Parlamentskorrespondenz Nr. 889 vom 21.10.2009

Nationalsozialistische Unrechtsurteile aufgehoben

Einstimmige Beschlussfassung wurde nicht erreicht

Wien (PK) – Mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der Grünen hat heute der Nationalrat sämtliche noch nicht aufgehobenen NS-Unrechtsurteile aufgehoben. Damit sind auch alle Deserteure aus Hitlers Armeen rehabilitiert. Grundlage der Debatte waren ein Antrag der Grünen und ein Antrag des Justizausschusses betreffend ein Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz. Trotz intensiver Bemühungen, in den Tagen zwischen den Beratungen im Justizausschuss und der heutigen Plenarsitzung eine Einigung aller Parteien zu erreichen, konnten die MandatarInnen von FPÖ und BZÖ dem Entwurf, trotz weitgehender Übereinstimmung, schließlich nicht beitreten.

Abgeordneter Peter FICHTENBAUER (F) hielt als erster Redner zu diesem Punkt der Tagesordnung fest, es sei nicht abzustreiten, dass die nun aufzuhebenden Entscheidungen von NS-Gerichten verwerflich und beseitigungswürdig seien. Juristisch ist die Vorgangsweise ihm zufolge allerdings nicht ganz "sauber", da Österreich 1938 als souveräner Staat zu existieren aufgehört habe. Die Freiheitlichen hätten dem Gesetz dennoch zugestimmt, sagte Fichtenbauer, wenn es §4 des Gesetzes, der die Rehabilitierung von Deserteuren regelt, nicht gebe. Hier würden ungleiche Sachverhalte gleich bewertet, bemängelte er und gab zu bedenken, dass nicht alle Desertionen aus Gründen des Widerstands erfolgt seien. 

Zweiter Nationalratspräsident Fritz NEUGEBAUER (V) qualifizierte den vorliegenden Gesetzentwurf hingegen als "vernünftige Lösung". Damit werde ein wichtiges politisches Signal gesetzt und eine jahrelange Debatte zu einem positiven Ende geführt, konstatierte er. Man zolle jenen Respekt und Anerkennung, die sich gegen das NS-Regime gewandt hätten. Durch die Einbeziehung der Urteile von Sonder- und Standgerichten, des Volksgerichtshofs und der Erbgesundheitsgerichte würden, so Neugebauer, letzte Lücken geschlossen.

Abgeordneter Herbert SCHEIBNER (B) bedauerte, dass es heute keinen einstimmigen Beschluss des Nationalrats geben werde. Die Koalition habe entgegen ihrer Ankündigung keinen Versuch unternommen, noch ein oder zwei Sätze zur Klarstellung in das Gesetz zu integrieren, um dem BZÖ eine Zustimmung zu ermöglichen, kritisierte er. Scheibner wandte sich wie Abgeordneter Fichtenbauer dagegen, alle Deserteure "über einen Kamm zu scheren". Auch unter den Deserteuren habe es, so der Abgeordnete, "zuhauf" Opportunisten gegeben.

Abgeordneter Johann MAIER (S) führte aus, die SPÖ halte wenig von "Motivforschung". Alle Deserteure hätten sich einem enormen Risiko ausgesetzt, unabhängig davon, aus welchem Grund sie desertiert seien. Selbst am Ende des Krieges seien Deserteure noch hingerichtet worden. Maier gab zu bedenken, dass Österreich den Staatsvertrag nicht erhalten hätte, hätte es nicht Widerstand auf verschiedensten Ebenen gegeben. Um den Unrechtsgehalt damaliger Entscheidungen zu veranschaulichen, zitierte er aus alten Urteilen.

Abgeordneter Harald STEFAN (F) hob die Notwendigkeit einer sorgfältigen Wortwahl im Gesetz hervor, um auszuschließen, dass Österreich in irgendeiner Art als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gesehen werden könne. Er warf der Koalition zudem vor, Deserteure pauschal zu rehabilitieren. Man könne nicht generell davon ausgehen, dass der Zweck die Mittel heilige, mahnte Stefan.

Abgeordneter Albert STEINHAUSER (G) sprach von einem bedeutenden Tag für Österreich. Durch das vorliegende Gesetz würden Opfer der NS-Sonder- und Standgerichte, Opfer des Volksgerichtshofs, Opfer von Zwangssterilisation und verurteilte Homosexuelle rehabilitiert, zeigte er sich erfreut. Ebenso komme es zu einer ausdrücklichen politischen Rehabilitation von Deserteuren. Wer in Frage stelle, dass nur ein sehr kleiner Teil der Deserteure Gewalt angewendet habe, stehe unter dem Verdacht, dass es ihm um etwas anderes gehe, nämlich um die Diskreditierung von Deserteuren.

Bundesministerin Claudia BANDION-ORTNER betonte, man setze nun einen juristischen Schlussstrich unter die Unrechtsurteile der NS-Zeit, die den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit widersprechen. Dieses Gesetz sei nicht nur für die noch lebenden Betroffenen wichtig, sondern auch für die Nachfahren, sagte sie und stellte klar, dass damit die Soldaten der Wehrmacht in keiner Weise herabgewürdigt werden. Die Justizministerin bedauerte, dass FPÖ und BZÖ nicht zustimmen, zumal ein einstimmiger Beschluss ein Symbol gewesen wäre. Als wesentliche Punkte des Gesetzes nannte sie unter anderem die pauschale Aufhebung der Unrechtsurteile und die Einrichtung eines Versöhnungsbeirats.

Abgeordneter Lutz WEINZINGER (F) begründete die Ablehnung seiner Fraktion mit dem im Gesetz enthaltenen generellen Freispruch aller Deserteure. Besser wäre seiner Meinung nach eine Einzelrehabilitation gewesen. Man dürfe den Angehörigen der älteren Generation, die nicht desertiert sind, auf keinen Fall das Gefühl geben, dass sie die schlechteren sind, bemerkte Weinzinger.

Abgeordneter Heribert DONNERBAUER (V) zeigte sich zufrieden über die Klarstellung, dass die NS-Gerichtshöfe keine Gerichte im rechtsstaatlichen Sinn waren. Der ÖVP sei es ein ernsthaftes Anliegen gewesen, die Gültigkeit dieser Unrechtsurteile aufzuheben. Bei FPÖ und BZÖ warb er noch einmal um Verständnis für die Generalklausel, weil es unzumutbar wäre, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende auf Motivforschung zu gehen. Schließlich brachte er einen Abänderungsantrag ein, der lediglich eine Änderung des Gesetzestitels vorsieht.

Abgeordneter Peter WITTMANN (S) schloss sich seinem Vorredner an. Er betrachtete die Generalklausel als den Kernpunkt des Gesetzes und vertrat ebenfalls die Auffassung, dass eine Motivforschung zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr machbar wäre. Mit dem Gesetz ziehe man einen Schlussstrich unter die Unrechtsurteile und stelle den Ruf der Betroffenen wieder her, meinte er. In Richtung des Abgeordneten Weinzinger unterstrich Wittmann, man nehme damit niemandem ein Recht, sondern man gebe jemandem ein Recht, und das sei ein großer Unterschied.

Abgeordneter Harald WALSER (G) bezeichnete die heutige Beschlussfassung als historischen Moment, womit man einen Schlussstrich unter den unsäglichen Umgang mit der NS-Zeit ziehe, der den Anteil Österreichs am Nazi-Regime immer ausgegliedert hat. Walser zollte auch FPÖ und BZÖ Respekt für deren sachliche Diskussionsbeiträge und verteidigte die Generalklausel. Die NS-Urteile strotzten nur so von Propaganda und seien daher für eine Einzelfallprüfung ungeeignet, sagte er. Deserteure hätten objektiv das Richtige getan und vor dem Hintergrund der Moskauer Deklaration einen Beitrag zur Wiedererrichtung Österreichs geleistet. Dabei seien die Gründe für ihr Handeln irrelevant. Durch das Gesetz würden auch verurteilte Kärntner Partisanen wieder ihre Ehre erlangen, erklärte Walser abschließend.

Abgeordnete Karin HAKL (V) wies darauf hin, dass bereits 1945 sämtliche Urteile aufgehoben wurden, wobei sie aber weiterhin einer Überprüfung unterlagen. Mit der jetzigen Generalklausel habe man eine endgültige Rehabilitierung erreicht.

Abgeordneter Karl ÖLLINGER (G) würdigte ebenfalls die gute und sachliche Diskussion, die seiner Meinung nach durch die Einigkeit dreier Parteien in einer für das Selbstverständnis der Republik essentiellen Frage ermöglicht wurde. Öllinger respektierte durchaus die rechtsdogmatische Argumentation von FPÖ und BZÖ, machte aber auf den Unterschied in der bisherigen Bewertung von Tatbeständen aufmerksam. Hatte ein Wehrmachtssoldat einen Deserteur erschossen, lag das im Rahmen seiner Pflicht, hätte ein Deserteur einen Offizier erschossen, dann wäre das Mord gewesen. Es ist daher Öllinger zufolge wichtig, nicht darüber zu richten. Das heiße aber nicht, dass man jene, die bei der Wehrmacht gedient haben, verurteile, fügte er hinzu. Diejenigen, die sich gewehrt haben, sollen aber die entsprechende Anerkennung bekommen, schloss Öllinger.

Abgeordneter Peter FICHTENBAUER (F) erläuterte nochmals seinen Standpunkt und führte aus, er hätte im Rehabilitationsparagraphen einen Halbsatz eingefügt, wonach eine Einzelfallprüfung dann erforderlich gewesen wäre, wenn der Akt des Widerstands mit Mord verbunden war. Fichtenbauer vermisste in der gesamten Diskussion die Aufarbeitung der Geschichte der Justiz. Denn viele Richter des Nazi-Regimes hätten sich nach 1945 wieder in Amt und Würden befunden.

Abgeordnete Anna FRANZ (V) meinte, man sei es den Opfern schuldig, dass sie nun rehabilitiert werden. Das Gesetz sei vernünftig und bringe Rechtssicherheit und Klarheit.

Bei der Abstimmung wurde das Bundesgesetz, mit dem ein Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz erlassen wird, mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und Grünen mehrheitlich angenommen. Mit gleicher Stimmenmehrheit passierte der Bericht des Justizausschusses über den Antrag der Grünen zu einem NS-Aufhebungsgesetz den Nationalrat.

(Schluss NS-Gesetze/Forts. NR)