Parlamentskorrespondenz Nr. 394 vom 05.05.2008

Prammer: Allen Versuchen eines Schlussstrichs entgegentreten!

Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung

Wien (PK) – Wir bringen im Folgenden die Ansprache von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 5. Mai im Parlament im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Sehr geehrter Herr Vizekanzler!

Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Das Jahr 2008 ist durch die Erinnerung an Ereignisse gekennzeichnet, die Staat und Verfassung, die die Politik und die Gesellschaft Österreichs geprägt haben und bis heute prägen.

Der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus fordert uns heraus, konkret zu werden. Er fordert uns heraus, nach den Menschen zu fragen, denen Gewalt und Leid zugefügt wurde, deren Leben dadurch geprägt wurde und noch heute geprägt wird.

Die Namen, die eben zu sehen waren, sind die Namen von Kindern, die nicht vergessen werden wollen. Am heutigen Gedenktag wollen wir versuchen, uns mit den Verbrechen des Nationalsozialismus aus der Perspektive der jüngsten Opfer zu befassen.

Die Ausschnitte aus den Lebensgeschichten, die wir heute hören, eröffnen uns einen unmittelbaren Blick auf das, was geschehen ist. Sie zeigen, was Kind sein unter nationalsozialistischer Herrschaft bedeuten konnte, bis hin zu tödlicher Verfolgung.

Die Verfolgung hatte viele Gesichter und jedes Schicksal war einzigartig. Die Auswahl der Texte ist ein Versuch, diese Vielfalt widerzuspiegeln. Obwohl vielen dieser Menschen das Erzählen schwer fiel – zu oft wurden böse Erinnerungen wachgerufen, wurde das Erlittene noch einmal durchlebt – so haben sie dennoch ihre Erinnerungen mit uns geteilt.

Unsere Anerkennung gilt den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mit ihrer Bereitschaft entscheidend zur Bildung eines kritischen Bewusstseins bei der heutigen und bei künftigen Generationen beitragen.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Lebensrealität vieler Kinder während des Nationalsozialismus war keine einfache. Sie war bestimmt von autoritären Erziehungssystemen, von Anpassungszwang, von Mangel, Verrohung und letztlich von Krieg. Für viele Kinder aber bedeutete der Nationalsozialismus Ausschluss aus der Gesellschaft, Vertreibung und tödliche Verfolgung.

Lange wurden die Fragen nach dem Kindsein im Nationalsozialismus wenig gestellt.

Das wirkt unbegreiflich angesichts der Tatsache, dass eineinhalb Millionen jüdische Kinder umgebracht wurden, dass unzählige Kinder wegen Krankheit, Behinderung oder einfach nur wegen ihres Verhaltens eingesperrt, gequält und getötet wurden. Das wirkt unbegreiflich, angesichts des Verlusts aller sozialen Netze, den so viele Kinder erfahren mussten – plötzlich getrennt von Eltern, Geschwistern, Freunden. Das wirkt unbegreiflich, angesichts der Nazi-Verbrechen gegen die Kinder und angesichts der gesellschaftlichen Ächtung, die so viele von Ihnen auch danach erfahren mussten – weil sie Jüdinnen und Juden, Roma oder Sinti, weil sie Sloweninnen und Slowenen waren, weil ihre Eltern politisch verfolgt wurden, weil ihre Eltern den Mut gehabt haben, gegen das Regime zu kämpfen.

Dies wirkt unbegreiflich und wird erst vor dem Hintergrund des österreichischen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verständlich.

Erst spät hat ein offener Umgang mit der Geschichte Platz gegriffen. Vieles davon kann auf Debatten vergangener Jahrzehnte und auf internationales Einfordern von Verantwortungsübernahme zurückgeführt werden. Vieles davon auf die Bildungsarbeit der Zeitgeschichte und das Engagement von Einzelnen wie Gruppen, insbesondere wieder der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

Dieser offenere Umgang mit der Geschichte spiegelt sich auch in den Entscheidungen des Nationalfonds wider.

Erlauben Sie mir ein Beispiel anzuführen:

Ursprünglich wurden jene Kärntner Sloweninnen und Slowenen als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, welche so genannter direkter Verfolgung, etwa durch Haft oder im Konzentrationslager, ausgesetzt waren. Entsprechend der historischen Realität, wurden im Lauf der Jahre weitere Personengruppen als Opfer anerkannt: Die Partisaninnen und Partisanen; später deren Kinder, die oft einer besonderen Gefährdung ausgesetzt waren; und letztlich slowenische Kinder, viele immer noch unter traumatischen Kindheitserlebnissen leidend.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Auseinandersetzung damit, was zu Stellung und Macht des Nationalsozialismus geführt hat, sollte gerade auch von uns Politikerinnen und Politikern immer wieder geführt werden.

In den vergangenen Monaten hat das Projekt erinnern.at des Unterrichtsministeriums und der Volkshochschule Hietzing Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats und der Landtage, ebenso wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in ganz Österreich über Gedenken und Erinnern heute befragt. Die Auswertung dieser Umfrage zeigt, dass für viele von ihnen Gedenken und Erinnern eine große Bedeutung haben, dass sie es für sehr wichtig erachten. Zugleich wird aber zugegeben, dass es nicht immer einfach ist, die entsprechenden Formen zu finden. Und ebenso wird freimütig zugegeben, dass sehr oft auch das Wissen über die Geschichte und der Umgang damit fehlt.

Umso wichtiger erscheinen mir die Aufzeichnungen von Lebensgeschichten, in denen die Zeit des Nationalsozialismus aus der Perspektive der Opfer dokumentiert wird.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Der Gedenktag im Parlament unterbricht die Routinen dieses Hauses. In den vergangenen Jahren haben die Veranstaltungen aus Anlass des Gedenktags an Breite und Tiefe gewonnen.

Heuer hat erstmals auch eine Matinee stattgefunden, die das Parlament gestern gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und dem Volkstheater durchgeführt hat.

Im Anschluss an diese Gedenksitzung wird auch eine große Veranstaltung am Heldenplatz stattfinden. Neben Schülerinnen und Schülern aus ganz Österreich werden auf Einladung von "A LETTER TO THE STARS" österreichische Überlebende des Holocaust aus aller Welt daran teilnehmen. Sie, meine Damen und Herren, sind heute auch unsere Gäste und ich möchte Sie nochmals ganz herzlich begrüßen.

Die vielen Veranstaltungen der österreichischen Gedenkkultur haben das Ziel, die Erinnerung lebendig zu erhalten, ihr immer neue Ausdrucksformen zu geben und allen Versuchen eines Schlussstrichs entgegenzutreten.

Einen der möglichen Wege kann die Kunst weisen. Die Passage aus Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung" zeigt einen solchen Weg auf – zu beschreiben, was geschehen ist, wahrzunehmen, was in der Welt ist und was in der Welt, im Leben von vielen Menschen geblieben ist, nachdem das Regime des Nationalsozialismus zu Ende gegangen ist. Denn Kindheit lässt sich nicht nachholen, noch lässt sie sich einfach fortsetzen, so als wäre nichts gewesen.

Eine weitere Form der Auseinandersetzung mit und der Weitergabe von Erfahrungen ist die Musik. Ich freue mich sehr, dass die jungen Musikerinnen und Musiker der Werkskapelle Laufen heute diese Sitzung so würdevoll gestalten.

Liebe Musikerinnen und Musiker!

Ich durfte Euch bei einer Probe kennenlernen, und habe erlebt, wie ihr den Komponisten Walter Arlen getroffen und ihn und seine Musik kennengelernt habt. Ich freue mich, dass Herr Arlen heute unter uns ist, auch ich begrüße ihn noch einmal sehr herzlich.

Liebe Musikerinnen und Musiker! Ihr seid für mich ein Beispiel dafür, was dieser Gedenktag möglich macht, und auf welch vielfältige Weise die Aufforderung, niemals zu vergessen, heute weitergetragen werden kann.

Meine Damen und Herren!

Erlauben sie mir zum Abschluss ein persönliches Wort: Ich habe selbst während meines Studiums eine Arbeit über Kinder in Konzentrationslagern geschrieben, und zwar zu einem Zeitpunkt, als ich selbst bereits Mutter meiner beiden Kinder war.

Diese intensive Erfahrung hat mich bestärkt in meinem Bemühen, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, wie wichtig die Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Themen ist. Wie wichtig es ist, nicht wegzusehen. Das ist eine unerlässliche Voraussetzung dafür, um Gewalt und Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde, um aufkeimenden Antisemitismus und Rassismus zu erkennen und dagegen aufzutreten.

Ich danke Ihnen.

(Schluss)