Parlamentskorrespondenz Nr. 272 vom 21.04.2010

Aktuelle Stunde über Gewalt und sexuellen Missbrauch

Grüne fordern von der Regierung konkrete Maßnahmen

Wien (PK) – "Missbrauch in der Kirche: Was macht die Regierung für die Betroffenen?" lautet das Thema, das die Grünen für die Aktuelle Stunde ausgewählt hatten, mit der heute die Sitzung des Nationalrats eröffnet wurde. Die Grünen hätten dieses Thema gewählt, weil sie darum auch von Betroffenen ersucht worden seien und weil nicht diskutiert werde, wie den Betroffenen konkret geholfen werden könne, sagte einleitend Abgeordneter Albert STEINHAUSER (G). Er kritisierte, dass zum "Runden Tisch" von Justizministerin Claudia Bandion-Ortner und Familien-Staatssekretärin Christine Marek Opfer nicht eingeladen worden seien. Auch in staatlichen Heimen habe es systematische Gewalt gegeben, davon sei aber überhaupt nicht die Rede gewesen.

Steinhauser richtete vier Forderungen an die Bundesregierung: Erstens müsse endlich mit den Betroffenen geredet werden; weiters sollten direkte Verhandlungen mit der katholischen Kirche zur Einrichtung eines Opferfonds aufgenommen werden, in den die Kirche einzahle; drittens sollte eine staatliche Untersuchungskommission zur Untersuchung von Gewalt und sexuellem Missbrauch eingerichtet werden, die sich umfassend, interdisziplinär und proaktiv dieses Themas annehme; schließlich sollte nach internationalem Vorbild eine unabhängige Opfer-Hotline eingerichtet werden. Steinhauser sprach sich für überfraktionelle Kooperation in der Sache aus, wobei es einzig darum gehen dürfe, den Opfern zu helfen.

Missbrauch und Gewalt an Kindern sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, daher seien alle gesellschaftlichen Kräfte gefordert, erklärte Justizministerin Claudia BANDION-ORTNER in ihrer Stellungnahme. Man sollte auch nicht "verschiedene Klassen von Opfern" schaffen. Die Ministerin stellte dann die Ergebnisse vor, die der Runde Tisch erbracht habe: Kontaktstellen bei den Staatsanwaltschaften, Ombudsstellen bei der Justiz, Kompetenzzentren, ein interministerielles ExpertInnenteam und den Ausbau der MÖWE-Hotline. Der Staat kümmere sich auch um Fälle in der Vergangenheit; der Justiz sei es "egal", aus welchem Bereich die TäterInnen stammten.

Einig zeigte sich Bandion-Ortner mit Kardinal Christoph Schönborn, dass es bei Kindesmissbrauch keine Nachsicht geben könne. Schon jetzt tue der Staat viel für die Opfer, betonte sie, und erinnerte an das 2. Gewaltschutzpaket. Österreich sei europaweit "Vorreiter beim Opferschutz", worauf man mit Fug und Recht stolz sein dürfe. Geld allein könne aber seelische Wunden nicht heilen, gab die Ministerin zu bedenken, und forderte bei diesem Thema, das für Populismus nicht geeignet sei, Sensibilität ein.

Das Thema Gewalt und Missbrauch eigne sich nicht für Politisierung, knüpfte Abgeordneter Johannes JAROLIM (S) an die Ministerin an; doch gebe es eine gemeinsame Verantwortung, damit umzugehen. Er sprach sich dagegen aus, sexuellen Missbrauch und Gewalt in einen Topf zu werfen; Missbrauch sei immer der Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses. Er begrüßte, dass Kardinal Schönborn sich von Anfang an klar zur Verantwortung bekannt habe und trat für eine weitere Kommission ein; die Klasnic-Kommission reiche nicht. Wie die Grünen forderte Jarolim einen Opferfonds, in den hauptsächlich die Verursacher einzahlen müssten.

Abgeordneter Fritz NEUGEBAUER (V) begann seine Wortmeldung mit einer Respektbezeugung gegenüber den Opfern, vor allem gegenüber jenen, die nach oft langer Zeit die Kraft gefunden hätten, über ihre Verletzungen zu reden. Die entstandene Offenheit dürfe jetzt "nicht zugeschüttet" werden. In Verantwortung für die heranwachsende Generation sei Präventionsarbeit zu leisten. Er sei dankbar, sagte Neugebauer weiter, sowohl dem Kardinal für dessen offene Worte als auch Waltraud Klasnic, dass sie die Arbeit mit der Kommission übernommen habe. Neugebauer nannte die Nummer einer Opferhotline – 0800 80 80 88 -, forderte Zusammenarbeit ein und bekannte sich zu "Null Toleranz" bei sexuellem Missbrauch und Gewalt an Kindern.

Für Sensibilität und Respekt gegenüber den Opfern sprach sich auch F-Abgeordneter Peter FICHTENBAUER aus. Für Misstrauen gegenüber der Klasnic-Kommission gebe es keine Ursache, man sollte der ehemaligen Politikerin auch nicht "ein parteipolitisches Paket auf den Rücken schnallen". Heftige Kritik übte der Politiker an den Grünen und deren Ideengeschichte; Fichtenbauer erinnerte daran, dass die Grünen 1985 im deutschen Bundestag darauf hingewirkt hätten, die Strafbarkeit des sexuellen Umgangs mit Kindern aufzulösen. Außerdem warf er den Grünen vor, auf eine "tragende Säule der gesellschaftlichen Ordnung", die katholische Kirche, loszugehen.

Abgeordnete Daniela MUSIOL (G) sah in den Vorwürfen Fichtenbauers eine "übliche Variante des Verhetzens" und rückte das Anliegen der Grünen in den Mittelpunkt: den Opfern zu helfen. Sie kritisierte, dass die Themenstellung beim Runden Tisch ausdrücklich auf sexuellen Missbrauch in der Familie eingeschränkt worden sei, es aber auch um Betroffene von Gewalt in kirchlichen und nichtkirchlichen Einrichtungen gehe. Auf diese bezogen gebe es kein Gesprächsangebot und kein Interesse an Aufklärung. Die genannte Einrichtung MÖWE sei für diese Aufgabe nicht ausgestattet, daher brauche es eine unabhängige Opferhotline.

Die Menschen, die die Debatte im Fernsehen verfolgten, könnten nicht verstehen, wie die Abgeordneten sich über dieses Thema in die Haare geraten könnten, stellte BZÖ-Klubobmann Josef BUCHER fest. Im Zusammenhang mit dem Runden Tisch richtete er an die Justizministerin die Frage, weshalb nicht auch das Parlament einbezogen worden sei. Es handle sich nicht um ein Rand-, sondern um ein "massives" Thema, was eine Dunkelziffer von 20.000 Fällen pro Jahr belege. Bucher sah den Gesetzgeber gefordert, "ordentliche Gesetze" zu machen, dies sei der beste Opferschutz: Täter müssten "kategorisch abgeschreckt" werden. Es sei unverständlich, dass Mord an der Seele von Kindern verjähre und dass das Zu-Tode-Quälen von Kindern nur mit einer Haftstrafe von zehn Jahren bedroht sei.

Mit tiefem Bedauern für die Opfer von Gewalt und Missbrauch begann Frauenministerin Gabriele HEINISCH-HOSEK ihre Stellungnahme. Seitens der Bundesregierung gebe es für diese Menschenrechtsverletzungen absolut keine Toleranz, betonte sie. Bezüglich der Opfer in kirchlichen Einrichtungen erinnerte sie an das jüngste Treffen des Bundeskanzlers mit Kirchenvertretern, bei dem Kardinal Schönborn dem Kanzler "Leitlinien" übergeben habe. Die Regierung verharmlose nicht, sondern setze Maßnahmen. Therapien würden sichergestellt, es gebe die Opferhotline des Weißen Rings, in allen Bundesländern gebe es Gewaltschutzzentren. Auch über Gesetze, Verjährungsfristen und Strafrahmen werde zu diskutieren sein. Außerdem gelte es, Mittel für die Prozessbegleitung von Opfern und für Beratungseinrichtungen auch für die Zukunft sicher zu stellen, sagte Heinisch-Hosek.

Abgeordnete Gabriele BINDER-MAIER (S) sah das Problem darin, dass bei Missbrauchsfällen in geschlossenen Organisationen wenig nach außen dringe und Jeder Jeden decke. Erst in den letzten Monaten fanden im Bereich der katholischen Kirche viele Betroffene, in der Mehrzahl Buben und junge Männer, den Mut, ihre Angst und Hilflosigkeit zu überwinden und sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Es gelte daher grundsätzlich, die Persönlichkeiten der Kinder zu stärken und die Kontrollen in geschlossenen Einrichtungen zu verstärken, sagte die Abgeordnete, die auch auf die besonderen Gefahren hinwies, denen Menschen in Pflegeeinrichtungen ausgesetzt seien. Die Abgeordnete unterstützte Forderungen nach angemessenem Schadenersatz für Betroffene, verlangte mehr Mittel für Kinderschutzzentren und warnte davor, Gewalt gegen Kinder und sexuellen Missbrauch von Kindern als ein Kavaliersdelikt zu betrachten.

Abgeordneter Heribert DONNERBAUER (V) sprach von abscheulichen Verbrechen und von seelischen Wunden bei den Betroffenen, die oft ein Leben lang nicht verheilen. Daher habe sich der Staat mit dem Thema Kindesmissbrauch auseinander zu setzen und den Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft vor Gewalt und sexuellen Übergriffen zu stärken. In den letzten Jahren sei auf diesem Gebiet viel geschehen, führte der Redner aus und erinnerte an die Erhöhung des Strafrahmens, die Verlängerung der Tilgungsfristen bei Sexualstrafdelikten, an die Einrichtung einer Sexualstraftäterdatei und an die Möglichkeit für die Gerichte, Tätigkeitsverbote zu verringern. Die ÖVP sei bereit, über weitere Maßnahmen zu diskutieren.

Abgeordneter Johannes HÜBNER (F) konfrontierte die Grünen mit einem Zitat aus einem Buch des Vorsitzenden der Grünen Fraktion im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, in dem dieser von sexuellen Erfahrungen als Erwachsener mit Kindern berichtet. Die europäischen Grünen hätten 2002 Cohn-Bendit im Wissen darum zu ihrem Vorsitzenden im Europaparlament gewählt, kritisierte der Abgeordnete und schloss mit einem Zitat aus der Bibel: "Was schaust du auf den Splitter im Auge deines Bruders, wenn du den Balken im eigenen Auge nicht siehst".

Abgeordnete Helene JARMER (G) zeigte sich erschüttert über Versuche, das Leid von Menschen, die zum Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, zum Anlass für parteipolitische Polemiken zu nehmen. Ihre Kritik richtete sich gegen die Art, in der die katholische Kirche in der Vergangenheit mit Missbrauchsfällen umgegangen sei. Jarmer erinnerte an einen Fall, in dem ein Mann nach einem nachgewiesenen sexuellen Übergriff als Betreuer in eine Behinderteneinrichtung versetzt wurde. Aus diesem Anlass wies die Rednerin darauf hin, dass die Quote sexueller Übergriffe gegenüber Menschen, die in Behindertenheimen untergebracht sind, besonders hoch sei. Besonders betroffen seien Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten und auch Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich sprachlich zu artikulieren. Abgeordnete Jarmer erinnerte an die speziellen Schutzbestimmungen für behinderte Menschen in der UN-Menschenrechtskonvention und erkundigte sich nach den diesbezüglichen Vorhaben der Justizministerin. 

Abgeordneter Ewald STADLER (B) warf den Grünen vor, die Missbrauchsdebatte parteipolitisch zu missbrauchen und machte darauf aufmerksam, dass die überwiegende Zahl von Missbrauchsfällen gegenüber Behinderten in öffentlichen Heimen stattfinde. Stadler warnte auch davor, das Missbrauchsthema für Angriffe auf die katholische Kirche zu missbrauchen oder damit Kirchenpolitik zu betreiben. Der Zölibat habe mit den Missbrauchsfällen nichts zu tun, meinte Ewald Stadler und wandte sich entschieden dagegen, Stimmung gegen die Kirche zu machen. Die Grünen sollten sich fragen, ob in Wahrheit nicht jene libertären Tendenzen im Zeichen der sexuellen Revolution für jene Entwicklung verantwortlich seien, die sie nun wortreich beklagten. Stadler würdigte die Bildungsarbeit der Kirche und das Engagement der Caritas bei der Betreuung und Hilfe vieler Missbrauchsopfer.

Abgeordneter Josef JURY (o.F.) forderte die Abgeordneten auf, das Thema Kindesmissbrauch sachlich zu debattieren und die Anliegen der Missbrauchsopfer in das Zentrum der Diskussion zu stellen. Der Abgeordnete wies auf die schweren seelischen Verletzungen hin, unter denen Missbrauchsopfer oft ein Leben lang leiden, und appellierte angesichts von 20.000 Missbrauchsopfern pro Jahr an den Nationalrat, Maßnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs von Kindern zu ergreifen. Jury wandte sich gegen die vorzeitige Entlassung inhaftierter Sexualstraftäter und plädierte für die Verhängung abschreckender Strafen. (Schluss)