Parlamentskorrespondenz Nr. 521 vom 24.06.2010

Im Mittelpunkt steht das Wohl des Kindes

Parlamentarische Enquete zum Thema Obsorge und Unterhalt

Wien (PK) – "Im Mittelpunkt steht das Wohl des Kindes". Diese Prämisse wurde gleich zu Beginn der Parlamentarischen Enquete, die sich mit den Problemfeldern Obsorge und Unterhalt beschäftigte, von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer ebenso außer Frage gestellt wie von Justizministerin Claudia Bandion-Ortner und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek. Während sich jedoch die Justizministerin für eine automatische gemeinsame Obsorge aussprach, weil diese deeskalierend wirke und die Kinder Anspruch auf beide Elternteile hätten, zeigte sich die Frauenministerin skeptisch gegenüber einer "Zwangsbeglückung", wie sie die verpflichtende gemeinsame Obsorge nannte. Sie trat eher dafür ein, bei einvernehmlichen Scheidungen die Besuchszeiten gleich mitzuregeln und bei strittigen Scheidungen eine verpflichtende Elternberatung vorzusehen. Einig war man sich darin, dass die Verfahren abgekürzt werden müssen.

Zur Enquete mit dem Titel "Konflikten konstruktiv begegnen – aktuelle Herausforderungen im Familienrecht" waren zahlreiche Expertinnen und Experten geladen. Sie diskutierten die Themenbereiche Obsorge, Besuchsregelung und Unterhalt.

Prammer: Scheidungskinder bestmöglich unterstützen

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer bezeichnete das Familienrecht als eine der sensibelsten Materien, mit der man sich in der politischen Tätigkeit zu befassen hat. Die diesbezüglichen Regelungen beeinflussten das tagtägliche Zusammenleben der Menschen und damit ihr privates Lebensumfeld, sagte Prammer.

Die Familienstrukturen seien komplexer, vielfältiger und individueller geworden, betonte sie, und die Zahl der Alleinerziehenden - 296.000 Personen, davon 85 % weiblich - würden genauso steigen wie die Zahl der Lebensgemeinschaften und die Scheidungsrate, die mittlerweile 48 % beträgt. Die Politik sei daher gefordert, das Zusammenleben der Menschen rechtlich, soweit dies notwendig ist, auch abzusichern und ihnen die Möglichkeit zu geben, individuelle Situationen bestmöglich zu regeln. Dadurch komme auch die Wertschätzung der Politik für die vielfältigen Lebensformen zum Ausdruck.

Bei all diesen Anforderungen ist es laut Prammer jedoch unbedingt notwendig, immer das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt zu rücken und die Interessen der Erwachsenen ein Stück zurück zu nehmen. Jährlich seien ca. 21.000 Kinder und Jugendliche von der Scheidung der Eltern betroffen und diese gelte es, bestmöglich zu unterstützen, unterstrich die Nationalratspräsidentin.

Bandion-Ortner: Automatische gemeinsame Obsorge wirkt deeskalierend

Auch Justizministerin Claudia Bandion-Ortner ließ in ihrer einleitenden Stellungnahme keinen Zweifel daran, dass es in erster Linie um die Rechte der Kinder geht. Vielfach würden jedoch Rosenkriege auf dem Rücken der Kinder ausgetragen und die Eltern versuchten, diese bei ihrer Auseinandersetzung zu instrumentalisieren. Man müsse daher, so die Justizministerin, in den Köpfen der Leute etwas verändern und ihnen bewusst machen, was sie mit ihrem Verhalten bei den Kindern anrichten.

Bandion-Ortner sprach sich dezidiert für eine automatische gemeinsame Obsorge nach der Scheidung aus. Kinder hätten Anspruch auf beide leiblichen Elternteile auch nach der Scheidung, hielt sie fest, und man müsse auch bedenken, dass sich die Rolle der Eltern in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert hat. Einerseits würden Väter mehr elterliche Verantwortung übernehmen, andererseits seien immer mehr Mütter berufstätig. Laut Justizministerin belegen Studien, dass eine gemeinsame Obsorge deeskalierend wirkt, auch wenn sie nicht vereinbart wird. Dies sei deshalb der Fall, weil Eltern dann nicht um ihre Rechte kämpfen müssen und ein Elternteil von der Betreuung des Kindes nicht ausgeschaltet wird. Selbstverständlich sei eine gemeinsame Obsorge dann nicht vorgesehen, wenn diese dem Kindeswohl widerspricht, ergänzte die Ministerin. Die positiven Auswirkungen der automatischen gemeinsamen Obsorge würden auch durch die Erfahrungen jener Länder, in denen es diese gibt, bestätigt. Das sei etwa in der Schweiz, in den Skandinavischen Ländern und in Deutschland der Fall. Aus Deutschland wisse man, dass die Unterhaltstreitigkeiten massiv gesunken sind, die Kontakte zwischen beiden Eltern und Kindern sich jedoch enger gestalten.

Bundesministerin Bandion-Ortner sah auch beim Besuchsrecht Verbesserungsbedarf. Es gehe darum zu verhindern, erläuterte sie, dass ein Elternteil das Kind oft monatelang nicht zu Gesicht bekommt. Sie sei daher um eine Beschleunigung des Verfahrens im Hinblick auf das Besuchsrecht bemüht und plane die Familiengerichtshilfe und die Mediation auszubauen. SozialarbeiterInnen und MediatorInnen sollten vermehrt Gespräche mit Eltern führen, womit vieles nicht vor Gericht gebracht werden müsste.

Auch bei nicht verheirateten Eltern hätten Kinder Anspruch auf beide Eltern, stellte die Justizministerin in weiterer Folge fest. Uneheliche Väter müssten vermehrt in die Verantwortung einbezogen werden, wobei man dabei aufpassen müsse, damit Frauen den Vater aus Angst vor der gemeinsamen Obsorge nicht bekannt geben. Hier sei aber noch vieles in Diskussion, erklärte Bandion-Ortner, und man werde auch noch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abwarten.

Was den Unterhaltsvorschuss betrifft, so habe das Familienrechtsänderungsgesetz 2009 positive Änderungen gezeigt, erläuterte die Justizministerin. Seither gebe es um 29 % mehr Unterhaltsvorschüsse.

Abschließend betonte Bandion-Ortner, ihr gehe es darum, gemeinsam ein Familienrecht zu schaffen, das das Wohl der Kinder stärkt.

Heinisch-Hosek: Im Scheidungsverfahren auch Besuchsrecht mitregeln

Angesichts der steigenden Zahl der Beratungsfälle, der Erfahrungen in den Frauenhäusern und der zunehmenden Probleme der Jugendwohlfahrt zeige sich die Notwendigkeit, das Familienrecht im 21. Jahrhundert neu zu bewerten, stellte Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek am Beginn ihrer Ausführungen fest. Seit der großen Familienrechtsreform der 70er Jahre habe sich die Lebenssituation sowohl der Erwachsenen als auch der Kinder geändert, und nun habe die Politik die Verantwortung, darauf zu antworten. Auch sie bekräftigte, die ganze Debatte sei unter dem Aspekt des Kindeswohls zu führen und die Bedürfnisse der Erwachsenen müssten dem untergeordnet werden.

Im Gegensatz zu ihrer Regierungskollegin zeigte sich die Frauenministerin jedoch skeptisch hinsichtlich der positiven Wirkung einer automatischen gemeinsamen Obsorge nach der Scheidung. 90 % aller Scheidungen würden einvernehmlich vorgenommen, argumentierte Heinisch-Hosek, bei der Hälfte davon werde eine gemeinsame Obsorge vereinbart. Diese Zahlen belegten, dass die derzeitige Rechtslage funktioniere, weshalb sie keine Notwendigkeit für eine diesbezügliche Änderung sah. Wenn keine gemeinsame Obsorge beantragt wird, wird es dafür gute Gründe geben, meinte sie.

Sie bezweifle jedenfalls, dass die gemeinsame Obsorge die Lösung der Probleme bringen kann. Ihrer Meinung nach handelt es sich dabei eher um eine Zwangsbeglückung und um einen Harmonisierungsversuch per Gesetz. Nachdem sich die Aufteilung bei den Betreuungspflichten zwischen Frauen und Männern in der Erziehung während der letzten 15 Jahre kaum geändert habe, beide Elternteile aber große Herausforderungen im jeweiligen Beruf zu bewältigen haben, herrsche in der familiären Lebensrealität noch immer ein großes Ungleichgewicht. Es sei daher unverständlich, bemerkte Heinisch-Hosek, warum dieses Verhältnis nach der Scheidung durch eine Art Zwangsharmonisierung ausgeglichen werden sollte.

Was nicht passieren dürfe, sagte die Frauenministerin, sei jedoch, dass die Besuchsregelungen so lange dauern, dass eine Entfremdung zwischen Kindern und Eltern entsteht. Sie befürwortete auch eine umfassende Familienrechtsreform. Stückwerk sollten vermieden werden.

Heinisch-Hosek plädierte daher dafür, bei einvernehmlichen Scheidungen neben Unterhalt, Aufenthaltsort und Obsorge gleichzeitig auch das Besuchsrecht zu regeln. Bei strittigen Scheidungen sollten die RicherInnen vermehrt Besuchsregelungen vorschreiben, schlug die sie vor und deponierte ihr klares Nein zur verpflichtenden gemeinsamen Obsorge. Sie glaube nicht, dass diese deeskalierend wirkt. Vielmehr sollte es bei strittigen Scheidungen eine verpflichtende Elternberatung geben. Heinisch-Hosek konnte sich auch die Ausweitung der Besuchscafes und der Modelle zur Begleitung vorstellen. Man könnte ihrer Meinung nach auch überlegen, eine Abkühlphase vorzusehen, wenn sich Eltern über die Obsorge nicht einig sind.

Heinisch-Hosek unterstützte jedoch die Justizministerin in der Auffassung, dass die Verfahren unbedingt beschleunigt werden müssen. Es könne nicht sein, dass diese mehrere Jahre dauern, sagte sie, man werde wohl eine angemessene Zeit vorsehen müssen.

HINWEIS: Fotos von der Enquete finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at

(Fortsetzung)