Parlamentskorrespondenz Nr. 381 vom 05.05.2009

Heinz Fischer: Bekenntnis zu europäischen Werten ist unverzichtbar

Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament

Wien (PK) – Die Parlamentskorrespondenz dokumentiert den Wortlaut der Rede, die Bundespräsident Heinz Fischer bei der Gedenkveranstaltung im Parlament gehalten hat.

Sehr geehrte Frau Präsidentin des Nationalrats, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates! Geschätzte Mitglieder der österreichischen Bundesregierung! Exzellenzen! Verehrte Damen und Herren unserer gesetzgebenden Körperschaften! Werte Gäste! Meine Damen und Herren!

In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, als ich ein Kind war, verwendeten meine Eltern im Gespräch zu Hause, wenn sie sich über politische Themen unterhielten oder die aktuellen Ereignisse besprachen, die Kunstsprache Esperanto – die sie beide perfekt beherrschten und von der ich kein Wort verstand. Sie wollten damit verhindern, dass ich vor anderen Leuten unabsichtlich etwas ausplaudern könnte, was zu Hause von zu heiklen Themen gesprochen wurde. Schließlich war die Verbreitung von "Feindpropaganda" und erst recht die "Wehrkraftzersetzung" damals mit der Todesstrafe bedroht. 

Aber eines Tages sagte mein Vater zu mir, dass Hitler tot sei und der Krieg praktisch zu Ende, und er hoffe, dass damit das Ärgste vorbei sei und wieder ein einigermaßen normales Leben beginnen könne.

Ich war damals knapp sieben Jahre alt und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Wieso Esperanto aus den Gesprächen meiner Eltern plötzlich verschwunden war. Wieso unsere Wohnung nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr verdunkelt werden musste, wenn man ein Licht andrehen wollte. Wieso das Radio für mich nicht mehr tabu war. Und wieso die Frau Lehrerin bei Schulbeginn nicht mehr mit den Worten 'Heil Hitler, Frau Lehrerin' begrüßt werden musste.

Und erst allmählich habe ich es verstanden: Der Krieg war tatsächlich vorbei. Kein Bombenalarm mehr. Die nationalsozialistische Diktatur war zusammengebrochen. Die Hakenkreuzfahnen waren verschwunden und mit ihnen die SS-Uniformen. Und Österreich wurde als selbständiger Staat, als Demokratie – wenn auch mit Besatzungssoldaten im Lande – wieder hergestellt.

Aber viel, viel länger dauerte es um zu erfahren und zu begreifen, was in dieser schrecklichen Zeit von 1938 bis 1945 (also in den ersten sieben Jahren meines Lebens), der Zeit, derer wir heute gedenken, noch alles passiert war. Um zu erfahren, dass der Zweite Weltkrieg systematisch vorbereitet und am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen vorsätzlich vom Zaun gebrochen wurde.

Dass Rassengesetze erlassen und Konzentrationslager gebaut wurden, was für allzuviele Menschen einem Begräbnis aller menschlichen Würde gleichkam. Dass man es zum Staatsziel gemacht hat, sogenannte minderwertige Rassen systematisch zu eliminieren und dass diesem Wahn sechs Millionen Menschen, vorwiegend Juden, zum Opfer fielen. Dass auch Roma, Sinti und Homosexuelle zu den Opfern des Regimes zählten.

Dass das NS-Regime jede Form von Widerstand mit dem Tode bestrafte und friedensorientierte friedliche Menschen wie Franz Jägerstätter ihre mutige Haltung mit dem Leben bezahlen mussten. Dass allein im Landesgericht Wien - gar nicht weit von hier - während der NS-Zeit 1.148 Todesurteile vollstreckt wurden, das heißt, dass vom März 1938 bis April 1945 Woche für Woche allein in Wien drei bis vier Hinrichtungen stattfanden und in den letzten Kriegsmonaten entsprechend mehr. - Das und vieles andere haben wir im Laufe der Zeit erfahren und beschämt zur Kenntnis nehmen müssen.

Was aber bis heute nicht leicht zu verstehen und noch schwerer zu beantworten ist, das ist die simple Frage: Wie konnte es dazu kommen? - Wieso konnte das alles geschehen? - Wie war es möglich, dass im "Land der Dichter und Denker", im Zentrum Europas, im aufgeklärten 20. Jahrhundert, in einer Region, die Schiller und Goethe, Mozart und Beethoven, Kant und Hegel, große Humanisten und Nobelpreisträger hervorgebracht hatte, auch Hitler und Himmler, Goebbels und Göring, Eichmann und Bormann und andere heranwuchsen, Macht erlangten und sogar von allzuvielen allzu lange bejubelt wurden.  

Es ist immer noch schwer, darauf überzeugende, einleuchtende Antworten zu geben. Aber eines wissen wir: Es genügt nicht eine Person, es genügt nicht Hitler für alles verantwortlich zu machen. Es ist auch nicht damit getan, sich an die Verbrechen dieser Epoche zu erinnern. Wir brauchen mehr als Erinnerung.

Wir müssen uns mit den einzelnen Elementen dieses Versagens der Humanität, dieses Begräbnisses aller menschlichen Würde, mit dem Phänomen der Banalität und der Gigantomanie des Bösen beschäftigen. Das heißt, wir müssen uns mit dem Phänomen der Gewalt als Instrument der Politik beschäftigen, mit dem Phänomen des Wegschauens. Wir müssen uns mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen. Auch mit dem ins Verderben führenden Grundsatz, wonach der Zweck die Mittel heiligt. Und wir müssen der Wahrheit ohne Selbstmitleid auf den Grund gehen: denn Gedenken ist wirklich mehr als Erinnerung.

Das alles ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass wir uns zu Werten und Prinzipien bekennen müssen. Das ist nicht altmodisch, sondern unverzichtbar für die Humanität und Stabilität einer Gesellschaft. Wir müssen uns zum europäischen Menschenbild, zu Menschenrechten und zur Demokratie bekennen. Grenzüberschreitend.

Lehren dieser Art hat man ja nach 1945 tatsächlich zu ziehen versucht und auch gezogen. Zum Beispiel durch die Gründung der Vereinten Nationen. Durch die Deklaration der Menschenrechte, die heute schon angesprochen wurden, deren Artikel 1 auf der Ringseite unseres Parlamentsgebäudes in die Außenwand eingraviert wurde und lautet: 'Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.'

Dieser Satz müsste und sollte unser Programm sein und zu diesem Zweck mit Leben erfüllt werden.

In Europa wurden auch Konsequenzen durch das Projekt der Europäischen Zusammenarbeit gezogen. Aber auch durch die Gründung des Europarates, dessen 60. Geburtstag wir heute, am 5. Mai 2009, feiern und der in dieser Gedenkstunde ganz besonders gewürdigt werden soll. Und auch in Österreich wurden wichtige Schritte gesetzt, einzelne hat die Frau Präsidentin des Nationalrats soeben aufgezählt.

Gerade der Europarat drückt in seiner Entstehung das Verlangen der Völker dieses Kontinents aus, nach den Schrecken der Gewaltherrschaft, der Diktatur und des Krieges einen Raum des Friedens und der Freiheit zu schaffen.

Am Beginn stand die berühmte Rede von Winston Churchill an der Universität Zürich im Jahr 1946, in der er erstmals von einem 'Europarat' gesprochen hatte – eine visionäre Idee, die auf eine friedliche Zukunft der Völkerfamilie abzielte. Buchstäblich auf den Trümmern der Nachkriegszeit, die zu diesem Zeitpunkt durchaus noch nicht alle beseitigt waren, wurde der Europarat von 10 Staaten im Jahr 1949 gegründet – als Instrument dafür, dass sich die Grausamkeiten und Leiden der davorliegenden sieben Jahre, 1938 bis 1945, nicht wiederholen können, aber auch mit dem Ziel, einer neu entstehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Europa ein vernünftiges und solides Fundament zu geben.

Die Achtung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit waren und sind zentrale Themen des Europarates.

In den folgenden Jahren hat sich dieser Europarat zu einer geachteten europäischen Institution entwickelt, die in vielen Bereichen tätig wurde und die sich insbesondere mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ein wirkungsvolles und vorbildliches Instrumentarium zum Schutz der wichtigsten Grund- und Freiheitsrechte gegeben hat.

Auch Österreich hat sich seit seinem Beitritt zum Europarat im Jahr 1956 traditionell für dessen Anliegen engagiert. Mit Lujo Toncic-Sorinj, Franz Karasek und Walter Schwimmer hat unser Land dreimal den Generalsekretär des Europarates gestellt und mit Karl Czernetz und Peter Schieder zweimal den Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung.

Gerade in diesem Haus und in diesem Rahmen möchte ich unterstreichen, wie sehr österreichische Parlamentarier in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, aber auch in deren Ausschüssen und Gremien, sich stets engagiert und außerordentlich bewährt haben. Ihnen allen gilt unser wirklich aufrichtiger Dank!

Im Jahr 2009 - 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – liegt es nahe, auch kurz der Entwicklungen zu gedenken, die sich in diesen letzten 20 Jahren durch die politischen Umbrüche in Europa ergeben haben. Sehr früh hatte der Europarat die politischen Chancen erkannt, die sich durch die Umwälzungen in "Osteuropa" eröffnet haben, und er hat zu dem beginnenden Prozess der Demokratisierung, Öffnung sehr wichtige Beiträge geleistet.

In weiterer Folge begann ein dynamischer Erweiterungsprozess, der mit der Aufnahme Ungarns in den Europarat im November 1990 seinen Anfang nahm und den Europarat in wenigen Jahren zu einer wirklich umfassenden europäischen Organisation gemacht hat. Somit hat der Europarat in seiner sechzigjährigen Geschichte immer wieder wichtige gesellschaftliche und politische Anliegen der jeweiligen Zeit aktiv mitgestaltet. Er hat Antworten gegeben auf drängende Fragen und versucht, Antworten zu geben auf die Schrecken des Krieges und der Diktatur und hat nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach der Überwindung der kommunistischen Zwangsherrschaft in Osteuropa Beiträge zum Zusammenwachsen eines demokratischen Europas geleistet.

Das Motto dieser Gedenkveranstaltung "Vom Begräbnis aller menschlichen Würde zur Unteilbarkeit der Menschenrechte" ist dem Gedenken an die Opfer von Rassismus, Gewalt und Diktatur gewidmet. Mit dem umfassenden Schutz der Menschenrechte, mit festen Positionen in den Bereichen von Rechtstaatlichkeit und Demokratie, mit dem Schutz von Minderheiten, mit dem Konzept der europäischen Integration und mit den Aktivitäten des Europarates ziehen wir konkrete Lehren aus einer schlimmen Vergangenheit, damit Diktatur, Rechtlosigkeit und Verletzung der Menschenwürde ein für alle Mal gebannt bleiben. Ich betrachte das als unsere gemeinsame gesamtösterreichische, gesamteuropäische Verpflichtung für die Zukunft. Genau das sind wir künftigen Generationen schuldig.

HINWEIS: Fotos von der Gedenkveranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at (Schluss)