Parlamentskorrespondenz Nr. 206 vom 07.03.2008

Hildegard Burjan - christlich und sozial beim Wort genommen

Ein Leben zwischen Familie, sozialem Engagement, Politik und Kirche

Wien (PK) - Hildegard Burjan wurde am 30. Jänner 1883 in Görlitz an der Neiße (Schlesien) als Tochter von Berta und Abraham Adolph Freund, ein Kaufmann, geboren. Auch wenn die Eltern jüdischer Abstammung waren, fühlte man sich in der Familie eher dem liberalen Humanismus verbunden, und so wuchsen Hildegard und ihre ältere Schwester Alice (geboren 1879) ohne religiöse Erziehung auf. Man führte das Leben einer konservativen Mittelstandsfamilie.

1895 übersiedelte die Familie von Görlitz, wo Hildegard die Grundschule besucht hatte, nach Berlin. Dort ging sie in das Mädchenlyzeum "Charlottenschule". Bereits 1899 zogen die Freunds nach Zürich, da der Vater die Generalvertretung einer deutschen Textilfabrik übernommen hatte. Die schulische Weiterbildung Hildegards erfolgte in der Großmünsterschule in Zürich, am 19. März 1903 maturierte sie schließlich mit Auszeichnung in Basel.

Schon sehr früh war das Wesen Hildegard Burjans vom Suchen nach bleibenden Werten des Daseins geprägt, was sich auch durch idealistische Aufzeichnungen in ihrem Tagebuch belegen lässt.

Die eigenständige Entwicklung Burjans ist bereits aus ihrer Entscheidung abzulesen, ein Studium zu beginnen – für die damalige Zeit, als es noch üblich war, Frauen von Universitäten abzuweisen, ein eher ungewöhnlicher Weg. Sie inskribierte an der Universität Zürich Germanistik, belegte aber auch philosophische Studien. Besonderen Eindruck machten damals auf die junge Studentin die Professoren Friedrich Foerster, ein konfessionsloser, aber christlich geprägter Moralpädagoge, und Robert Saitschik, ein Kulturphilosoph, der sich als einer der ersten öffentlich mit der Philosophie Nietzsches auseinandersetzte und unter anderem eine Schrift über Franz von Assisi verfasst hatte.

Hildegard Burjan ging später für ein Semester nach Berlin, um Sozialpolitik und Nationalökonomie zu studieren, sie vertiefte sich aber auch in Kirchengeschichte und Glaubenslehre. Am 8. Februar 1908 bestand sie die Doktorprüfung an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich in Deutscher Sprache und Literatur als Hauptfach und Angelsächsischer Sprache und Literatur als Zweitfach sowie Psychologie als zweitem Nebenfach. Die Doktorpromotion wurde aber nie rechtskräftig, weil sie auf Grund ihrer schweren Krankheit und der zunächst schwierigen finanziellen Lage kein gedrucktes Pflichtexemplar ihrer Dissertation "Die hauptsächlichsten Verben des Sagens im Gotischen, Altsächsischen und Hochdeutschen" abgeliefert hat.

Hildegard hatte in der Zwischenzeit den Ingenieurstudenten Alexander Burjan geheiratet. Er stammte aus Raab/Györ (Ungarn), war ebenfalls jüdischer Abstammung und konfessionslos. Die Heirat am 2. Mai 1907 erfolgte trotz der Proteste beider Eltern vor dem Standesamt Charlottenburg. Die finanzielle Situation des jungen Ehepaares, das sich in Berlin niederließ, war zunächst nicht rosig. Das geteilte Leben als nunmehrige Ehefrau in Berlin und als Studentin in Zürich war nicht nur ungewöhnlich für damalige Begriffe, sondern aus diesem Grund auch doppelt anstrengend.

Im Oktober 1908 wurde Hildegard Burjan schwer krank. Ein Stein im Harnleiter verursachte enorme Schmerzen und erforderte vier große und mehrere kleine operative Eingriffe. Um die unerträglichen Schmerzen zu lindern, wurde ihr Morphium verabreicht. Die Folge waren sieben Monate Spitalsaufenthalt, der auch die letzten finanziellen Reserven verschlang. Hildegard Burjan rang mit dem Tode. Die Ärzte hatten am Karsamstag 1909 alle Hoffnungen aufgegeben, als sich aus unerklärlichen Gründen am Ostersonntag eine plötzliche Besserung einstellte. Trotz ihrer Genesung blieben die Schmerzen ein lebenslanger Begleiter.

Hildegard Burjan, die sich im St. Hedwigs-Krankenhaus erstmals in katholischer Umgebung befand und vom selbstlosen Wirken der Schwestern beeindruckt war, empfand diese Wendung in ihrem Leben als eine "wunderbare Fügung". Sie ließ sich schließlich am 11. August 1909 taufen, ein Jahr später trat auch ihr Mann zum katholischen Glauben über.

Wien – Weltstadt und soziales Elend

Nachdem ihr Mann Alexander zur Österreichischen Telephonfabrik AG gewechselt war, schlug das Ehepaar im Jahr 1909 schließlich seinen Wohnsitz in Wien auf, wo das Paar auch den Rest seines Lebens verbrachte. Die finanzielle Situation der Familie verbesserte sich auch zusehends, man führte ein Leben in der gehobenen Gesellschaft Wiens. 1910 brachte Hildegard Burjan unter Lebensgefahr ihre Tochter Elisabeth zur Welt. Als fundamentale Gegnerin des von den SozialdemokratInnen geforderten Rechts auf Abtreibung hatte sie den Rat der Ärzte, die Schwangerschaft abzubrechen, nicht befolgt. Das Verhältnis von Mutter und Tochter war immer schwierig, da die Mutter aufgrund des vielfältigen und zeitaufwändigen politischen und sozialen Engagements wenig Zeit für ihr Kind hatte, was auch von enorm schlechtem Gewissen begleitet war. Elisabeth wurde in einem Dominikanerinnenkloster erzogen.

Das Wien Anfang des 20. Jahrhunderts hatte zwei Gesichter. Einerseits war es geprägt vom Flair einer Weltstadt, von kommunaler Modernisierung und kultureller Blüte, andererseits war das Elend der Massen allgegenwärtig. Es fehlte an ausreichenden, leistbaren und menschenwürdigen Wohnungen, viele Familien mussten auf engstem Wohnraum leben und finanzierten ihre Miete mit zusätzlichen so genannten "Bettgehern". Von gerechter Bezahlung für geleistete Arbeit konnte nicht die Rede sein, Frauen dienten als billige Arbeitskräfte in der Ziegelfabrik sowie in der Textil- und Lebensmittelbranche, insbesondere Heimarbeiterinnen wurden ausgebeutet und unterdrückt. Um einen gesetzlich verankerten Arbeiterschutz kümmerte man sich kaum. Krankheiten wie Rachitis und Tuberkulose waren stark verbreitet, ein soziales Auffangnetz für den Fall der Krankheit und Arbeitslosigkeit existierte nicht.

Hildegard Burjan, beeinflusst von der Sozialenzyklika von Papst Leo XIII. "Rerum Novarum" und den Aussagen des Sozialreformers Karl Vogelsang, hatte für all das offene Augen und trat über ihren Taufpriester Pater Rauterkuß in Kontakt mit engagierten katholischen Kreisen. Sie erhielt auch eine Einladung zum Ersten Katholischen Frauentag. Bereits während des Zweiten Katholischen Frauentags hielt sie am 16. April 1914 eine Rede zu Kinderelend und Heimarbeit, in der sie auf die erschreckende Realität und Folgen der Armut und Kinderarbeit einging.

Sie war entschlossen, gegen das Elend etwas zu unternehmen, und wollte dabei das Feld nicht den SozialdemokratInnen allein überlassen. Auch Burjan hatte erkannt, dass es zu wenig war, nur Einzelnen zu helfen. Um die große Not zu lindern, musste man sich auf ganze Gruppen konzentrieren, die, rechtlich gestützt und motiviert, ihr Schicksal dann auch selbst in die Hand nehmen können. Sie wollte also Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. So gründete sie 1912, nachdem sie von Haus zu Haus gegangen war und Heimarbeiterinnen angesprochen hatte, den "Verein der christlichen Heimarbeiterinnen" mit 72 wirklichen Mitgliedern, den betroffenen Bedürftigen, und 50 unterstützenden Mitgliedern, meist Damen der Gesellschaft. Der Verein bot Versicherungen und Unterstützung im Krankheits- und Sterbefall, unentgeltlichen Rechtsschutz bei Uneinigkeit in Bezug auf das Arbeitsverhältnis sowie Arbeitsvermittlung. Mit der Durchsetzung von Mindestlöhnen stellten sich erste Erfolge ein. Für die Mitglieder des Vereins wurde eine unentgeltliche Wöchnerinnenhilfe eingerichtet. Um den Zwischenhandel auszuschalten, bemühte sich Burjan auch um Aufträge von Spitälern und Militärbehörden für die Heimarbeiterinnen.

Besonders wichtig schien ihr ein gut ausgebildeter Mitarbeiterinnenstab zu sein, als einen, wie sie es nannte "Stoßtrupp Gottes". Aber diese Pläne wurden durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen.

Burjan war sich dessen bewusst, dass es vor allem die Frauen sein würden, die bald die Not zu spüren bekommen. Ihre Männer mussten in den Krieg ziehen, vom Staat erhielten die Frauen nur geringe Unterstützung. Burjan regte daher bereits im August 1914, in auffallendem Kontrast zur verbreiteten Kriegsbegeisterung, eine Kirchensammlung für die durch den Krieg in Not Geratenen an. Sie richtete Nähstuben und Heimarbeitsausgabestellen ein, wodurch Frauen bei ihren Kindern zu Hause bleiben konnten und dennoch Arbeit hatten. Das Unternehmen stand unter dem Protektorat der Erzherzogin Marie Valerie, was die Spendenfreudigkeit erhöhte. Um den Andrang der bedürftigen Frauen bewältigen zu können, organisierte Hildegard Burjan Aufträge über die Heeresverwaltung und das Kriegsministerium. Arbeitsräume und Büros wurden kostenlos vom Magistrat zur Verfügung gestellt. Für kränkliche Arbeitnehmerinnen wurde in Wetzelsdorf, Niederösterreich, ein Erholungsheim eingerichtet, und zwei Kinderheime standen für jene Kinder tagsüber offen, deren Mütter außer Haus arbeiten mussten.

Nachdem im Laufe des Krieges viele kleine katholische soziale Vereine entstanden, fasste Burjan diese zusammen und gründete den übergeordneten Verein "Soziale Hilfe". Darin waren mehr als 12.000 Frauen vertreten. Über diesen Verein wurde der Großeinkauf von Lebensmitteln und deren Abgabe über acht Verteilungsstellen an Mitglieder des Vereins organisiert.

Hildegard Burjan nützte auch die Medien für ihr Engagement und verfasste zum Beispiel im Jahr 1917 in der Reichspost einen Artikel über das Elend der Bevölkerung im Erzgebirge. Sie begann nach dem Vorbild der sozialen Initiativen in Wien mit dem Aufbau einer Hilfsaktion für die dort lebenden Menschen durch Arbeitsbeschaffung und Lebensmittelverteilung, wodurch tausende Familien vor dem Hungertod gerettet wurden. Für ihre Verdienste wurde Hildegard Burjan 1917 mit dem Ehrenzeichen II. Klasse vom Roten Kreuz ausgezeichnet.

Politisches Zwischenspiel  

Der Krieg hatte tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zur Folge, insbesondere für Frauen hatte sich die Lebenssituation vollkommen verändert. Hildegard Burjan machte sich daher auch Gedanken über die Situation der Frauen nach dem Krieg und erhob in einem Referat vor katholischen Arbeiterinnen erstmals sozialpolitische Forderungen, wie eine Erhöhung der Zahl der weiblichen Gewerbeinspektorinnen, die Einstellung von Fabriksärztinnen, ungeachtet der Tatsache, dass es kaum welche gab, sowie von Fabrikspflegerinnen, um Mädchen bei Berufsschwierigkeiten beizustehen und sie in geistlicher und sittlicher Beziehung zu führen und zu beraten. Da sie ahnte, dass die Frauen nach der Rückkehr der Männer ihre Stellungen wieder verlieren würden, trat  sie für die Einführung einer Arbeitslosenfürsorge ein, zu deren Finanzierung die Industrie herangezogen werden sollte. Weiters verlangte sie gleichen Lohn für gleiche Arbeit und die Errichtung von Stillstuben, Kinderkrippen und Tagesheimen für Kinder. Auch während des Ersten Christlichen Arbeiterkongresses Österreichs vom 21. bis 23. Sept. 1918 setzte sich Burjan als Stellvertreterin Leopold Kunschaks mit der veränderten Lebenssituation der Frauen auseinander. Sie verwies auf den unzureichenden Arbeitnehmerschutz, die schlechten Arbeitsbedingungen und die ungerechte Lohnpolitik Frauen gegenüber, und sie sprach erstmals auch das Frauenwahlrecht an.

Sowohl bei den Christlichsozialen als auch in der Kirche bröckelte der Widerstand gegen das Frauenwahlrecht, und zwar weniger aus Überzeugung als vielmehr aus Angst, im Wettstreit der Parteien gegenüber den SozialdemokratInnen zu sehr ins Hintertreffen zu gelangen. Ignaz Seipel war denn auch einer der ersten Männer der Kirche, der sich aus politischem Kalkül für eine starke katholische Frauenorganisation einsetzte, die nicht nur karitativ wirken sollte.

Schließlich formierten sich die Vertreterinnen aller großen Frauenorganisationen und beschlossen parteiübergreifend eine Resolution, an deren Formulierung auch Hildegard Burjan mitgearbeitet hatte. Diese zielte auf ein neues Wahlgesetz und die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung für alle ohne Unterschied des Geschlechts ab. Am 12. Nov. 1918 wurde dann von der provisorischen Nationalversammlung die Zuerkennung des aktiven und passiven Wahlrechts für alle volljährigen Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts beschlossen.

Die Christlichsozialen erkannten bald den Wert Hildegard Burjans für ihre Bewegung, und so nahm sie das Angebot des christlichsozialen Bürgermeisters Richard Weiskirchner an, am 3. Dezember 1918 in den provisorischen Gemeinderat als Vertreterin der erwerbstätigen Frauen mit vier weiteren christlichsozialen Frauen, fünf Sozialdemokratinnen und zwei deutschfreiheitlichen Frauen einzuziehen. Dort setzte sie sich besonders für die Fürsorge der verwahrlosten Jugend sowie für die bessere Dotierung der Hauskrankenpflege und der Pflege der Wöchnerinnen ein. Am 5. Dezember 1918 wurde sie als Stellvertreterin von Parteiobmann Leopold Kunschak in das Wiener Parteigremium gewählt. Bald darauf trat man an sie heran, am 16. Februar 1919 bei den Wahlen für die konstituierende deutsch-österreichische Nationalversammlung zu kandidieren. Wie sehr um die Stimmen der Frauen, die 54,91% der Wahlberechtigten stellten, gekämpft wurde, zeigte sich daran, dass sich die Parteileitung an Kardinal Friedrich Gustav Piffl wandte, der nach Rückfrage in Rom Weisung an die Klostervorstehungen gab, dass wahlberechtigte Klosterfrauen sich zur Stimmabgabe ins Wahllokal begeben dürfen.

Hildegard Burjan führte einen kräfteraubenden Wahlkampf. Er bedeutete eine zusätzliche Schwächung ihres ohnehin stark angeschlagenen Gesundheitszustands, und auch die ersten Anzeichen von Diabetes machten sich bemerkbar. Burjan erhielt ein Mandat und war somit neben sieben Sozialdemokratinnen eine der ersten Frauen im bisher den Männern vorbehaltenen Parlament. Die Angelobung Burjans fand jedoch wegen ihrer Krankheit nicht am 4. März, sondern erst am 12. März 1919 statt.

Die Schwerpunkte ihrer parlamentarischen Tätigkeit lagen im Bereich der sozialen Fürsorge, im Erziehungswesen, insbesondere jenem der Mädchenbildung, und in der Vertretung der Fraueninteressen. Gleich am Tag der Angelobung brachte sie einen Antrag betreffend Mutter- und Säuglingsschutz ein. Sie forderte darüber hinaus die Errichtung von land- und hauswirtschaftlichen Schulen für Mädchen und setzte sich insbesondere für die Hausgehilfinnen ein. Diese standen ohne rechtliche Absicherung da und waren der Laune ihrer Herrschaft völlig ausgeliefert. Unter den Heimarbeiterinnen war auch die höchste Selbstmordrate zu verzeichnen. Burjan machte sich mit dieser Initiative in den eigenen Reihen nicht nur Freunde und die SozialdemokratInnen hätten diesen Berufsstand am liebsten aufgelöst. Ungeregelt blieben Kranken-, Alters- und Invaliditätsversorgung. Erst 1925 kam es nach Intervention Burjans unter der Regierung Seipel wenigstens zu einer Alters- und Fürsorgerente für Frauen dieses Berufsstands.

Große ideologische Unterschiede zwischen den Parteien ließen die Koalition von Sozialdemokratinnen und Christlichsozialen jedoch bald zerbrechen. Für 17. Oktober 1920 wurden Neuwahlen ausgeschrieben und Hildegard Burjan wurde, sollten die Christlichsozialen die Mehrheit gewinnen, bereits als Sozialministerin genannt. Umso größer war dann die Überraschung, als sie bei der Parteileitung ankündigte, nicht mehr zu kandidieren. Als Gründe dafür nannte sie die Familie, für die sie kaum Zeit hatte, ihren schlechter werdenden Gesundheitszustand und den Klubzwang, dem sie sich nur schwer unterordnen konnte und wollte. Eine nicht unwesentliche Rolle für ihre Entscheidung spielten sicherlich auch die zunehmend antisemitischen Strömungen in ihrer Partei, unter denen sie als Jüdin litt. Sie wollte insbesondere Ignaz Seipel, mit dem sie sehr befreundet war, wegen ihrer jüdischen Abstammung nicht schaden. Außerdem wollte sie sich mehr ihrem Projekt der Schwesterngemeinschaft Caritas Socialis widmen.

Die Gründung der Caritas Socialis

Die Erfahrungen mit der Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der Not vor und während des Krieges machten deutlich, dass eine zielorientierte und erfolgreiche soziale Tätigkeit gut ausgebildeter Kräfte vonnöten war, die jedoch keineswegs lebensfremd sein durften. Hildegard Burjan hatte sich daher schon vor dem Krieg mit dem Gedanken getragen, eine Schwesterngemeinschaft zu gründen, die auf sozialem Gebiet tätig ist. Im Frühjahr 1913 wandte sie sich mit dieser Idee an den neuen Erzbischof von Wien, Friedrich Gustav Piffl, der ihr seine Unterstützung zusagte und dieses Versprechen auch tatkräftig einlöste. Er verteidigte sie auch gegen Anfeindungen innerhalb katholischer Kreise, die sich insbesondere daran stießen, dass sie Konvertitin war und ihr Mann eine hohe Funktion in der Wirtschaft einnahm. Als sie nach der Gründung der Caritas Socialis das Amt der Vorsteherin übernahm, wurde aus eben diesen Gruppen Kritik laut, dass eine verheiratete Frau und Mutter an der Spitze einer religiösen Gemeinschaft stand. Die zweite große Stütze fand sie in der Person von Bundeskanzler und Außenminister Ignaz Seipel, der beim Aufbau der Caritas Socialis ebenfalls ein wichtiger politischer, aber auch geistlicher Wegbegleiter wurde und mit der Familie Burjan engen freundschaftlichen Kontakt pflegte.

Einen Anstoß, das Projekt einer Gemeinschaft von Schwestern, eines "Stoßtrupps Gottes", wieder aufzunehmen, gab Erzbischof Piffl selbst. Anlässlich der Spendung des Sakraments der Firmung an von der Polizei aufgegriffene, geschlechtskranke Mädchen im Meidlinger Asylspital, wurde ihm bewusst, dass die Mädchen dort zwar medizinisch behandelt wurden, ansonsten aber sich selbst überlassen blieben. Da ihm diese seelische Verwahrlosung und Ausweglosigkeit der Situation nahe ging, wandte er sich an Hildegard Burjan mit der Bitte, sich etwas einfallen zu lassen. Mit großem Einsatz und Überredungskünsten gegenüber den skeptischen Beamten im Ministerium für soziale Verwaltung gelang es ihr, eine Subvention für die Renovierung eines Hauses in der Hütteldorferstraße zu bekommen. Ein halbes Jahr später fand die Einweihung eines "Heimes für sittlich Entgleiste" statt.

Burjan verfolgte ihren Plan zielstrebig und gewann auch Seipel dafür. Sie arbeitete Richtlinien aus, und man kam überein, die neue Gemeinschaft "Caritas Socialis" zu nennen. Leitmotiv sollte das Paulus-Wort sein: Caritas Christi urget nos – die Liebe Christi drängt uns. Bereits am 24. Oktober 1918 wurden in der Kapelle des Carolineums in der Arbeitergasse 26, im 5. Bezirk, erste Schritte zur Gründung des Vereins gesetzt. 50 Frauen, die bereits soziale Arbeit geleistet hatten, schlossen sich zunächst in einer, wie von Seipel gewünscht, losen Gemeinschaft von sozial interessierten Menschen zusammen. Hildegard Burjan dagegen wollte zwar keinen neuen Orden gründen, ihr schwebte aber eine religiöse Schwesternschaft vor, die nicht durch klösterliche Vorschriften und starre Regeln eingeengt wurde. Die Gemeinschaft musste flexibel bleiben und die Frauen durften nicht lebensfremd sein. Der Einsatz aber, der verlangt wurde, erforderte, so die Überzeugung Burjans, den ganzen Menschen, weshalb ihr die von Seipel favorisierte Form zu wenig war.

Burjan verfolgte ihre Idee beharrlich und schließlich wurden am 4. Oktober 1919 32 neue Mitglieder aufgenommen, zehn davon als erste "interne Schwestern", sozusagen als Kerntruppe. Das war die eigentliche Geburtsstunde der Caritas Socialis. Aus der Hand des Erzbischofs erhielt jede Schwester ein geweihtes Abzeichen, das ein weißes Kreuz auf blauem Grund, in der Mitte die Goldlettern CS, zeigt. Die gemeinsame Tracht für die internen Schwestern ist blau. Das Stammhaus befindet sich in der Pramergasse 9, im 9. Wiener Bezirk. Im Jahr 1922 wurde es schließlich den Schwestern erlaubt, bei ihrer Aufnahme das Versprechen abzulegen, in Gehorsam, Armut und Ehelosigkeit zu leben.

Diese Teilung in einen internen und einen externen Kreis ist noch heute gültig. Die Kerngruppe lebt in Gemeinschaft und ist für die nötigen sozialen Einsätze jeweils verfügbar. Dem Säkularkreis gehören zwar derzeit nur Frauen an, aber man denkt laut Information auf der Homepage auch daran, in Zukunft Männer und Ehepaare einzubinden. Die Gemeinschaft hat heute Stützpunkte auch in München, Bozen und Guarapauava (Brasilien).

Die Caritas Socialis (CS) steht in keinem institutionellen Zusammenhang mit der Caritas der Erzdiözese Wien. Neben spezialisierten Angeboten in der stationären Lang- und Kurzzeitpflege betreibt die CS das Hospiz Rennweg sowie Tageszentren. Weitere Angebote betreffen Betreuung zu Hause, betreutes Wohnen und mobiles Hospiz. Zusätzlich betreibt die CS Kindergärten, Hilfs- und Beratungseinrichtungen sowie ein Wohnheim für Mutter und Kind.

Voller Einsatz für die Caritas Socialis

Nach dem Ausscheiden aus dem Parlament widmete sich Hildegard Burjan ganz der Caritas Socialis und stand vor allem den Schwestern bei der Erfüllung ihrer schwierigen Aufgaben bei. Briefe bezeugen, welchen Anteil sie an der persönlichen und familiären Situation der Schwestern nahm.

Die Caritas Socialis wurde bald auch von den staatlichen Stellen geschätzt, insbesondere auf dem Gebiet der Jugendfürsorge und Gefährdetenfürsorge, wobei es sich als günstig erwies, dass die Caritas Socialis kein Orden war. Denn man beschränkte sich nicht auf Heimaufbewahrung, sondern war um individuelle und persönliche Betreuung bemüht. Bald wurden trotz einiger Widerstände Schwestern nach Klosterneuburg entsendet, wo man geschlechtskranke Frauen, Prostituierte und junge Mädchen behandelte und ihnen darüber hinausgehende Betreuung anbot, um aus dem Milieu herauszukommen. Die Betroffenen kamen dann ins Nachfürsorgeheim in der Hütteldorferstraße, dann später in ein neues in Eßling, für das Burjan direkt vom Papst Mittel zur Renovierung erfolgreich erbeten hatte. Die Mädchen erhielten dort hauswirtschaftliche Bildung und wurden persönlich und religiös betreut. In der Hütteldorferstraße wurden Räume für ledige Mütter bereitgestellt. Die Schwestern halfen in der Zeit des Aufenthalts den Frauen, ihre Verhältnisse zu ordnen. Die Kritik aus frommen Kreisen, man fördere damit die Unmoral, ließ selbstverständlich nicht lange auf sich warten.

Im so genannten Mackschlössl in Kalksburg richtete die Caritas Socialis eine Kinderkrippe für Kinder zwischen zwei Monaten und fünf Jahren ein. Auf Bitte des Polizeipräsidenten Schober übernahmen CS-Schwestern auch die Leitung eines Polizei-Jugendheimes. CS-Schwestern wurden auch nach Pyrawarth in das Heim für psychopathische Mädchen gerufen sowie nach Purkersdorf in das Heim für schwererziehbare Buben.

Es folgte dann auch die Gründung eines Komitees für Mädchenschutz, dem sich 15 katholische Vereine anschlossen, und das Anlaufstellen auf Bahnhöfen errichteten, die so genannte Bahnhofsmission. Damit wollte man vor allem Mädchen vom Land, die in der Stadt eine Stellung suchten, vor Zuhältern und Keilern für internationalen Mädchenhandel schützen. Man organisierte für sie Unterkünfte in der Pramergasse, im Währinger Pfarrhof und in der Klementinengasse. Man gewährte auch Hilfe bei der Arbeitssuche, bei Behörden etc. Die Bahnhofsmission wurde vom Hitlerregime verboten, nach dem 2. Weltkrieg von den CS-Schwestern aber wieder aufgebaut. Hildegard Burjan organisierte nach großen Widerständen im Polizeipräsidium auch Schlafstellen für obdachlose Frauen.

Nicht durchgekommen ist sie mit ihrer Idee der "Familienpflege". Danach sollten speziell geschulte Helferinnen Müttern beistehen, wenn diese durch Geburt eines Kindes, durch Krankheit oder in einer anderen schwierigen Situation ihren Familienaufgaben nicht nachkommen konnten. Sie wurde aber in die Tschechoslowakei gerufen, wo sie eine Familienpflege aufbaute. Es kamen auch Bitten aus München und Berlin. Weitere Aktionen betrafen den St. Elisabeth-Tisch, eine Ausspeisungsstätte für Arme, bald gab es davon 26 Stellen. Erweitert wurde diese Aktion durch die St. Elisabeth-Lesestuben, wo sich frierende Menschen im strengen Winter bei Kaffee und Gebäck und guter Lektüre aufwärmen konnten. Seitens der Wiener Gesellschaft wurde es sogar als schick betrachtet, mitzuhelfen.

Ein Jahr vor ihrem Tod verlor Hildegard Burjan zwei ihrer treuesten Wegbegleiter. Kardinal Piffl starb am 21. April 1932, ihm folgte Ignaz Seipel am 2. August 1932. Selbst schon schwer krank, plante Hildegard Burjan, Seipel zu Ehren eine Kirche mit angeschlossenem Seelsorge- und Fürsorgezentrum in einem Arbeiterviertel zu bauen. Um das Projekt verwirklichen zu können, setzte sie alle Hebel in Bewegung. Sie trieb Geld mittels einer Lotterie auf und erwirkte eine zusätzliche kirchliche Sonntagssammlung. Bei Bürgermeister Seitz erreichte sie die Erlaubnis, eine Haussammlung in Wien durchführen zu dürfen. Auf Seitz hagelte es daraufhin massive Kritik aus den eigenen Reihen. Burjan organisierte weiters eine Seipel-Matinee an der Staatsoper. Als Bauplatz wurde ein Grundstück im 15. Bezirk, am Vogelweidplatz, auserkoren. Der Bauplatz war kostenlos, da er testamentarisch mit einem Servitut, dass nämlich dort eine Kirche erbaut werden müsse, belegt war. Als Architekt fungierte nach einer Ausschreibung Clemens Holzmeister, der mit diesem Bau Maßstäbe im modernen Kirchenbau setzte. Im Vorfeld löste das Modell jedoch große Kontroversen aus und wurde mit dem Spitznamen "Paternoster-Garage" belegt. Hildegard Burjan war jedoch entschlossen, den modernen Bau durchzuführen und holte sich sogar persönlich die Zustimmung dafür in Rom bei Kardinalstaatsekretär Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. Für kurze Zeit beherbergte die Krypta der Kirche die sterblichen Überreste von Bundeskanzler Ignaz Seipel sowie von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß.

Bei der Grundsteinlegung für die Kirche am 30. Juli 1933 war Hildegard Burjan schon tot. Sie starb am 11. Juni 1933.

(Siehe auch PK Nr. 205 /2008 und 207 /2008)

Verwendete Literatur:

Bosmans, Louis: Hildegard Burjan. Leben und Werk. Veröffentlichungen des Kirchenhistorischen Instituts der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Band 16 (Hrsg. Franz Loidl). Wiener Dom-Verlag, Wien 1973

Burjan-Domanig, Irmgard: Hildegard Burjan. Eine Frau der sozialen Tat. Otto Müller Verlag, Salzburg 1950

Schödl, Ingeborg: Männerwelten - Frauenwerke. Hildegard Burjans Vermächtnis an Politik und Kirche. Edition Tau, Bad Sauerbrunn 1991

Was im Leben zählt. Spirituelle Impulse von Hildegard Burjan. Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien, 2006

(Fortsetzung)