Parlamentskorrespondenz Nr. 558 vom 23.06.2009

Trotz hoher Bildungsausgaben ist das Bildungssystem ineffizient

Ministerin Schmied legt ersten nationalen Bildungsbericht vor

Wien (PK) - Rund 700 Seiten umfasst der erste Nationale Bildungsbericht, den Bundesministerin Claudia Schmied dieser Tage dem Nationalrat vorgelegt hat (III-76 d.B.). Der Bericht ist auch auf der Homepage des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur unter http://www.bmukk.gv.at/nbb09 im Volltext abrufbar.

Der Nationale Bildungsbericht, der vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation & Entwicklung des österreichischen Schulwesens (BIFIE) erstellt und von Werner Specht herausgegeben wurde, bietet auf der Grundlage einer breiten Datenbasis eine detaillierte Analyse des österreichischen Schulwesens unter den verschiedensten Aspekten. Er soll, wie die Bildungsministerin im Vorwort schreibt, helfen, die Diskussion zu versachlichen, zu intensivieren und zu vertiefen und damit zu einer stärkeren faktenbasierten Entscheidungsfindung ("Evidence-based Policy") beitragen. Schmied unterstreicht den großen Handlungsbedarf im österreichischen Bildungssystem und möchte die nun vorliegende Faktenlage und kritische Sichtweise, die die Expertinnen und Experten in ihren Befunden darlegen, dazu nützen, anhand der identifizierten Stärken und Schwächen Probleme gezielt zu lösen und notwendige Qualitätsverbesserungen und Innovationen systematisch in Gang zu setzen. Schmied kündigt auch an, eine derartige Situationsanalyse des Schulsystems alle drei Jahre erstellen zu lassen.

Im ersten Band des Berichts finden sich grundlegende statistische Daten und Indikatoren des österreichischen Schulsystems. Damit, so Günter Haider und Lorenz Lassnig, wurde ein erster Schritt in Richtung einer stringenten Systematik von Kennzahlen und Qualitätsindikatoren gesetzt, die geeignet sind, eine längerfristige Basis für politische Entscheidungen und praktische Entwicklungen zu legen. Dabei müsse festgestellt werden, dass im Bereich der "weicheren" Qualitätsindikatoren - wie Leistungsergebnisse, Schulqualität in Bezug auf Chancengleichheit oder Befindlichkeit - die Entwicklung erst beginnt. So lägen beispielsweise Leistungsergebnisse nur aus den internationalen Studien PISA, PIRLS und TIMSS vor. Einen erheblichen Fortschritt sollte jedoch die Entwicklung der Bildungsstandards bringen.

Der zweite Band widmet sich zentralen Entwicklungsthemen und Problemfeldern des Schulwesens. Sie werden von 47 führenden Bildungswissenschafterinnen und -wissenschaftern analysiert und diskutiert, wobei auch Ausblicke gegeben und mögliche politische Handlungsoptionen aufgezeigt werden.

Hohe Bildungsinvestitionen – ineffizientes System

Eine zentrale Feststellung des Berichts lautet, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Bildungsinvestitionen im weitesten Sinn und der wirtschaftlichen Entwicklung gibt. Dennoch kommt der Bericht zum Schluss, dass die in Österreich für das Bildungssystem aufgewendeten beträchtlichen finanziellen Mittel nicht effizient eingesetzt werden.

Österreich wendet für das Bildungswesen etwa 11,7 Mrd. € im Jahr auf, das sind 10,9 % der gesamten Staatsausgaben (OECD-Durchschnitt von 13,2 %) oder rund 5,4 % des BIP (2005), womit sich Österreich dem EU-Durchschnitt (knapp über 5 %) nähert. Der Anteil der Bildungsausgaben am BIP ist seit 1995 (6 %) gesunken, dies ist aber laut Bericht auf die stärkere Steigerung des BIP, nicht jedoch auf den Rückgang an Bildungsausgaben zurückzuführen.

Die direkten öffentlichen Bildungsausgaben pro Schüler/in, bzw. pro Studierender/Studierendem gehören im europäischem Vergleich zu den höchsten, und zwar auf allen Bildungsebenen. Höher sind die Bildungsausgaben pro Kopf nur in Luxemburg sowie in den OECD-Mitgliedstaaten Norwegen und USA. Was die Verteilung der öffentlichen Mittel auf die verschiedenen Bereiche des Bildungswesens betrifft, so hat sich diese relativ konstant entwickelt. Mit rund 27 % entfällt auf den Tertiärbereich der höchste Anteil, gefolgt vom unteren Sekundarbereich mit 24 % und dem oberen Sekundarbereich mit 22 %. Auf den Primarbereich kommen 19 % der öffentlichen Gesamtausgaben für Bildung und auf den vorschulischen Elementarbereich 7 %.

In absoluten Zahlen gab die öffentliche Hand im Jahr 2006 pro Kopf für Volksschülerinnen und Volksschüler 4.935 €, für Hauptschülerinnen und Hauptschüler 6.884 €, für Sonderschülerinnen und Sonderschüler 25.582 €, für Schülerinnen und Schüler an Polytechnischen Schulen 5.717 €, für AHS-Schülerinnen und –Schüler 7.249 €, für Berufsschülerinnen und –schüler 10.043 € und für Schülerinnen und Schüler an BMS und BHS 9.007 € aus, wobei der land- und forstwirtschaftliche Sektor mit 14.624 € am höchsten zu Buche schlägt. 

Die Höhe der Finanzmittel gebe jedoch an sich keine Auskunft über die Qualität, Effizienz und Effektivität der Leistungserbringung des Schulsystems, wird im Bericht betont, sondern entscheidend sei auch die mögliche effiziente Nutzung der Ressourcen. Und hier wird dem "bürokratisch-föderalistischen Modell" in Österreich ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. "Nach heutigem Stand der internationalen Forschung ist dieses System nicht nur ineffizient, sondern auch ungerecht", lautet der Befund der Expertinnen und Experten. In Österreich sei Chancengleichheit kein explizites Ziel des Bildungswesens.

Klassenschülerzahlen sind gesunken; der Lehrberuf ist weiblich

Erfolgreich waren die politischen Bemühungen um ein besseres Betreuungsverhältnis an den Schulen. Seit 1970 ist die Klassenschülerzahl erheblich gesunken, und auf eine Lehrperson kommen durchschnittlich deutlich weniger Schülerinnen und Schüler. Diese positive Entwicklung betrifft vor allem die Pflichtschulen, in den anderen Schultypen hat sich die Relation nur leicht verschoben. So lag im Schuljahr 2006/2007 das Betreuungsverhältnis an Volksschulen durchschnittlich bei 14 Schülerinnen und Schülern pro Lehrperson, an Hauptschulen bei 10, an Sonderschulen bei 3, an Polytechnischen Schulen bei 11, an AHS bei 12, an Berufsschulen bei 11 und an BMS und BHS bei 9. Die Klassengröße betrug an Volksschulen durchschnittlich 20, an Hauptschulen 23, an Sonderschulen 8, an Polytechnischen Schulen 23, an AHS 25, an Berufsschulen 23, an BMS und BHS 24.

Dennoch stellt der Bericht fest, dass von den Klassengrößen keine eindeutigen Leistungseffekte festgestellt werden konnten. Untersuchungen zeigen, dass sich sowohl sehr kleine als auch sehr große Klassen negativ auf Lernergebnisse auswirken können. Obwohl in Österreich relativ wenig Schülerinnen und Schüler auf eine Lehrkraft kommen, sind die Leistungen nicht besser als in vielen Ländern mit einer schlechteren Betreuungszahl, in Ländern mit ähnlichen Betreuungsverhältnissen fallen die Leistungen jedoch wesentlich besser aus.

Hinsichtlich der zu leistenden Unterrichtszeit liegt Österreich mit jährlich 774 Stunden im Primarbereich im unteren Teil des OECD-Länderspektrums, wo dieser Wert 812 Stunden beträgt. Ebenso niedrig fällt laut Bericht die direkte Unterrichtszeit einer Lehrkraft im unteren Sekundarbereich aus, nämlich mit 607 Stunden gegenüber 717 Stunden im OECD-Schnitt, während die Schülerinnen und Schüler eine Unterrichtszeit von 958 Stunden vorgeschrieben haben (im OECD-Raum: 933 Stunden). Fazit des Berichts: "Die im Vergleich hohe lehrplanmäßige Unterrichtszeit der Schüler/innen teilt sich auf relativ viele Lehrpersonen auf, die einen vergleichsweise geringen Anteil ihrer jährlichen Arbeitszeit direkt in den Klassen unterrichten".

Die immer wieder geforderte innere Differenzierung hat bislang nicht umfassend in den Unterrichtsalltag Eingang gefunden. Die Expertinnen und Experten kommen zum Schluss, dass die Lehrkräfte zwar durchwegs Differenzierungsmaßnahmen in den Unterricht einbauen, eine vielseitige individuelle Förderung jedoch nicht pädagogischer Alltag ist. Auch vermissen Schülerinnen und Schüler problemlösungsorientierten und anwendungsbezogenen Unterricht. Dieser komme noch am ehesten in den Polytechnischen Schulen und an Berufsschulen vor. An höheren Schulen stehe der frontal-rezeptive Unterricht im Vordergrund, die individuelle Förderung sei hier "extrem gering". 

Zwei Drittel aller Lehrpersonen sind weiblich, an den Volks- und Sonderschulen beträgt der Anteil an Lehrerinnen sogar 80 %. Auch an der AHS sind Lehrerinnen stark überrepräsentiert. Hingegen dominieren die Männer in Berufsschulen, sowie im technisch-gewerblichen Bereich. An diesen Geschlechterdomänen, so der Bildungsbericht, wird sich auch in Zukunft wenig ändern.

Schulwahl ist nicht primär eine Bildungsentscheidung

Was die Schulwahl nach der Volksschule betrifft, so konstatiert der Bericht, dass bundesweit deutlich weniger Plätze in der AHS – nur rund ein Fünftel - zur Verfügung stehen als in der Hauptschule und dass der Anteil an AHS-Schülerinnen und –schülern in den westlichen Bundesländern am niedrigsten ist. 32,7 % wechseln nach der 4. Schulstufe in die AHS-Unterstufe und 65,4 % in die Hauptschule. Im Sekundarbereich II besuchen österreichweit rund ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler eine Berufsschule, rund 11 % eine BMS, ein knappes Drittel eine BHS und rund ein Fünftel eine AHS-Oberstufe.

Die Expertinnen und Experten folgern aus den statistischen Zahlen, die Schulwahl entspreche weniger einer Bildungsentscheidung der Familien, sondern hänge vielmehr von institutionellen Rahmenbedingungen und Angeboten ab. Der Übertritt in eine höhere Schule werde auch sehr stark durch das Bildungsniveau der Eltern beeinflusst, die sozialökonomische Herkunft der Studierenden bleibt seit vielen Jahren konstant ungleich.

Die Bildungsentscheidung ist auch stark durch die regionale Herkunft der Kinder und Jugendlichen und durch die Größe des Wohnorts bedingt. So besuchen in Wien 51 % der Mädchen und 45 % der Burschen eine AHS-Unterstufe, in Orten mit weniger als 20.000 Einwohnern wechseln nur 23 % der Kinder in eine AHS. Am niedrigsten ist der AHS-Anteil in den westlichen Bundesländern mit mehr als 70 % Hauptschülerinnen und Hauptschülern. Übertritte aus einer Hauptschule in eine AHS sind mit 6 % relativ selten, nur ein Drittel der Hauptschülerinnen und Hauptschüler wechselt in eine Schulform, die zur Matura führt, im Vergleich zu 90 % der Schülerinnen und Schüler einer AHS-Unterstufe. Die hohe BHS-Beteiligung in ländlichen Gebieten kompensiert laut Bericht jedoch dort die niedrige AHS-Beteiligung fast zur Gänze.

Rund ein Drittel eines Jahrgangs nimmt ein Hochschulstudium auf, bezüglich der Zugangsquote liegt Österreich jedoch deutlich unter dem OECD-, bzw. EU-Durchschnitt von ca. 55 %.

Die theoretisch vorhandene Durchlässigkeit des Systems sei nur sehr eingeschränkt gegeben, die frühe Wahl zwischen Hauptschule und AHS-Unterstufe entscheide in hohem Maß über die weitere Schullaufbahn, wird im Bericht festgehalten. Von den AHS-Schülerinnen und –Schülern bleiben 61,1 % der AHS treu, 30,3 % entscheiden sich für eine BHS, nur 1,7 % gehen in eine BMS, in die Polytechnische Schule nur 0,5 %, weitere 0,9 % beginnen nach Ende der Schulpflicht eine Berufsausbildung. Von den Hauptschülerinnen und Hauptschülern wechseln hingegen nur 6 % in die AHS-Oberstufe, 27,9 % besuchen ab der 9. Schulstufe eine BHS, 21,2 % eine BMS, 27,8 % eine Polytechnische Schule und 7,8 % fangen direkt nach der Hauptschule eine Berufsausbildung an. Von den Absolventinnen und Absolventen von Matura führenden Schulen inskribieren ca. 50 % an öffentlichen Universitäten, an Fachhochschulen studieren 30,7 % AHS-Maturantinnen und -Maturanten und 46,4 % BHS-Absolventinnen und –Absolventen.

Interessant ist auch die Feststellung im Bericht, dass viele Jugendliche nicht die ihrer Person adäquate weiterführende Schule besuchen (Passung). Die höchste Quote der passenden Schulwahl findet sich bei den technisch-gewerblichen Schulen, am wenigsten kongruent ist die Wahl der kaufmännischen Schulen. Als Ursachen dafür sehen die Expertinnen und Experten individuell bedingte Fehlentscheidungen, das Fehlen differenzierter Interessen, aber auch das unspezifische Anforderungsprofil der gewählten Schulen. Als Gegenmaßnahme wird daher eine besserer Beratung, aber auch eine klarere Profilierung der einzelnen Schulen vorgeschlagen.

Bildungsabschlüsse - Zusammenhang mit sozialen Hintergrundfaktoren

Trotz der jüngst leicht rückläufigen Tendenz und der Stagnation des Bildungsstands der Jugendlichen in Österreich ist der Bildungsstand der heimischen Jugendlichen im EU-Vergleich sehr hoch, was vor allem auf das Angebot dualer Berufsbildung zurückgeführt wird.

Im Jahr 2006 wurden 60 % aller Schulabschlüsse in allgemeinbildenden Pflichtschulen erreicht. Die durchschnittliche Abschlussquote über alle Schultypen hinweg beträgt 95 %, wobei Burschen mit Ausnahme der technisch-gewerblichen mittleren Schulen deutlich niedrigere Abschlussquoten aufweisen als Mädchen. Besonders unterdurchschnittlich ist diese bei Burschen an den AHS und in den BMS. Fast jeder fünfte männliche Schüler schließt die letzte Klasse dieser Schulformen nicht positiv ab.

Als überraschend bezeichnen die Autorinnen und Autoren die überdurchschnittlichen Abschlussquoten aller Schülerinnen und Schüler in den BHS mit rund 94 %. Hier scheint, so wird vermutet, die Selektivität vor allem in den ersten Jahrgängen zu wirken.

Personen, die eine Ausbildung abgebrochen haben, beteiligen sich in nur geringem Ausmaß an lebenslangem Lernen und haben auch große Probleme am Arbeitsmarkt. Das Risiko eines Abbruchs der Bildungslaufbahn ist jedoch nach regionalen, sozialökonomischen und ethnischen Merkmalen unterschiedlich hoch, und in benachteiligten Gruppen sind deutlich höhere Anteile an frühen Schulabgängerinnen und –abgängern zu finden.

Was den Schulerfolg eines jeden Kindes betrifft, so korreliert dieser stark mit der sozioökonomischen Lage der Familie. Je höher der Bildungsabschluss der Eltern ist, desto besser schneiden die Schülerinnen und Schüler bei den internationalen Tests ab.

     

Mädchen holen stark auf; Nachteile für Migrantenkinder

Der Großteil des Qualifikationszuwachses der vergangenen Jahre ist auf die weibliche Bevölkerung zurückzuführen, der Trend zu höherer Bildung ist vor allem bei Frauen stark. Der Bericht räumt jedoch ein, dass trotz dieser Entwicklung und der dokumentierten Lernschwierigkeiten männlicher Jugendlicher auch bei jungen Frauen der Anteil mit niedriger Bildung noch immer höher ist als bei jungen Männern. Zusammengefasst kann aber gesagt werden, dass die Geschlechterdifferenz in der Erwerbsquote mit zunehmender Bildung abnimmt.

Die geschlechtsspezifische Segregation ist jedoch noch teilweise stark und hat sich im berufsbildenden Schulwesen verfestigt. So sind technisch-gewerbliche Fachrichtungen männlich dominiert, sozial- und wirtschaftsberufliche Fachrichtungen weiblich. Die Bildungsanstalten für Kindergarten- und Sozialpädagogik werden sogar zu 95 % von Mädchen und Frauen besucht. Frauen sind in allen Altersgruppen lernaktiver als Männer, sie brechen ihre Laufbahn aber auch häufiger ab, so ein weiterer Befund der Untersuchungen. Die genannten Geschlechterdifferenzen sind jedoch unabhängig von der regionalen Herkunft.

Die Mädchen erzielen auch deutlich bessere Schulerfolge als Burschen, im Jahr 2005 wurden beispielsweise mehr als 57 % aller Reifeprüfungen von Frauen abgelegt. Der weibliche Anteil ist nur im technischen und gewerblichen sowie im land- und forstwirtschaftlichen Bereich geringer, Frauen verzeichnen aber in allen Fachrichtungen, auch in technisch-gewerblichen, zum Teil starke Zuwächse, während bei Männern ein konstanter bzw. sogar rückläufiger Trend zu beobachten ist.  

Die Bildungslaufbahn der Kinder mit Migrationshintergrund ist jedoch noch immer mit großen Problemen behaftet, wobei vor allem die Leistungsunterschiede zwischen einheimischen Jugendlichen und Zugewanderten der zweiten Generation besonders groß sind. Kinder von Zugewanderten sind besonders häufig in Sonderschulen zu finden, im gesamten weiterführenden Schulsystem ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund deutlich niedriger als in den Pflichtschulen. Die Pflichtschulen sind offensichtlich nicht in der Lage, die Benachteiligungen auszugleichen. Da sich die Anzahl dieser Kinder auf einzelne Regionen und Schultypen, bzw. Schulen konzentriert, kommt es zu sehr unterschiedlichen Belastungen. Besonders hoch ist der Anteil an Migrantenkinder bundesweit in den Vorschulstufen und an den Volksschulen, in Wien sprechen fast die Hälfte der Volksschulkinder eine nicht-deutsche Alltagssprache, in Haupt- und Polytechnischen Schulen sind die Anteile mit fast 60 % überproportional.

Sprachdefizite vor dem Schuleintritt und hohe Zahl an Risikoschülern

Bei 24 % aller Kinder werden 15 Monate vor Schuleintritt Defizite im sprachlichen Bereich identifiziert, so lautet die alarmierende Aussage des Berichts. Fast jedes zweite Kind, das bis zum Zeitpunkt der Sprachstandsfeststellung keinen Kindergarten besucht hat, weist einen diesbezüglichen Nachholbedarf auf, wobei von den Kindern mit Deutsch als Erstsprache zum überwiegenden Teil ein altersadäquates Sprachniveau festzustellen ist. Probleme haben in erster Linie Migrantenkinder, die nur in der Familie aufwachsen, wogegen jene Migrantenkinder, die einen Kindergarten besuchen, davon profitieren.

Dieses Problem der schwachen Leistungen von Migrantenkindern ist in Österreich stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Dabei muss mit Sorge betrachtet werden, dass Migrantinnen und Migranten der ersten Generation eine signifikant höhere Lesekompetenz aufweisen als die zweite. Dieses Muster ist weltweit sehr selten, sagen die Autorinnen und Autoren. Dem österreichischen Schulsystem gelingt es offensichtlich nicht ausreichend, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die ihre gesamte Sozialisation und Schullaufbahn in Österreich verbracht haben, hinlänglich mit anschlussfähigen Grundkompetenzen auszustatten. Jedes dritte Kind mit Migrationshintergrund kann am Ende der Volksschule nicht sinnerfassend lesen, nur 7 % der Migrantenkinder erzielen im Lesen Topleistungen.

Bedenklich stimmt jedoch auch, dass es insgesamt in Österreich eine erhebliche Gruppe von Grundschülerinnen und Grundschülern gibt, denen es an grundlegenden Lesefähigkeiten mangelt. 16 % zählen in Österreich zur Risikogruppe, das ist das Mittelfeld der OECD- und EU-Staaten (17. Platz von 30 Staaten), 8 % befinden sich in der Spitzengruppe, das ist geringfügig weniger als der Mittelwert der untersuchten Länder. In den Naturwissenschaften belegt Österreich den 9. Rang unter OECD-Ländern.

Bei der Lesekompetenz der 15- bis 16-Jährigen zeigt sich, dass 22 % der Schülerinnen und Schüler, also jede und jeder fünfte, nur unzureichend sinnerfassend lesen können und somit zur Risikogruppe zählt. In Mathematik beläuft sich die Zahl der Risikoschülerinnen und –schüler auf 20 %, in den Naturwissenschaften sind es rund 16 %.

Dazu ist zu bemerken, dass Mädchen bereits in der Grundschule viel mehr Freude am Lesen haben als Buben, und sie übertreffen ihre männlichen Alterskollegen sowohl am Ende der 4. als auch der 8. Schulstufe in ihrer Leseleistung. Das Interesse an Mathematik, Physik, Chemie und Biologie ist bei den österreichischen Schülerinnen und Schülern, vor allem bei den Mädchen, im Vergleich zu anderen Ländern außerordentlich gering. Dementsprechend sind die Burschen in Mathematik eher stärker, in den Naturwissenschaften zeigen sich aber nur unwesentliche Unterschiede. 

Insgesamt gelten 36 % der 7- bis 10-Jährigen als leistungsschwach und 30 % der 15- bis 16-Jährigen als Risikoschülerinnen und Risikoschüler. 21 % der Jugendlichen zählen hingegen zu den Spitzenschülerinnen und –schülern.

Der Bildungsbericht konstatiert jedoch auch kritisch, dass am Ende der Volksschule nur ein mittlerer Zusammenhang zwischen Deutschnoten und Leseleistung besteht. In der AHS-Oberstufe korrelieren zum Beispiel die Mathematik-Noten und –Kompetenzen nur gering. Die unterschiedlichen Kompetenzen, die hinter der gleichen Beurteilung stehen, dokumentiert der Expertise zufolge eine extreme Ungerechtigkeit bezüglich der Schulkarriere der Jugendlichen.

Macht man Leistungsvergleiche zwischen AHS-Unterstufe und Hauptschule, so zeigen sich oft große Überlappungen. Es gibt viele Schülerinnen und Schüler, die die Unterstufe der AHS besucht haben und trotzdem sehr schwache Leistungen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften erzielen, hingegen erzielen ehemalige Hauptschülerinnen und Hauptschüler wiederum Spitzenleistungen. Das schwächste Viertel der ehemaligen AHS-Schülerinnen und –Schüler weisen Leistungen auf, die mit jenen des besten Viertels der ehemaligen 3. Leistungsgruppe der Hauptschule vergleichbar sind.

Zweiter Band: Analysen und kritische Sichtweisen

Im zweiten Band des Berichts analysieren 47 Expertinnen und Experten schwerpunktmäßig Aspekte des österreichischen Schulsystems. So werden zunächst unterschiedliche Sektoren des Schulwesens behandelt, in denen der Veränderungsdruck hoch ist und die deshalb derzeit Schwerpunkte bildungspolitischer Diskussion und/oder Reforminitiativen bilden. Solche Sektoren sind der Bereich der vorschulischen Bildung und Förderung, der in Österreich traditionell schwach ausgeprägt ist; weiters die Schule der 10- bis 14-Jährigen, die durch die Untersuchungen von TIMSS und PISA wieder verstärkt unter der Perspektive der sozialen Selektivität diskutiert wird; auch der gesamte Bereich der Sonderpädagogik wird unter die Lupe genommen; die Sekundarstufe II und die Schnittstellen zwischen Schule und Arbeitsmarkt sind ebenso Thema wie Schulversagen, Dropout und Jugendarbeitslosigkeit. Eingegangen wird darüber hinaus auf die Ausbildung des pädagogischen Personals sowie auf das lebenslange Lernen in der wissensbasierten Gesellschaft durch die Schule.

Des weiteren werden primär pädagogische Fragen behandelt, die in der gegenwärtigen Situation der globalen Herausforderungen an die Qualität der Bildungssysteme von vordringlicher Bedeutung scheinen. Die Liste der Themen ist dabei recht heterogen. Im Einzelnen werden dabei behandelt: Die Problematik von Dropout und Schulversagen im österreichischen Schulwesen und die Möglichkeiten einer Verbesserung der Situation; die Lage von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im Schulsystem; die Frage der Kulturvermittlung (im engeren Sinne) im Schulwesen, angesichts der Tatsache, dass diese weder in den großen internationalen Leistungsuntersuchungen noch in der Konzeption der Bildungsstandards eine nennenswerte Rolle spielt; die Frage der geschlechtergerechten Schule; die Thematik des Lernens von Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, die auch im Bildungszielkatalog der Europäischen Union stark im Vordergrund steht; die Frage der Gerechtigkeit in der Leistungsbeurteilung, die ebenfalls durch die internationalen Leistungsassessments wieder prekär geworden ist, weil diese mit großer Deutlichkeit die regionalen, standortspezifischen und schulklassenabhängigen Disparitäten der Notengebung aufzeigen; die Problematik der Gewalt in der Schule, sowie eine Thematik, auf die Lehrerinnen und Lehrer immer wieder hinweisen, wenn es um die Erschwernisse in ihrem beruflichen Handlungsfeld geht, nämlich die Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler mit Entwicklungsproblemen, wie Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen, Ängsten, Pubertätskrisen, die dort, wo die Familien ihre Sozialisationskraft verlieren, besondere Herausforderungen an Schulen darstellen.

Ein dritter Schwerpunkt behandelt Themen der Steuerung des Schulwesens, die von unmittelbarer bildungspolitischer Bedeutung sind und in denen nach Auffassung der Redaktionsgruppe besonderer Entwicklungsbedarf besteht. Ein solcher Bereich ist die breite Thematik der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung im Schulsystem. Ein zweites Thema ist das der Schulautonomie. Allenthalben wird heute ein Mehr an Autonomie für die Schulen gefordert, ohne dass dahinter eine systematische Reflexion über eine sinnvolle Machtverteilung zwischen unterschiedlichen Unterscheidungsebenen steht. Ein drittes Thema ist die Frage nach den systemischen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Bewältigung des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen, eine Problemstellung, die gerade auch im Zusammenhang mit der Konzeption einer "Neuen Mittelschule", die als inklusive Schule gedacht wird, von besonderer Relevanz ist.

In einem weiteren Abschnitt schließlich geht es um ein Thema, das im Kontext der Bemühungen um eine evidenzbasierte Steuerung besondere Aufmerksamkeit verdient: Das Thema der verbesserten Förderung und Nutzung der Bildungsforschung als Wissensressource für die politisch Verantwortlichen sowie die Problematik der Unterrepräsentation bildungsökonomischer Fragestellungen in der österreichischen Forschungslandschaft. (Schluss)


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