Parlamentskorrespondenz Nr. 601 vom 19.06.2008

Verfassungsausschuss befasst sich mit Arbeit der Höchstgerichte

VfGH-Präsident rechnet mit bis zu 2.000 zusätzlichen Beschwerdefällen

Wien (PK) – Der neue VfGH-Präsident Gerhart Holzinger befürchtet, dass sich die Beschwerdefälle beim Verfassungsgerichtshof aufgrund der Einrichtung des Asylgerichtshofs mit 1. Juli 2008 beinahe verdoppeln könnten. Zu den derzeit 2.000 bis 3.000 Beschwerdefällen, die jährlich beim Verfassungsgerichtshof anfallen, könnten künftig bis zu 2.000 Asylfälle kommen. Das erklärte er im Rahmen einer Sitzung des Verfassungsausschusses des Nationalrats, bei der die Tätigkeitsberichte des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) und des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH) 2005 und 2006 zur Diskussion standen. Der Gerichtshof habe sich auf die neue Situation vorbereitet, sagte Holzinger, dennoch könnte es zu Problemen kommen.

Eine Beurteilung über die Konstruktion des Asylgerichtshofs wollte Holzinger nicht abgeben. Es sei müßig, über vergossene Milch zu sprechen, sagte er, gestand aber ein, dass ihm eine andere Lösung unter Einbindung des Verwaltungsgerichtshofs lieber gewesen wäre.

Deutlicher äußerte sich VwGH-Präsident Clemens Jabloner. Er begrüßte auf der einen Seite zwar die Entlastung des Verwaltungsgerichtshofs durch die Einrichtung eines Asylgerichtshofs, verwies aber gleichzeitig darauf, dass dadurch der Rechtsschutz für die Betroffenen eingeschränkt werde. Jabloner appellierte an die Abgeordneten, den Asylgerichtshof nicht zum Vorbild für die geplanten Verwaltungsgerichte erster Instanz zu nehmen, und warnte in diesem Zusammenhang vor einem Zerfall der österreichischen Rechtsordnung. Die Anrufbarkeit des Verwaltungsgerichtshofs für die rechtsuchende Bevölkerung dürfe, so der VwGH-Präsident, nicht verloren gehen. Zudem verwies er auf die Bedeutung einer einheitlichen Rechtssprechung.

Wie dramatisch die Belastungssituation am Verwaltungsgerichtshof derzeit ist, demonstrierte Jabloner anhand aktueller Zahlen. Demnach sind die Rückstände am VwGH zuletzt auf mehr als 11.000 Rechtssachen angewachsen. Das nicht zuletzt deshalb, weil im Jahr 2007 gleich um 32 % mehr Fälle als 2006 an den Verwaltungsgerichtshof herangetragen wurden. 40 % der Rückstände betreffen Jabloner zufolge offene Asylfälle, dazu kommen als weiterer großer Brocken rund 1.300 Fälle aus dem allgemeinen Fremden- und Aufenthaltsrecht. Es gebe immer mehr Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen unangemessen langer Verfahrensdauer, erklärte der VwGH-Präsident.

Die Situation könnte sich allerdings, wie Jabloner ausführte, in den nächsten Jahren entschärfen. Ihm zufolge müsste es durch den Wegfall der Asylfälle gelingen, die derzeitigen Rückstände bis zum Jahr 2010 aufzuarbeiten. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Fremdenrechtsfälle nicht weiter zunehmen und im Asylbereich tatsächlich die erwartete Entlastung eintrete.

Seitens der Abgeordneten wies Zweiter Nationalratspräsident Michael Spindelegger (V) auf Personalaufstockungen im VfGH und im VwGH hin. Zudem zeigte er sich zuversichtlich, dass der Verfassungsgerichtshof die Asylsachen, die in Zukunft an ihn herangetragen werden, wegen ähnlicher Rechtsfragen oftmals einer "Pauschalerledigung" zuführen werde können. Was die geplante Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz betrifft, ist man Spindelegger zufolge "stark im Finale".

Abgeordneter Peter Fichtenbauer (F) betonte, der Reformbedarf bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei offenkundig. Der VwGH habe schon seit vielen Jahren mit Rückständen zu kämpfen, konstatierte er. Fichtenbauer schlug vor, keine Verwaltungsgerichte erster Instanz in den Ländern, sondern stattdessen Landessenate im Verwaltungsgerichtshof selbst einzurichten. Ein solcher Schritt könnte seiner Meinung nach rasch umgesetzt werden, da keine zusätzliche aufwändige Infrastruktur benötigt würde.

Dritte Nationalratspräsidentin Eva Glawischnig-Piesczek (G) sprach in Zusammenhang mit der drohenden Verdoppelung der Beschwerdefälle beim Verfassungsgerichtshof durch die Konstruktion des Asylgerichtshofs von einer "dramatischen Situation". Sie fragte sich außerdem, warum es trotz eines weitreichenden politischen Konsenses nach wie vor keine Verwaltungsgerichte erster Instanz gebe.

Auch Abgeordneter Herbert Scheibner (B) erhofft sich von der Einrichtung von Verwaltungsgerichten erster Instanz Abhilfe in Bezug auf die notorische Überlastung des Verwaltungsgerichtshofs. Er forderte Staatssekretärin Heidrun Silhavy auf, so rasch wie möglich einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Es gehe hier nicht zuletzt um die Frage des Rechtsschutzes für die rechtsuchende Bevölkerung, sagte Scheibner. Als äußerst problematisch wertete der Abgeordnete, dass die Regierungsparteien umstrittene Gesetzesbestimmungen immer wieder verfassungsrechtlich absicherten, um sie der Kontrolle des Verfassungsgerichtshofs zu entziehen.

Detailfragen stellten auch die Abgeordneten Günther Kräuter (S), Peter Sonnberger (V), Manfred Haimbuchner (F), Albert Steinhauser (G) und Franz Morak (V).

In Reaktion auf die Wortmeldungen der Abgeordneten warnte VfGH Präsident Holzinger vor einer Fehleinschätzung in Bezug auf die künftige Belastung des Gerichtshofs durch Asylfälle. Der Verfassungsgerichtshof könne natürlich Beschwerden ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg haben und die Klärung einer verfassungsrechtlich relevanten Frage nicht zu erwarten ist, sagte er, dennoch müsse jeder einzelne Fall genau geprüft werden. Holzinger will, wie er ausführte, dennoch alles daran setzen, dass die Verfahren am Verfassungsgerichtshof künftig nicht länger dauern als bisher oder die Qualität der Entscheidungen sinkt.

Keineswegs rütteln möchte Holzinger, wie er sagte, an der Zusammensetzung des Gerichtshofs. Seiner Darstellung nach hat es sich bewährt, dass VertreterInnen der verschiedensten juristischen Berufsgruppen – Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte, Vertreter der Gerichtsbarkeit – dem Verfassungsgerichtshof angehören. Die unterschiedlichen Erfahrungen der RichterInnen könnten durch eine noch so gute Ausbildung von Berufsrichtern nicht ersetzt werden, zeigte er sich überzeugt. Zuvor hatte Holzinger in seiner einleitenden Stellungnahme darauf hingewiesen, dass die Tätigkeit der VfGH-Richter mittlerweile vielfach zum Fulltime-Job geworden sei, obwohl diese laut Verfassung – mit Ausnahme der Verwaltungsbeamten – ihren Beruf grundsätzlich weiter ausüben sollten.

Die Gesetzesprüfungsverfahren haben sich Holzinger zufolge in den vergangenen Jahren nicht signifikant erhöht.

VwGH-Präsident Jabloner wandte sich dagegen, anstelle von Verwaltungsgerichten erster Instanz Außensenate des VwGH einzurichten. Seiner Meinung nach widerspricht das zum einen dem föderalistischen Ansatz, zum anderen könnte durch eine Dekonzentration des Gerichtshofs die einheitliche Judikatur gefährdet sein.

Staatssekretärin Heidrun Silhavy teilte mit, im Ministerrat solle noch vor dem Sommer eine Punktation zur Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit beschlossen werden.

Der Bericht über die Tätigkeit der beiden Höchstgerichte wurde von den Abgeordneten einstimmig zur Kenntnis genommen. Aus ihm geht unter anderem hervor, dass der Verwaltungsgerichtshof im Jahr 2006 5.927 Rechtssachen erledigte, in 1.573 dieser Fälle hob er den angefochtenen Bescheid auf. Der Verfassungsgerichtshof setzt sich unter anderem kritisch mit der systematischen Herabwürdigung des Höchstgerichts durch einzelne Politiker, der oftmals verspäteten Kundmachung von VfGH-Erkenntnissen und offenkundigen Verschlechterungen bei Postzustellungen auseinander. Von 39 im Jahr 2006 geprüften Bundes- und Landesgesetzen hob er 30 zumindest teilweise auf.

Grüne und FPÖ fordern Grundrecht auf Pflege

Weiters befasste sich der Verfassungsausschuss heute mit der Volksgruppenförderung und der Ortstafelfrage (siehe PK-Nr. 598) sowie mit zwei Entschließungsanträgen der Grünen bzw. der FPÖ, die beide die Verankerung eines Grundrechts auf Pflege zum Inhalt haben (358/A[E] und 521/A[E]). Beide Anträge wurden gegen den Protest der Opposition mit den Stimmen der Regierungsparteien vertagt.

SPÖ und ÖVP begründeten die Vertagung damit, dass derzeit gerade eine Expertengruppe an einem neuen Grundrechtskatalog arbeite und es sinnvoll wäre, deren Ergebnisse abzuwarten. Dem hielt Abgeordneter Herbert Scheibner (B) entgegen, dass das Parlament für Verfassungsänderungen zuständig sei. Abgeordneter Robert Aspöck (F) zeigte kein Verständnis dafür, dass der Verfassungsausschuss trotz offensichtlich breiter Mehrheit für beide Anträge keinen Beschluss fasse.

Abgeordnete Sabine Mandak hatte zuvor den Entschließungsantrag der Grünen damit begründet, dass kranke und pflegebedürftige Menschen in Österreich derzeit sehr unterschiedlich behandelt würden. Wenn man krank ist, sei es keine Frage, dass man die medizinische Leistung, die man brauche, auch bekomme, erklärte sie, im Bereich der Pflege sei das keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Mandak erinnerte in diesem Zusammenhang zudem daran, dass sich auch Sozialminister Erwin Buchinger für ein Grundrecht auf Pflege ausgesprochen habe.

Abgeordnete Ruth Becher (S) hielt dazu fest, soziale Grundrechte seien auch der SPÖ ein wichtiges Anliegen. Seitens der ÖVP verwies Abgeordnete Gertrude Aubauer auf die Notwendigkeit, dem Pflegethema besonderes Augenmerk zu schenken. (Schluss)