Parlamentskorrespondenz Nr. 392 vom 05.05.2008

Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Parlament

Das Thema: Kindheit und Jugend unter nazistischer Gewaltherrschaft

Wien (PK) - Aus Anlass der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen Anfang Mai 1945 gedachten die beiden Häuser des Parlaments heute in Anwesenheit von Bundespräsident Heinz Fischer, Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und Vizekanzler Wilhelm Molterer sowie hochrangiger Persönlichkeiten des In- und Auslands der Opfer des Nationalsozialismus. Es sei "eine Frage der Gerechtigkeit, der Geschehnisse von damals zu gedenken und den Menschen beizustehen, die mit der Erinnerung an ihre schrecklichen Erfahrungen leben müssen", sagte Bundesratspräsident Helmut Kritzinger (Wortlaut der Rede siehe PK Nr. 393) an Holocaust- Überlebende, die der Präsident im Reichsratssitzungssaal willkommen hieß. "Gewalt und Rassismus" seien, so Kritzinger weiter, nicht Phänomene der Vergangenheit, sondern tägliche Herausforderung, "gegen die wir mit gemeinsamer Kraft anzutreten haben". 

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer unterstrich in ihrer Ansprache (Wortlaut siehe PK Nr. 394) das Ziel der Gedenkveranstaltung, die Erinnerung in immer neuen Ausdrucksformen lebendig zu erhalten und allen Versuchen eines "Schlussstrichs" entgegenzutreten. Dabei weise die Kunst einen möglichen Weg, wobei die Nationalratspräsidentin Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung" nannte, der beschreibe, was geschehen sei, um wahrnehmen zu lassen, was in der Welt ist und was im Leben von vielen Menschen geblieben ist, auch nachdem das Regime des Nationalsozialismus zu Ende gegangen ist. "Denn Kindheit lässt sich weder nachholen, noch lässt sie sich einfach fortsetzen, so als wäre nichts gewesen".

Der Titel der diesjährigen Gedenkveranstaltung lautete "War nie Kind". Kinder in den Vernichtungslagern, die Opfer des Kinder-Euthanasie-Programms, Kinder und Jugendliche, die in Verstecken oder im ausländischen Exil überlebten, standen im Mittelpunkt des Gedenkens.

Memento 

Im abgedunkelten Saal wurden zunächst die Namen von in Auschwitz ermordeten Kindern weiß auf einer schwarzen Projektionsfläche sichtbar gemacht. Begleitet von der Musik Brian Enos ließ die Computeranimation "Memento" von Zachary Lieberman und dem Ars Electronica Center Linz die Namenszüge der Kinder erscheinen und, unvergesslich für die Teilnehmer der Veranstaltung, im Dunkel verschwinden - Symbol für die Vernichtung der Kinder und für den Versuch, eine ganze Kultur auszulöschen, wie Moderatorin Sandra Kreisler erklärte. 

Dann lasen Hilde Sochor, Katharina Stemberger, Jakob Seeböck und Peter Wolsdorff aus Lebensgeschichten von Betroffenen und aus Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung". Texte und Literatur waren vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und vor der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ausgewählt worden.

Für den musikalischen Teil der Gedenkstunde sorgte das Jugendorchester der Werkskapelle Laufen unter der Leitung von Christa Schindlauer. Zu hören waren Ernst Kreneks "Lustiger Marsch", die "Humoreske" von Walter Arlen und Hans Gáls "Ländler aus der Promenadenmusik für Blasorchester". Die Bearbeitung der von Gerold W. Gruber ausgewählten Musikstücke stammte von Lukas Haselböck. Die Komponisten zählten zu den Vertriebenen des Nazi-Regimes. Den anwesenden Walter Arlen begrüßte Bundesratspräsident Kritzinger "mit großer Hochachtung".

Kindheit im Holocaust - lebenslanger Albtraum

Schon im April 1938 lernte der damals zehnjährige Wiener Erich Richard Finches die Nazi-Gewalt kennen. Als Jude aus der Schule geworfen, beschimpft und verprügelt von HJ-Burschen und Polizisten, erlebte Finches den Abtransport des Vaters nach Dachau mit. Nach Arbeitslager, Flucht, "U-Boot"-Existenz in Wien, Festnahme und neuerlicher Flucht, diesmal nach Ungarn, wurde der Bub nach Auschwitz und Dachau verbracht. "Ich leide an schweren Körperbehinderungen aus dieser Zeit. Was ich als Kind erlebt habe, ist für mich heute noch ein Albtraum", heißt es in Finches Brief an den Nationalfonds.

Leben im Versteck  

Lucia Johanna Heilman zuckt noch heute zusammen, wenn die Türklingel oder das Telefon läutet. Die Jüdin (geboren 1929) musste sich in den Jahren des Holocaust mit ihrer Mutter in einem drei Quadratmeter großen Verschlag einer Wiener Werkstätte versteckt halten.

Krank vor Todesangst 

Herr K. (geboren 1936 in Wien) entging 1942 einem Juden-Transport nach Auschwitz nur durch Zufall. Das Bewusstsein der Todesgefahr, die Schikanen von Nachbarn, Mitschülern und der nationalsozialistischen Lehrerin verursachten Schlaflosigkeit, Angstzustände und eine Nervenkrankheit, von der Herr K. bis heute nie gänzlich geheilt werden konnte.

Am Spiegelgrund

Das 1934 geborene Wiener Findelkind Ingeborg Dürnecker wurde nach einem Aufenthalt bei lieblosen Pflegeeltern 1941 im "Kinder-KZ" Spiegelgrund interniert, wo das Mädchen unter Kälte, Hunger und Schlägen litt. Sie musste ihr Gesicht in der Klomuschel waschen, wurde mit eiskaltem Wasser gequält, schluckte unzählige Tabletten und erhielt Speiinjektionen. "Mir hat man keine Häuser oder Schmuck genommen, sondern 62 Jahre meines Lebens", klagt Ingeborg Dürnecker.

Flucht in den Tod

"Geh und horch auf den Flur hinaus!" ... "Gib mir das Glas" ... "Wenn sie jetzt kommen, öffne die Tür, sei höflich, sprich nichts und lass alles geschehen. - "Sie werden dich aus dem Bett zerren, Großmutter", sagte Ellen. - "Meine Knochen, mich nicht!" – Die Flucht in den Tod aus Angst vor einer vermeintlich drohenden Verhaftung behandelt eine Textstelle aus Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung", in der das Verhalten und die Gefühle eines Mädchen beschrieben werden, das den Selbstmord seiner Großmutter miterleben muss.

Not im Exil

Frau Susanne Doris Hochhauser (geboren 1933) wurde 1939 mit ihrer jüdischen Familie aus Wien vertrieben und wuchs nach einer abenteuerlichen Flucht in einem bolivianischen Elendsquartier nahe Cochabamba in bitterer Armut auf.

Sprachlos 

Die Bauerntochter Emma Urschitz (geboren 1931 in Remschenik) erhielt nach dem Verbot des Slowenischen in der Schule Schläge für jedes Wort in ihrer Muttersprache und erlebte den Terror deutscher Soldaten, die auf dem elterlichen Hof Lebensmittel requirierten. Als SS-Männer Partisanen an Ort und Stelle hinrichteten, musste das Mädchen beobachten, wie aus dem Bauch der Erschossenen die Milch rann, die die Männer in der Küche ihrer Mutter getrunken hatten.

Leiden bis heute 

Herr Andreas H. kam 1942 im "Zigeunerlager Lackenbach" zur Welt, wurde also "mitten in den Holocaust hineingeboren". Er aß als Kleinkind vor Hunger Exkremente, litt an Typhus und Ruhr und entging nur knapp dem Tod, als die SS das Lager in der Karwoche 1945 sprengte. "Noch heute laboriere ich als Erwachsener an den mir damals zugezogenen seelischen und körperlichen Leiden", schreibt Herr H. Seine Bitte an die Leser und Hörer verlas Moderatorin Sandra Kreisler als Schlusswort der Gedenkveranstaltung:

"Ich ersuche Sie, über das Leid, das Menschen während des Holocaust zugefügt wurde, egal welcher Nation oder Gruppe zugehörig, nicht einfach hinweg zu hören, sondern nachzudenken und persönlich, soweit wie möglich, mitzuhelfen, derartiges Leid zu verhindern".

HINWEIS: Fotos von der Gedenkveranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at

(Schluss Gedenkveranstaltung/Forts. Wortlaut der Reden)