Parlamentskorrespondenz Nr. 190 vom 24.03.2010

Kritische Stimmen zur Strategie Europa 2020

Hauptausschuss diskutiert Themen des kommenden EU-Gipfels

Wien (PK) – Großteils kritische Stimmen seitens der Abgeordneten, wenn auch in unterschiedlicher Nuancierung, gab es heute im Hauptausschuss zur Strategie "Europa 2020". Die von der EU-Kommission ausgearbeitete Strategie steht im Mittelpunkt des kommenden EU-Gipfels am 25. und 26. März 2010 in Brüssel und soll von den Staats- und RegierungschefInnen dort bestätigt werden. Die Regierungsparteien begrüßten zwar grundsätzlich die Zielsetzungen dieser "Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum", stießen sich aber, wie auch die Abgeordneten der Opposition, vor allem an zu starken zentralistischen Tendenzen des Papiers. Eine grundsätzliche Debatte über die Kompetenzen der EU und der Nationalstaaten wird nicht ausbleiben können, das deutete sich auch in der Diskussion im Ausschuss an. Darüber hinaus zeigten sich die Abgeordneten enttäuscht über das Fehlen konkreter Aussagen und Maßnahmen in der gegenständlichen Strategie.

Der Antrag der Grünen auf Stellungnahme, in dem sie die Strategie als verfehlt bezeichnen, wurde von den anderen Parteien abgelehnt. Sie vermissen den notwendigen Kurswechsel mit einer stärkeren Orientierung an sozialen und umweltpolitischen Zielen. Die Kommission hält ihrer Ansicht nach hinter einem scheinbar grüneren und sozialeren Deckmantel an den bisherigen verfehlten Zielsetzungen der Lissabon-Strategie fest. 

Auch der Antrag des BZÖ auf Ausschussfeststellung, wonach sich die Bundesregierung mit Nachdruck gegen Bestrebungen aussprechen soll, die dazu führen, dass die Europäische Kommission künftig in die Planung der nationalen Budgets eingebunden werden soll, fand nicht die erforderliche Mehrheit.

Zweites beherrschendes Thema des Ausschusses waren die budgetären Probleme Griechenlands. Bundeskanzler Werner Faymann betonte, dass ein Beschluss dazu auf dem kommenden Gipfel nicht zu erwarten sei, weil Griechenland aller Voraussicht nach keinen Antrag auf Hilfe stellen wird. Die Griechen erwarteten sich insbesondere politische Unterstützung von den europäischen Partnern.

Strategie Europa 2020 – die Ziele

Kommissionspräsident José Manuel Barroso schreibt in seinem Vorwort zur Mitteilung der Kommission "Europa 2020", die Krise sei ein "Weckruf". Jetzt sei die "Zeit für entschlossenes und ambitioniertes Handeln". Es gehe um mehr Arbeitsplätze und mehr Lebensqualität.

Ziel der Strategie ist es, aus der Krise gestärkt hervorzugehen und die EU in eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft zu verwandeln, die durch ein hohes Beschäftigungs- und Produktionsniveau sowie einen ausgeprägten sozialen Zusammenhalt gekennzeichnet ist. Das Papier spricht in diesem Zusammenhang von einer "Vision der europäischen sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts".

Mit intelligentem Wachstum strebt die EU die Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gestützten Wirtschaft an; die EU setzt in Zukunft auch prioritär auf eine ressourcenschonende, ökologischere und wettbewerbsfähigere Wirtschaft; das Wachstum soll darüber hinaus ein integratives sein. Darunter versteht man die Förderung einer Wirtschaft mit hoher Beschäftigung und ausgeprägtem sozialen und territorialen Zusammenhalt.

In diesem Sinn schlägt die Kommission fünf messbare Leitziele für die EU-Ebene vor, die bis 2020 verwirklicht und in nationale Ziele umgesetzt werden sollen: 75 % der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren sollen in Arbeit stehen; 3 % des BIP der EU sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden; die Klimaschutzziele sollen einschließlich einer Erhöhung des Emissionsreduktionsziels auf 30 % erreicht werden; der Anteil der SchulabbrecherInnen soll auf unter 10 % abgesenkt werden, mindestens 40 % der jüngeren Generation sollen einen Hochschulabschluss haben; die Zahl der armutgefährdeten Personen sollte um 20 Millionen sinken.

7 Leitlinien für diesen Weg sollen für die EU und ihre Mitglieder bindend sein: Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Zugang zu Finanzmitteln für Forschung und Entwicklung ("Innovationsunion"); leistungsfähigere Bildungssysteme und Erleichterungen für Jugendliche beim Eintritt in den Arbeitsmarkt ("Jugend in Bewegung"); Ausbau schneller Internet-Zugangsdienste ("Digitale Agenda für Europa"); Abkoppelung des Wirtschafswachstums von Ressourcennutzung, Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft, Nutzung erneuerbarer Energieträger und Förderung der Energieeffizienz ("Ressourcenschonendes Europa"); Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen, insbesondere für die KMU ("Industriepolitik im Zeitalter der Globalisierung"); Modernisierung der Arbeitsmärkte, Chancen für den lebenslangen Erwerb von Qualifikationen und Erhöhung der Erwerbsquote ("Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten"); Vorteile von Wachstum und Beschäftigung für alle ("Europäische Plattform zur Bekämpfung der Armut").

Die Kommission macht in ihrem Papier deutlich, dass eine stärkere wirtschaftliche Steuerung notwendig sein wird, um Ergebnisse erzielen zu können. Konkret will man dies mit Hilfe des Systems der Länderberichte erreichen. Sie sollen die Mitgliedstaaten unterstützen, eigene Strategien zu nachhaltigem Wachstum und soliden öffentlichen Haushalten auszuarbeiten, heißt es in dem Papier.

Faymann: mehr Gewicht für Armutsbekämpfung und Transaktionssteuer

Bundeskanzler Werner Faymann unterstrich, er unterstütze die Zielsetzungen der Strategie, hätte sich aber eine stärkere Gewichtung bei der Arbeitsbekämpfung und bei der Transaktionssteuer gewünscht. Er kenne aber die Widerstände dazu in anderen Ländern. Der Bundeskanzler unterstrich in diesem Zusammenhang auch, dass eine einigermaßen soziale Budgetkonsolidierung allein ausgabenseitig nicht möglich sei, wenn man die Kaufkraft und den Wirtschaftsstandort nicht gefährden wolle.

Wesentliche Schwerpunkte der Strategie seien weiters Forschung und Entwicklung, sowie Bildung, sowohl in der EU-Politik als auch auf nationaler Ebene. Man müsse nun konkrete Schritte festlegen, denn nur der werde nach der Krise die Nase vorne haben und Kapital schaffen, der rechtzeitig in zukunftsweisende Technologien investiert. Da diese Bereiche in erster Linie nationale Kompetenzen betreffen, werde beim kommenden Gipfel insbesondere die Diskussion darüber geführt werden, wie man bei den unterschiedlichen Systemen in den Nationalstaaten gemeinsam wird vorgehen können.

Spindelegger: Armutsbekämpfung wesentliche Aufgabe

Auch Außenminister Michael Spindelegger hielt die Strategie grundsätzlich für wichtig, weil sie auch eine Weichenstellung vornimmt. Er teilte die Auffassung des Bundeskanzlers, wonach die Armutsbekämpfung eine wesentliche Frage der Politik innerhalb der EU bleiben muss. Er habe sich daher bei den quantitativen Kernzielen dafür eingesetzt, die Armutsbekämpfung aufzunehmen. Schon aus Gründen der politischen Signalwirkung ist es aus seiner Sicht notwendig, die soziale Dimension zu betonen.

Spindelegger begrüßte auch die Kernziele im Bildungsbereich und wies darauf hin, dass die Besonderheiten des österreichischen Bildungssystems berücksichtigt werden. Somit würden etwa Abschlüsse der pädagogischen Hochschulen und anderer postsekundärer Ausbildungen als Abschlüsse im tertiären Sektor anerkannt, was zu einer Gleichbehandlung gegenüber anderer Staaten führen werde.

Der Minister machte prinzipiell klar, dass die Festlegung der Ziele in der Strategie keine Präjudizwirkung auf die nächste Finanzperiode haben werde.

Strategie Europa 2020 – zu viel Eingriff in nationale Kompetenzen?

In der Diskussion ließen die Abgeordneten ihre Enttäuschung darüber durchblicken, dass die EU offensichtlich eine neue Strategie mit zentralistischen Tendenzen plant, während bei der Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte nur wenig weiter geht. So meinte etwa Abgeordneter Josef Cap (S), die Bevölkerung sei in Bezug auf ihre Erwartungen enttäuscht worden. Dass es noch immer keine Regelung der Hedge-Fonds gibt, bedauerte Cap außerordentlich und sah darin einen weiteren Grund für die sinkende Zustimmung der Menschen zur EU.

Dem stimmte auch der Bundeskanzler zu, indem er bedauerte, dass vor allem die Briten im Hinblick auf den Schutz vor übertriebenen Spekulationen nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie andere Länder. Die Briten wollen ihre Finanzplätze nicht gefährden, sagte Faymann und bekräftigte, dass er sich weiterhin für eine Kontrolle der Finanzmärkte und Maßnahmen zur Verhinderung von Spekulationen einsetzen werde.

Ähnlich kritisch äußerte sich Abgeordneter Wolfgang Schüssel (V). Viele Themen, beispielsweise europäische Ratingagenturen und eine Regelung der Finanzmärkte, seien zwar diskutiert, aber nicht umgesetzt worden, bemerkte er. Man müsse sich daher darüber Gedanken machen, wie man in Europa schneller Beschlüsse fassen kann. Schüssel rief zu "extremer Vorsicht" auf, wenn sich die EU nun neue Ziele setzt, denn diese beträfen zum Großteil nationale Kompetenzen, und diesen Ansatz halte er für falsch. Die Frage, wie zentral und wie subsidiär Europa handeln soll, wurde auch von Abgeordnetem Martin Bartenstein (V) thematisiert. Er sprach sich dafür aus, die Entscheidungshoheit im eigenen Land zu verteidigen. Die Ansätze der Strategie hielt er zwar prinzipiell für positiv, einiges darin sei aber nicht akzeptabel.

Was die Zustimmung der Bevölkerung zur EU betrifft, so machte Abgeordneter Schüssel (V) auf die sinkende Anzahl der akkreditierten JournalistInnen in Brüssel aufmerksam. Er halte die Entwicklung für bedenklich, denn dies wirke sich negativ auf eine breite und transparente Berichterstattung aus. Schüssel regte daher an, dazu Überlegungen im Rahmen der Presseförderung anzustellen.

Vom Ansatz einer "zentralen Planwirtschaft" sprach Abgeordneter Johannes Hübner (B) im Hinblick auf die Strategie. Für ihn hat das gemeinsame Europa zur Bewältigung der Krise nichts gebracht, denn diese habe nirgendwo so stark zugeschlagen wie in Europa. Dem widersprach der Bundeskanzler heftig, indem er meinte, ohne EU wäre es nicht besser, sondern wesentlich schlechter gegangen, und vieles wäre nicht gelungen. Hübner zog für die Ablehnung zentral gesteuerter Strategien Italien als negatives Beispiel heran. Man habe dort versucht die Kluft zwischen Nord und Süd zu schließen, was im Süden zu noch mehr Kriminalität und Korruption geführt habe.

Als weitgehend belanglos bezeichnete Abgeordneter Alexander Van der Bellen (G) den Entwurf für die Schlussfolgerungen. Die Agenda enthalte einige vernünftige und andere weniger vernünftige Zielsetzungen, er habe aber angesichts der vorgelegten Schlussfolgerungen das Gefühl, der Europäische Rat habe wenig Lust, sich damit zu befassen.

Abgeordneter Ewald Stadler (B) appellierte, Österreich solle sich gegen die Versuche der Bevormundung zur Wehr setzen. Das Strategiepapier der Kommission sah er als eine "visualisierte Ratlosigkeit". Die EU werde sich auf den Weg begeben, an der Straße zu scheitern. Ihn erinnere das Programm an die großen Parteitage der KPdSU, wo man auch geglaubt habe, auf Parteitagen wirtschaftliche Entwicklungen beschließen zu können. Die Kommission müsse die Probleme dort angehen, wo sie entstanden sind, nämlich bei den Finanzmärkten und bei jenen Ländern, die falsche Daten liefern, sagte er.

Die Abgeordneten übten auch Kritik sowohl am Mangel konkreter Maßnahmen als auch an einigen Zielen. So meinte Abgeordnete Christine Muttonen (S), ihr fehle die richtige Balance zwischen Wirtschaft und Sozialem. Armutsbekämpfung sei ein wesentliches Ziel, weshalb trotz einiger Widerstände die Kernziele nicht verwässert werden dürften. Bei der Beschäftigung dürfe es nicht nur um die Quantität der Beschäftigung, sondern auch um die Qualität gehen. Muttonen sprach damit die große Zahl der "Working Poor" an. Im Hinblick auf die Beschäftigung müsse man ein besonderes Augenmerk auf die Jugendlichen und auf die Frauen wenden, um für eine bessere Einkommensgerechtigkeit zu sorgen, sagte sie. Abgeordneter Werner Kogler (G) forderte die Einführung europäischer Mindeststandards in der Sozialpolitik. Er hätte sich bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise mehr gemeinsame Kompetenzen gewünscht.

Abgeordneter Johannes Hübner (F) hielt eine quantitative Festlegung einer Akademikerquote für falsch, da es um Qualifikationen gehen müsse und darum, was am Arbeitsmarkt gefragt ist. Außerdem wisse man, dass vor allem jene Personen Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben, die über keine Qualifikationen verfügen. Diese Auffassung wurde vom Europaabgeordneten Andreas Mölzer (F) geteilt. Er warnte davor, AkademikerInnen am Markt vorbei zu produzieren und appellierte, gegen das Lohndumping vorzugehen. (Fortsetzung)