Parlamentskorrespondenz Nr. 837 vom 08.11.2007

Nationalrat: Gusenbauer und Plassnik verteidigen EU-Reformvertrag

Die Erklärungen und die Stellungnahmen der fünf Klubchefs

Wien (PK) – Vor Eingang in die Tagesordnung teilte die den Vorsitz führende Präsidentin PRAMMER mit, dass um 15 Uhr eine vom Klub des BZÖ eingebrachte Dringliche Anfrage an den Innenminister betreffend "türkisch-kurdische Ausschreitungen in Österreich" um 15 Uhr aufgerufen werde. Im Anschluss daran wird es eine Kurzdebatte über einen Antrag des BZÖ geben, dem Sozialausschuss für die Behandlung des Antrags 449/A eine Frist bis 3. Dezember zu setzen. Die Abstimmung über diesen Fristsetzungsantrag findet unmittelbar nach der Kurzdebatte statt.

Gusenbauer: Reformvertrag ist wichtiger Schritt für die Union

Der Reformvertrag von Lissabon sei ein nächster und äußerst wichtiger Schritt in der Entwicklung der Europäischen Union, eröffnete Bundeskanzler Dr. GUSENBAUER seine Erklärung zum EU-Reformvertrag. Nach einer Phase der Beschäftigung mit sich selbst könne sich nun die EU wieder der Bewältigung der großen Herausforderungen zuwenden. In der aktuellen Europadiskussion würde nicht genügend gewertet, was Österreich von dieser Entwicklung habe, nämlich einen unschätzbaren Vorteil hinsichtlich Frieden, Stabilität und Sicherheit wie noch nie in der Geschichte. Auch die günstige wirtschaftliche Entwicklung sei entscheidend von den vorgefundenen Bedingungen geprägt; Österreich habe die Situation nach der Wende von 1989 hervorragend bewältigt und sei auch Gewinner der EU-Osterweiterung, sagte Gusenbauer. Alle, die heute gegen Europa aufstehen, sollten sagen, was ihre Alternative sei.

Gusenbauer gab sich überzeugt, dass die Europäische Union mit dem Reformvertrag besser funktionieren werde: die Entscheidungsfindung würde effizienter, die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten würde klarer, der Wechsel der Kompetenzen sei nun in beide Richtungen möglich. Als Kernstück des Reformvertrags sah der Bundeskanzler die Grundrechtscharta, durch die die Rechte jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin gestärkt würden. Als "Wermutstropfen" sah Gusenbauer die Möglichkeit des "Opting out" für Großbritannien, weil damit die weitere gemeinsame Entwicklung in Frage gestellt werde. Er strebe gleiches Recht für alle und eine Grundrechtscharta für alle an, betonte der Bundeskanzler.

In seiner Erklärung kam der Kanzler dann auf die "neuen Herausforderungen" zu sprechen, denen sich die EU und Österreich gegenüber sähen. Im einzelnen nannte er dabei den Klimaschutz, eine menschlichere Gestaltung der Globalisierung und die Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Für diese Herausforderungen biete der Reformvertrag eine Grundlage.

Zufrieden zeigte sich der Bundeskanzler mit dem von Österreich in Brüssel erreichten Moratorium in der Causa Zugang zum Medizinstudium. Dies sei ein Beitrag, auch in Zukunft jene ÄrztInnen ausbilden zu können, die für die Erhaltung eines der besten Gesundheitssysteme Europas nötig seien.

Die große Mehrheit, mit der das Parlament den Verfassungsvertrag ratifiziert habe, habe er als Auftrag verstanden, dass möglichst viel davon in den Reformvertrag einfließe. Tatsächlich seien die "Herzstücke" des Verfassungsvertrags erhalten geblieben, betonte der Bundeskanzler, damit sei ein besseres Funktionieren Europas in Zukunft möglich. Die richtige Antwort auf die oft berechtigte Skepsis der Bürger sei nicht Polemik, sondern eine bessere Politik, die darstelle, welch unschätzbare Vorteile Österreich habe. "Wir stehen zu Österreich, wir stehen zu Europa und wir stehen zu diesem Reformvertrag", schloss der Bundeskanzler.

Plassnik: "Ein europäischer Quantensprung"

Außenministerin Dr. PLASSNIK sah in der in wenigen Wochen erfolgenden Erweiterung des Schengenraums einen "europäischen Quantensprung": Wo vor nicht einmal 20 Jahren der Eiserne Vorhang war, werde es in sechs Wochen keine Grenzkontrollen mehr geben". Die Grenzen mit Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien werden dann so sein, wie Österreichs Grenzen mit Deutschland und Slowenien schon heute sind. Dieser Schritt sei gründlich vorbereitet worden, und nichts verdeutliche besser die epochalen Veränderungen in Europa, sagte die Außenministerin.

Österreich sei es bei der Erneuerung der Vertragsgrundlagen gelungen, seine Anliegen umzusetzen: An der Schnittstelle zwischen europäischer und nationalstaatlicher Ebene werde es erstmals eine genaue Verteilung der Zuständigkeiten geben. Die Übertragung von Kompetenzen an die Union könne von den Mitgliedstaaten auch wieder zurückgenommen werden, die EU sei nunmehr auch ausdrücklich keine "Einbahnstraße", und die Mitgliedstaaten blieben die "Herren der Verträge". Hinsichtlich der Dienstleistungen der Gemeinden – z.B. Wasserversorgung, Müllabfuhr – sei klargestellt, dass die EU nicht den Anspruch erhebe, alles bis in den letzten Winkel zu regeln. Es gebe einen "Demokratieschub" durch eine Stärkung der Parlamente und die Möglichkeit, europäische Volksbegehren durchzuführen. "Am Tisch bleibt der österreichische Vorschlag nach einer gesamteuropäischen Volksabstimmung", betonte Plassnik in diesem Zusammenhang.

Die Außenministerin ging dann auf die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips ein: Die Abgeordneten könnten der Kommission notfalls "die gelbe Karte zeigen". Erstmals bekomme die Union die Möglichkeit, im Klimaschutz tätig zu werden, eine neue Rechtsgrundlage werde es für die Energiepolitik geben und auch für die innere Sicherheit bringe der Reformvertrag neue Möglichkeiten und mehr Zusammenarbeit.

In der Außenpolitik werde es in Zukunft eine europäische Stimme geben, sagte Plassnik weiter: "Es gibt sie endlich, die europäische Telefonnummer", sagte sie. Auch von den BürgerInnen würde ein einheitliches Auftreten der Union nach außen erwartet, und zwar mit einem optimistischen Unterton: dass die EU zu einer "Friedensmacht" in der Welt werde. Gleichwohl werde die Außenpolitik ein "rot-weiß-rotes Profil" haben. Als Mitglied der Union seien Wirkungsraum und Wirkungsintensität für die österreichische Außenpolitik erweitert worden, erklärte die Außenministerin. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang an Wiens Engagement in der Kosovo-Frage. Österreich sei auch Vorreiter bei der Zusammenarbeit in Sicherheitsangelegenheiten im Visabereich, man arbeite daran, die EU-Perspektive für die Balkanländer "glaubhaft und greifbar" zu halten. Schließlich sei Österreich ein "unermüdlicher Dialogarbeiter", vor allem im Verhältnis zum Islam.

Das Bekenntnis zur gemeinsamen, solidarischen Außenpolitik im Rahmen der EU und die Neutralität seien Bestandteile der Bundesverfassung, und das bleibe auch so, betonte die Außenministerin. Den Mitgliedstaaten sei auch in Zukunft vorbehalten, über allfällige Unterstützungsleistungen selbst zu entscheiden, und in militärischen Fragen müsse der Rat weiterhin einstimmig entscheiden. Plassnik begrüßte die Solidaritätsklausel im Reformvertrag und betonte: "Österreich ist kein Trittbrettfahrer in Sachen Solidarität". Die Zustimmung zum Reformvertrag werde im Einklang mit der Verfassung durch die gewählten Volksvertreter erfolgen. Es sei ihr ein Anliegen, die BürgerInnen über den Reformvertrag umfassend zu informieren, schloss Plassnik und plädierte für eine realistische österreichische Selbstsicht: "Wir dürfen uns ruhig mehr zutrauen – in Österreich und in Europa."

Cap: "Wir sind nicht Gegenstand der Weltpolitik, wir machen sie"

SP-Klubobmann Dr. CAP zeigte sich froh darüber, dass mit dem Reformvertrag von Lissabon ein langer Streit an sein Ende gekommen sei. Die Wurzel für diesen Streit ortete Cap darin, dass zu viele Länder zu schnell ohne die entsprechende Struktur Mitglieder der Union geworden seien. Jetzt gebe es den Reformvertrag, und damit werde Europa besser funktionieren. Als Mitglied der Union sei Österreich besser geschützt gegen die großen Herausforderungen der Globalisierung, gegen Entwicklungen, die von China und den USA ausgingen. "Wir sind nicht Gegenstand der Weltpolitik, wir machen Weltpolitik", fasst Cap pointiert zusammen. In der Größe liege auch Stärke, was auch für das Sicherheitsgefühl der ÖsterreicherInnen wichtig sei.

Österreich werde aber auch alles tun, damit die EU noch sozialer werde. In den Händen der Populisten sei das nicht gut aufgehoben, sagte Cap, zu FP-Klubobmann Strache gewandt. Cap ging dann auf die Stärkung der Parlamente durch den Reformvertrag ein, begrüßte die Möglichkeit von europäischen Bürgerinitiativen und kritisierte, dass es nicht auch die Möglichkeit gesamteuropäischer Volksabstimmungen gebe.

Die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden hätte das Gefühl der Bürger zum Ausdruck gebracht, die EU erfülle ihre Aufgabe nicht. Das werde sich ändern und habe sich bereits geändert. Es werde aber "immer zentraler", wie es den BürgerInnen geht. Abschließend bekannte sich Cap dazu, dass die Abgeordneten dazu berufen seien, über den Reformvertrag zu entscheiden; er appellierte an seine KollegInnen, gemeinsam über die nächsten Schritte nachzudenken.

Schüssel: "Sagen wir ja zum europäischen Traum"

ÖVP-Klubobmann Dr. SCHÜSSEL (V) appellierte an die Abgeordneten, ja zu sagen zum europäischen Traum. Ihn persönlich kränke es ein wenig, dass es keine europäische Hymne und keine europäische Flagge geben werde und als einziges Symbol der EU der Euro übrig bleibe, meinte er. Europa sei schließlich mehr als nur eine gemeinsame Währung, auch wenn der "romantische Traum" eines europäischen Bundesstaates mit dem EU-Reformvertrag ausgeträumt sei.

Schüssel verwahrte sich gegen das Argument, der EU-Reformvertrag sei nichts anderes als die gescheiterte EU-Verfassung unter einem neuen Namen. Zwar hätten vielleicht 90 bis 95 % der Substanz des Verfassungsvertrags gerettet werden können, erklärte er, ident seien die beiden Verträge aber nicht. Auch die Gene des Menschen würden, so Schüssel, zu 95 % jenen des Schimpansen gleichen, trotzdem sei der Unterschied klar. Konkret sei etwa der Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Verfassungsrecht beseitigt worden.

Schüssel zeigte sich überzeugt, dass der EU-Reformvertrag mehr Demokratie bringe. Als konkrete positive Punkte hob er u.a. den zusätzlichen Sitz für Österreich im Europäischen Parlament, die Stärkung der nationalen Parlamente, die Veröffentlichung aller Dokumente im Internet, die Grundrechtscharta und die neuen EU-Ziele Klimaschutz und Energiesicherheit hervor.

Zur Beistandsklausel merkt der ÖVP-Klubobmann an, kein EU-Staat könne im militärischen Bereich zu etwas gezwungen werden. Überdies schließe der Reformvertrag Angriffskriege Europas für die Zukunft auf ewig aus. Das Misstrauen gegenüber dem parlamentarischen Ratifikationsprozess ist seiner Ansicht nach nicht angebracht.    

Van der Bellen: "EU ist das umfassendste, ehrgeizigste und größte Friedenprojekt aller Zeiten"

Abgeordneter Dr. VAN DER BELLEN (G) erklärte, man könne ohne Pathos sagen, die Europäische Union sei das umfassendste, ehrgeizigste und größte Friedensprojekt aller Zeiten. Durch die EU sei Europa zu einer Zone der Sicherheit und der Freiheit geworden.

Für Van der Bellen ist die EU aber auch eine politische Antwort auf die Globalisierung. Man müsse auf politischer Ebene eine Gegenmacht zu multinationalen Konzernen aufbauen, bekräftigte er und machte in diesem Zusammenhang geltend, dass Österreich allein gegen Microsoft nie einen Prozess gewonnen hätte. "Wir brauchen die EU", sagte Van der Bellen, auch wenn sie mehr demokratische Elemente benötige und handlungsfähiger werden müsse. In beiden Bereichen bringe der Reformvertrag, trotz aller Mängel, wesentliche Fortschritte. FPÖ und BZÖ warf Van der Bellen vor, den Reformvertrag deshalb abzulehnen, weil die beiden Parteien generell gegen eine europäische Einigung seien.

Als einen Minuspunkt des Vertrags nannte Van der Bellen, dass dieser absolut unleserlich sei, "weit schlimmer als jede ASVG-Novelle". Er hält es aber für falsch, ihn als "neoliberales Pamphlet" darzustellen, das die österreichische Neutralität gefährde. 27 nationale Volksabstimmungen würden den Vertrag zum Scheitern bringen, fürchtet Van der Bellen, und die EU um Jahre zurückwerfen. Wenn man das Volk befragen wolle, dann das zuständige europäische Volk, sagte er.

Strache für Volksabstimmung in Österreich über Reformvertrag

FPÖ-KLubobmann STRACHE (F) führte aus, wenn man bei den Reden von Bundeskanzler Gusenbauer und Außenministerin Plassnik die Augen geschlossen hätte, hätte man meinen mögen, dass es sich um "EU-Propaganda-Kommissare" handle. Die beiden hätten mit den gleichen "Schalmeientönen" für den EU-Reformvertrag geworben, wie seinerzeit für den EU-Beitritt geworben worden sei, kritisierte er. Schon die damaligen Ankündigungen und Versprechen hätten sich aber als unwahr und falsch erwiesen.

Massive Kritik übte Strache an der Weigerung der Regierungsparteien, in Österreich eine Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag abzuhalten. Einer europaweiten Volksabstimmung kann er hingegen, wie er sagte, nichts abgewinnen. Man könne nicht, so Strache, Deutsche, Polen oder Tschechen über die Zukunft Österreichs abstimmen lassen.

Grundsätzlich vertrat Strache die Auffassung, dass sich der Reformvertrag nicht von der gescheiterten EU-Verfassung unterscheide. Das Einzige, das weggefallen sei, seien die Hymne und die Fahne, konstatierte er. Sollte der Vertrag in Kraft treten, werde Österreich kein souveräner Staat und nicht mehr frei sein. Die FPÖ sage ja zu Europa, betonte Strache, aber nicht zu einer zentralistischen Europäischen Union, sondern zu einem föderalistischen Europa. Seine Fraktion wolle nicht, dass die Neutralität und die österreichische Verfassung "zu Grabe getragen werden". Die Befürworter des Reformvertrags wollten, so Strache, die gesprengten Ketten des Bundesadlers wieder zusammenschmieden und Österreich europäische Handschellen anlegen. Seiner Ansicht nach ist auch die Grundrechtscharta in Frage zu stellen, wenn gleichzeitig die Benes-Dekrete in Tschechien weiter ihre Gültigkeit behalten dürften.

Zum Abschluss seiner Rede brachte Strache einen Entschließungsantrag ein, in dem Bundeskanzler Gusenbauer aufgefordert wird, den EU-Reformvertrag am 13. Dezember nicht zu unterzeichnen.

Westenthaler fordert Volksabstimmung bzw. Volksbefragung über EU-Reformvertrag

Auch BZÖ-Klubobmann WESTENTHALER trat für eine Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag ein. Es stimme, dass Österreich im Herzen Europas liege, sagte er, so lange die EU aber nicht erkenne, dass die Bürgerinnen und Bürger das eigentliche Herz Europas seien, so lange laufe die Entwicklung der Union in eine falsche Richtung. Wenn sich die Regierungsparteien vor einer Volksabstimmung fürchteten, sollten sie alternativ zumindest eine Volksbefragung durchführen, forderte Westenthaler und zeigte sich zuversichtlich, dass eine solche zumindest in Kärnten stattfinden werde.

Westenthaler gab zu bedenken, dass sich viele große Europäer skeptisch über den EU-Reformvertrag geäußert und beispielsweise von einer "Mogelpackung" bzw. absoluter Unlesbarkeit gesprochen hätten. Auch Bundeskanzler Gusenbauer und SPÖ-Klubobmann Cap hätten in der Vergangenheit vehemente Kritik an der EU geübt, skizzierte er. Mit der Bezeichnung EU-Reformvertrag werde nur das Türschild ausgetauscht, die Substanz der ursprünglichen EU-Verfassung bleibe aber erhalten, ist Westenhalter überzeugt. Warum drohe der Bundeskanzler nicht damit, die österreichischen EU-Zahlungen einzustellen, wenn sich Österreich mit seinen Anliegen – etwa in den Bereichen Gentechnik, Transit oder Zuwanderung –  nicht durchsetzen könne, fragte er. (Forts.)