie bei der Konsolidierung des Staatshaushaltes. Donabauer bekannte sich zur Einbeziehung der Sozialpartner in die europäische Politik und unterstrich das Ziel, jährlich zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in der EU zu schaffen und so die Abhängigkeit der Europäer von Energieimporten zu reduzieren.

Abgeordneter Dr. EINEM (S) warf dem Bundeskanzler vor, Prognosen der Wirtschaftsforscher als beschäftigungspolitische Ziele zu formulieren. Schüssel beabsichtige offenbar, es als einen Erfolg der Politik auszugeben, wenn die Prognosen zutreffen. Es sei schon richtig, dass die Wirtschaft Arbeitsplätze schaffe, aber für Infrastrukturinvestitionen, Straßen- und Eisenbahnbau, Kanalisation und nicht zuletzt für Bildung und Grundlagenforschung sei der Staat zu 100 % zuständig, Ausgaben, die großteils von Lohnsteuerzahlern finanziert werden. Die Regierung aber habe sich in den letzten Jahren geweigert, Geld für notwendige Investitionen, etwa für den Ausbau der Kinderbetreuungsplätze auszugeben. Es reiche nicht aus, die Unternehmen tun zu lassen, was sie wollen, klagte der Abgeordnete und kritisierte, dass die Großunternehmen bei der Steuerreform Milliardengeschenke erhalten haben, während die KMU leer ausgegangen seien.

Bundeskanzler Dr. SCHÜSSEL wies in einer zweiten Wortmeldung darauf hin, dass sich Österreich im Rahmen des Rankings zum ersten Mal unter den besten 3 der EU befinde. Das sei ein schöner Erfolg und könne nicht als Versagen der Regierung angesehen werden. In Richtung Einem meinte der Kanzler auch, kein Erfolg komme "automatisch", auch nicht, dass in Österreich heute in Schiene und Straße doppelt soviel investiert werde als zur Zeit der SPÖ. Seien Sie doch mit uns stolz, dass wir Gründerrekorde haben, dass wir den Mittelstand um 1,4 Mrd. entlastet haben und dass seit dem Jahr 2000 Wirtschaft und Staat gemeinsam  mehr als zuvor investieren. Dass heute in Österreich, obwohl es eine gute Konjunktur gibt, für aktive Arbeitsmarktförderung doppelt so viel Geld ausgegeben werde als früher, erfolge auch nicht "automatisch". Es werde daran gearbeitet, die steigende Arbeitslosenrate abzusenken. Österreich stehe gut da, und nach diesem Europäischen Rat stehe auch Europa ein Stück besser da, wenn man das, was man beschlossen habe, auch ernst nehme.

Abgeordneter DI SCHEUCH (F) bezog sich auf die Ausführungen von Stummvoll und erinnerte daran, dass seine Partei im Jahr 2000 in die Regierung gekommen sei und federführend dazu beigetragen habe, dass sich Österreich so positiv entwickeln und nach 16 Jahren rot-schwarz eine erfolgreiche Politik umgesetzt werden konnte. Konkrete Erfolge konnte vor allem Hubert Gorbach mit seinem Ressort erzielen.

Europa sei als Wirtschafts- und Friedensprojekt wichtig, man brauche einen Gegenpol zu Asien, zu Amerika und zu aufstrebenden Wirtschaftsmächten, aber die Skepsis in der Bevölkerung sei groß. Es gebe in der Bevölkerung Angst vor Europa, vor Brüssel und vor Zentralismus. Es reicht seiner Meinung nach nicht, nur die Erfolge für Europa herauszustreichen, vielmehr müsse man die Sorgen und die Ängste der Menschen, die vor allem mit der Erweiterungsdiskussion und der EU-Verfassung zusammenhängen, ernst nehmen. Bei der Agrarpolitik müsse man nach neuen Ansätzen suchen und um den Arbeitsplatz Bauernhof kämpfen.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) meinte, bei diesem Gipfel sei ein erster Schritt in Richtung Renaissance der Atomkraft fixiert worden. Dass der Kanzler dem widerstandslos zugestimmt habe, habe er auch heute verschwiegen. In dem Ratsbeschluss stehe nämlich drinnen, dass es eine fixe Quote für Niedrigemissionstechnologien geben soll, und dies könne sich nur auf die Atomkraft beziehen, sagte sie. Der Kanzler habe es verabsäumt, Verbündete zu suchen, um bereits vor dem Gipfel zu sagen, kein Atomkraft für die europäische Energiepolitik und man wolle mehr in die erneuerbare Energie investieren. Diesen Vorwurf "energisch lethargisch" müsse sich der Kanzler gefallen lassen. (Schluss Aktuelle Stunde/Forts NR)