Parlamentskorrespondenz Nr. 999 vom 12.12.2007

Dissonanzen zu EU-Reformvertrag und Schengenerweiterung bleiben

Kritische Stimmen zu EU-Beitritt der Türkei; Sorge um den Kosovo

Wien (PK) – Im Mittelpunkt des heutigen EU-Hauptausschusses, der im Vorfeld des Europäischen Rats vom 13. und 14.Dezember zusammentrat, stand nicht nur die geplante Unterzeichnung des EU-Reformvertrags (Vertrag von Lissabon). Die Abgeordneten nützten die Gelegenheit, auch auf die brennende Frage der weiteren Entwicklung des Kosovo einzugehen und nochmals den Tschad-Einsatz zu diskutieren. Auch die Ausweitung des Schengenraums und die zukünftige Erweiterung der Union wurden von den Abgeordneten diskutiert und kontroversiell bewertet.

Vertrag von Lissabon: Standpunkte der Fraktionen unverändert

Seitens der beiden Regierungsfraktionen und der Grünen wurde der Vertrag von Lissabon begrüßt. Er mache die EU funktionsfähiger und demokratischer, so der Tenor der diesbezüglichen Wortmeldungen. Abgeordneter Josef Cap (S) meinte, mit dem Vertrag würden Schritte gegen ein neoliberales Modell gesetzt. Abgeordneter Wolfgang Schüssel (V) appellierte, jeder, dem Europa und die österreichischen Interessen wichtig seien, müsse diesem Vertrag zustimmen. Er sei besser als der bisherige Zustand, auch wenn man durchaus Probleme ansprechen könne. Schüssel hob insbesondere die Stärkung der nationalen Parlamente hervor. Abgeordnete Ulrike Lunacek (G) unterstrich die Demokratisierung der EU durch diesen Vertrag sowie die Stärkung der Grundrechte.

Im Gegensatz dazu kritisierte Reinhard Eugen Bösch (F) den EU-Reformvertrag, da er grundlegende Bausteine der Bundesverfassung ändere. In diesem Zusammenhang nannte Bösch insbesondere das vereinfachte Änderungsverfahren, die Flexibilitätsklausel, den Vorrang des Unionsrechts und die aus seiner Sicht De-facto-Abschaffung der immerwährenden Neutralität. Der diesbezügliche Antrag auf Stellungnahme, den Reformvertrag nicht zu unterzeichnen, wurde von SPÖ, ÖVP und Grünen abgelehnt und blieb somit in der Minderheit. Grundsätzlich wurde jedoch von den Abgeordneten der Wunsch nach der Möglichkeit einer europaweiten Volksabstimmung vorgebracht.

Auch Abgeordneter Herbert Scheibner (B) äußerte sich ablehnend zum vorliegenden Vertrag, der zwar besser sei als die aktuelle Situation, aber einen Rückschritt zum ursprünglichen Verfassungsvertrag darstelle. Er brachte daher einen Antrag auf Stellungnahme ein, der darauf abzielt, einen neuen Vertrag für Europa auszuhandeln, und zwar mit Blickrichtung auf eine vollständige, institutionelle und kompetenzrechtliche Reform der EU. Das BZÖ spricht darin von einem Kerneuropa der Nettozahler unter Teilnahme Österreichs. Europa sollte in Form eines Modulsystems aufgebaut werden, wodurch mit weiteren Staaten Assoziationsabkommen geschlossen werden können. Den äußersten Kreis sollten Länder bilden, die in Form einer besonderen Partnerschaft an die EU gebunden sind. Der neue Vertrag für Europa sollte auch die räumlichen, finanziellen sowie kulturellen Grenzen Europas festschreiben. Weiters fordert das BZÖ die Durchführung von Volksabstimmungen über grundsätzliche Fragen der europäischen Integration. Auch dieser Antrag erhielt nicht die erforderliche Mehrheit, da er von SPÖ, ÖVP und Grünen abgelehnt wurde.

Bundeskanzler Alfred Gusenbauer lehnte die Idee eines Kerneuropa ab und meinte, notwendig seien alle Bemühungen, möglichst viele Staaten zusammenzuführen. Als Besorgnis erregend bezeichnete er jedoch die Entwicklung eines Europa a la carte, wie es im Bereich Schengen, des Euro und der Grundrechte-Charta der Fall sei. Als inakzeptabel hielt er es, wenn einige Staaten in Fragen mitreden und mitentscheiden wollen, wo sie selbst dann nicht dabei sind.

Der Antrag der Grünen auf Ausschussfeststellung, die Bundesregierung möge auf europäischer Ebene eine politische Initiative zur Abhaltung einer europaweiten Volksbefragung über den Reformvertrag setzen, wurde von SPÖ, ÖVP und FPÖ abgelehnt. Begründung dafür war, dass eine derartige Volksbefragung nur einen ersten Schritt darstellen könnte und daher keine Unterzeichnung des Vertrags möglich wäre.

Schengen-Erweiterung: Ein Mehr an Sicherheit oder Gefahr?

Sehr unterschiedlich fiel auch die Bewertung der Erweiterung des Schengenraums aus. Für den Bundeskanzler ist die Erweiterung ein Symbol für ein freies und offenes Europa. Die Wiederaufnahme der Grenzkontrollen während der EURO 2008 seien keineswegs ein Argument gegen die Schengenerweiterung, sondern schlicht und einfach die Übernahme des erfolgreichen Sicherheitskonzepts von Deutschland. Die Grenzkontrollen würden in dieser Zeit nicht nur gegenüber den neuen Mitgliedsländern, sondern auch gegenüber den alten gelten, betonte Gusenbauer.

Klubobmann Wolfgang Schüssel wies auf die hohen Investitionen der betreffenden Staaten zur Sicherheit der EU-Außengrenzen hin und hielt aus seiner Sicht fest, Schengen bringe nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger, für den Tourismus und die Wirtschaft zahlreiche Vorteile, sondern auch ein Mehr an Sicherheit. Im Gegensatz dazu verlangte Abgeordneter Reinhard Eugen Bösch (F) einen sofortigen Stopp der Schengenerweiterung. Diese sei ein übereilter Schritt, sagte er.

Türkei-EU: Kritische Stimmen mehren sich – Grüne für Beitritt

Kritische Töne, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, kamen seitens der Abgeordneten zum möglichen Beitritt der Türkei. Abgeordneter Josef Cap (S) meinte dazu, ein Mitglied Türkei würde eine Überforderung der EU darstellen. Damit sei auch die Grundsatzfrage, was die EU eigentlich sei, angesprochen. Ist die EU ein europäisches Modell oder ein euroasiatisches-mediterranes Modell? In letzterem Fall müsste man die Bevölkerung vor einer solchen Erweiterung befragen, bemerkte Cap. Grundsätzlich sollte man laut Cap über die zukünftige Organisationsstruktur des Mittelmeerraums in Bezug auf Europa nachdenken, so seine Auffassung.

Nachdem Abgeordneter Reinhard Eugen Bösch (F) und Abgeordneter Herbert Scheibner (B) einen sofortigen Abbruch der Verhandlungen mit der Türkei verlangt hatten, reagierte Klubobmann Wolfgang Schüssel (V) mit dem Hinweis, die EU habe bereits bei acht Kapiteln die Stopptaste gedrückt. Auch der Entwurf für die Schlussfolgerungen des Rats enthalte kein Wort zu den Beitrittsperspektiven, sagte er. Die österreichische Position werde weiterhin auf eine Form der besonderen Partnerschaft drängen. Bundesministerin Ursula Plassnik meinte dazu ergänzend, im Laufe der beiden letzten Jahre sei mehr Realität eingekehrt, und sie bestätigte die österreichische Präferenz für eine besondere Partnerschaft. Man werde abwarten, wie die Verhandlungen laufen, so Plassnik, vorher werde es aber auf alle Fälle eine Volksabstimmung geben, bekräftigte sie.

Der Antrag auf Stellungnahme des BZÖ betreffend sofortiger Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurde mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen abgelehnt. Die Grünen waren die einzige Fraktion, die sich dezidiert für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen hat. So vertrat Abgeordneter Alexander Van der Bellen (G) die Auffassung, diesen riesigen Wirtschaftsraum zu vernachlässigen, wäre fahrlässig. Er habe bei seinem Besuch in der Türkei einen ausgezeichneten Eindruck gewonnen.

Kosovo: Welche Konsequenzen hat eine Unabhängigkeitserklärung?

Einen großen Raum in der Diskussion nahm die Frage des Kosovo ein. Bundesministerin Ursula Plassnik bedauerte, dass keine Lösung gefunden werden konnte, sie unterstrich jedoch die Bereitschaft der EU, eine führende Rolle zu übernehmen. Auf Grundlage der UNO-Resolution 1244 kündigte sie auch die Bereitschaft Österreichs an, an einer internationalen Mission zum Aufbau einer rechtsstaatlichen Ordnung im Kosovo beizutragen.

Bundeskanzler Alfred Gusenbauer sah zum Bericht von Matti Ahtisaari und Albert Rohan, der eine überwachte Unabhängigkeit vorsieht, keine Alternative. Man könne nicht länger warten, so der Bundeskanzler, und die derzeitige Situation sei nicht aufrecht zu erhalten.

Seitens der Abgeordneten wurde die uneinheitliche Linie der EU bedauert. Abgeordneter Cap forderte insbesondere eine präzise Argumentation für den Fall der Unabhängigkeitserklärung ein, insbesondere in Hinblick auf Minderheiten in anderen Staaten. Auch der Zweite Präsident des Nationalrates, Michael Spindelegger, plädierte für ein möglichst einheitliches Vorgehen der EU, warnte aber davor, angesichts der großen Sensibilität derzeit große Erklärungen abzugeben. Momentan sei die Diplomatie gefragt, meinte er. Dem gegenüber fehlte Abgeordneter Ulrike Lunacek (G) eine klare Positionierung Österreichs. Abgeordneter Alexander Van der Bellen (G) vermisste ein Wirtschaftskonzept der EU, da die extrem schlechte wirtschaftliche Lage ein enormes Sicherheitsrisiko mit sich bringe, was sich durch eine eventuelle Unabhängigkeitserklärung verschärfen werde. Lunacek hielt auch die Resolution 1244 für ein weiteres Mandat  nicht ausreichend und trat für ein neues Mandat ein. Dazu erklärte der Bundeskanzler, die Resolution sei deshalb ausreichend, weil in ihr keine Bindung an eine Statuserklärung und auch keine Frist enthalten sei. Die Resolution gewähre ein weitreichendes Mandat, sagte Gusenbauer und gab zu bedenken, dass eine neue Resolution mehr Probleme bringen würde.

Abgeordneter Peter Fichtenbauer (F) kritisierte, die internationale Gemeinschaft habe Erwartungen geweckt, die von vornherein nicht erfüllbar gewesen sind. Das Ganze sei ein Etikettenschwindel gewesen, und eine einseitige Unabhängigkeitserklärung werde die Sicherheitslage in Bosnien und am Balkan extrem gefährden. Der Bundeskanzler meinte dazu, den Kosovo könne man nicht als einen Präzedenzfall für andere Konfliktherde heranziehen, da es dort in der Vergangenheit ethnische Säuberungswellen gegeben habe. Die EU müsse alle Maßnahmen setzen, dass es nicht zu einer Instabilität in der gesamten Region komme.

Abgeordneter Herbert Scheibner (B) brachte zu dem Thema einen Antrag auf Stellungnahme ein, der den Bundeskanzler und die Außenministerin auffordert, sich für eine einheitliche Linie der EU-Mitgliedsstaaten einzusetzen, die klar die Unterstützung der Europäischen Union für die völkerrechtliche Unabhängigkeit des Kosovo zum Ausdruck bringt. Dieser Antrag wurde von den anderen Fraktionen abgelehnt.

Wieder Diskussion um Tschad-Einsatz

Auch der Tschad-Einsatz wurde abermals von den Abgeordneten thematisiert. Vor allem seitens des BZÖ vermisste Abgeordneter Herbert Scheibner (B) klare und rasche logistische Entscheidungen im Rahmen der Europäischen Sicherheitspolitik. Dies sehe man insbesondere beim geplanten Einsatz im Tschad, der in Folge eklatanter Koordinierungsdefizite auf europäischer Ebene verschoben werden musste. In einem Antrag auf Stellungnahme fordert das BZÖ daher den Bundeskanzler sowie die Bundesministerin für Europäische und Internationale Angelegenheit auf, sich beim kommenden Rat für klare und rasche logistische Entscheidungen im Sinne einer effizienten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzusetzen, die geeignet ist, die Sicherheit der Soldaten zu gewährleisten. Auch dieser Antrag wurde von den anderen Fraktionen abgelehnt und blieb somit in der Minderheit.

Abgeordnete Ulrike Lunacek (G) äußerte nochmals große Zweifel an der Neutralität des Einsatzes, indem sie auf die Rolle Frankreichs hinwies. Demgegenüber kritisierte Abgeordneter Wolfgang Großruck (V) aus seiner Sicht die von der Opposition geführte Kampagne gegen den Einsatz und betonte, dass dieser von Irland geleitet werde und nicht von Frankreich. Mit großem Nachdruck wies er auf die humanitäre Komponente der Mission hin, die deshalb mehr als gerechtfertigt sei.

Bundeskanzler Alfred Gusenbauer wies die, wie er sagte, Polemik, es handle sich um einen postkolonialen Einsatz Frankreichs, als haltlos zurück. An der Mission beteiligten sich sämtliche allianzfreien und neutralen EU-Staaten und die afrikanischen Anrainerstaaten hätten den Einsatz ausdrücklich begrüßt. Die Mission sei aus humanitären Gründen dringend geboten, sagte er.

Bundesministerin Ursula Plassnik stellte in diesem Zusammenhang klar, dass das in Medien von ihr kolportierte Zitat, wonach die militärische Lage nicht einschätzbar sei, falsch sei. Der Einsatz werde gut vorbereitet und man tue alles, um die Sicherheit der Soldaten zu gewährleisten. (Schluss)