Parlamentskorrespondenz Nr. 1020 vom 04.11.2011

Europäische Visionen für die Energiezukunft

EU-Kommissar Oettinger für effiziente transeuropäische Energienetze

Wien (PK) – "Die Energieversorgung der Zukunft" lautete der Titel einer Diskussionsveranstaltung, zu der heute Vormittag Nationalratspräsidentin Barbara Prammer gemeinsam mit dem Zweiten Präsidenten Fritz Neugebauer und der Interessenvertretung der E-Wirtschaft, "Österreichs Energie", in das Parlament einluden. Präsident Fritz Neugebauer begrüßte in Vertretung der Nationalratspräsidentin die Teilnehmer, allen voran den EU-Kommissar für Energie, Günther Oettinger, die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert, den Präsidenten von "Österreichs Energie", Peter Layr, und die Energiesprecher der Parlamentsparteien, Wolfgang Katzian (S), Peter Haubner (V), Werner Neubauer (F), Christiane Brunner (G) und Rainer Widmann (B). Für die Moderation der Veranstaltung sorgte Manuela Raidl (PULS 4).

In seinen Begrüßungsworten erinnerte Präsident Neugebauer an die große Aufmerksamkeit, die sowohl der Hauptausschuss des Nationalrates als auch der EU-Ausschuss des Bundesrates der Europäischen Strategie 2020 und den Klimaschutz- und Energiezielen "20:20:20" widmen. Die Energieversorgung Österreichs hat einen hohen Standard, hielt Neugebauer fest, sprach sich aber angesichts der Klimaschutzziele, das absehbaren Endes fossiler Energieträger und des immer weiter steigenden Energiebedarfs nachdrücklich dafür aus, sich seitens der Politik intensiver als bisher mit dem Thema Energiepolitik auseinanderzusetzen.

Der Präsident von "Österreichs Energie", Peter Layr, dankte namens seiner Organisation für die Gelegenheit, dieses Diskussionsforum im Parlament abhalten zu können. Layr wies auf die kräftigen Impulse hin, die Deutschland mit seinen Beschlüssen für einen Atomausstieg für die Energiewende gegeben hat. In Österreich sei das schon lange eine Thema, sagte Layr und machte auf den hohen Anteil der Wasserkraft am Energieaufkommen Österreichs und auf die Bereitschaft der Stromkunden aufmerksam, diesen Weg mitzugehen. Derzeit arbeite die Elektrizitätswirtschaft an einem "Aktionsprogramm 2012", das auf einen massiven Ausbau erneuerbarer Energieträger und auf die Steigerung der Energieeffizienz abziele. An den Gesetzgeber richtete Präsident Layr in diesem Zusammenhang den Appell, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die den Investoren in der Energiewirtschaft eine entsprechende Verzinsung des Kapitals ermöglichen, das sie für die Energiewende einsetzen.

Günter Oettingers Energievisionen für Europa  

EU-Energiekommissar Günther Oettinger sprach über "Investitionen und Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Energieversorgung in Europa" und leitete seine Ausführungen mit dem Hinweis auf die wichtige geostrategische Lage Österreichs an einem Nord-Süd- und West-Ost-Schnittpunkt des Kontinents ein, die dem Land eine entscheidende Rolle in einer kooperativen Energiepolitik für Europa zuweise. Energiepolitik sei eines der Gründungsthemen der Europäischen Gemeinschaft gewesen, erinnerte Oettinger und nannte die Montanunion und den EURATOM-Vertrag. Seit nunmehr 15 Jahren steht Energiepolitik wieder ganz oben auf der Prioritätenliste der EU, stellte Oettinger fest und plädierte dafür, den Energiebinnenmarkt bis 2014 zu vollenden, wie es das Ziel des Dritten Energiebinnenmarktpakets darstellt.

Kritisch sah der EU-Kommissar die große und weiter steigende Importabhängigkeit der Europäischen Union bei Energie, wodurch die Abhängigkeit von den Lieferanten und Erpressbarkeit der EU zunehme. Für Oettinger gelte es daher, gemeinsam aufzutreten, um der Gefahr entgegenzuwirken, dass einzelne europäische Staaten gegeneinander ausgespielt werden.  

Europa verfüge über eine hervorragende Versorgungssicherheit bei Energie, kaum jemand müsse hier an die Gefahren denken, die ein Stromausfall für S-Bahn- oder Aufzugbenützer, für Patienten in Operationssälen oder für die Industrie bedeuten können. Diese Versorgungssicherheit bei Energie sichere die wirtschaftliche Standortqualität Europas und die Lebensqualität seiner Bewohner, stellte der EU-Kommissar fest.

Nicht ebenso gut sei es um die Nachhaltigkeit der Europäischen Energieversorgung bestellt. Oettinger äußerte sich pessimistisch über die Chancen, eine globale Klimaschutzvereinbarung zu treffen, weil etwa China darauf hinweisen könne, dass der Energiebedarf jedes Chinesen im Durchschnitt weit unter dem eines Europäers liegt. Die Energiemenge, mit der ein Chinese ein Jahr lang auskomme, würde für einen Europäer nur bis zum 20. Februar reichen, sagte Oettinger pointiert.

Die Energiekosten haben große Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Als Wettbewerbskriterium haben sie die Arbeitskosten sogar schon abgelöst, sagte Oettinger und sah die Energiepolitik als einen wesentlichen Faktor der Industriepolitik. Obwohl der Lissabonvertrag eine umfassende Energiekompetenz für die Europäische Union gebracht hat, bleiben Entscheidungen über den jeweiligen Energiemix in der Hand der Mitgliedsländer. Deutschland wird in 10 Jahren keine AKW mehr haben, während Frankreich 76 % seiner Elektrizität mit AKW produziert und Polen in die Atomstromproduktion einsteige, um seine Abhängigkeit von der Braunkohle zu reduzieren. Tschechien wiederum produziere Atomstrom, um diesen zu exportieren, führte Oettinger aus.

Europa braucht eine neue effizientere Energieinfrastruktur, die es erlaubt, Energie in Europa arbeitsteilig herzustellen, zeigte sich der EU-Energiekommissar überzeugt. Europa braucht Energienetze für Gas und Strom, es braucht transeuropäische Energienetze, die es möglich machen, Wind-Strom aus dem Norden in den Süden und Solarstrom aus dem Süden in den Norden zu transportieren und gleichzeitig die Pumpspeichermöglichkeiten in den Alpen und auf dem Balkan zu nutzen. Griechenland solle in Zukunft nicht nur Schafkäse und Olivenöl exportieren, sondern auch Solarstrom, den es mit seinen über 2.000 Sonnenstunden pro Jahr erzeugen kann. Eine paneuropäische Infrastruktur soll für EU-Kommissar Oettinger keineswegs am Mittelmeer enden; Oettinger plädierte vielmehr dafür, Ländern wie Tunesien, Libyen, Algerien und Ägypten Angebote zur Nutzung ihrer Solarenergiekapazitäten zu machen, wobei Oettinger auf das Projekt DESERTEC hinwies. Das wäre ein Beitrag zur wirtschaftlichen Prosperität und zum Frieden in dieser Region, sagte Oettinger.

Ein wichtiges Element der europäischen Energiepolitik sei das Energiesparen und die Steigerung der Energieeffizienz, insbesondere durch die thermische Sanierung alter Gebäude, sagte Oettinger und äußerte die Befürchtung, dass die Energieeffizienz bis 2020 nicht – wie geplant - um 20 %, sondern nur um maximal 14 % gesteigert werden könne. Während Automobile dem Fahrer bereits genau anzeigen, wie viel Benzin oder Diesel er verbrauche, oder Telekomfirmen ihren Kunden detaillierte Abrechnungen bieten, wissen die Stromverbraucher immer noch nicht, dass es wirtschaftlich sinnvoll wäre, Wäsche nicht tagsüber, sondern in der Nacht zu waschen oder alte Kühlschränke durch energiesparende neue Modelle zu ersetzen. Oettinger setzt auf den intelligenten Stromverbraucher und hält Maßnahmen zur besseren Information der Konsumenten für dringend notwendig.   

Kommissar Oettinger vermisst derzeit eine Investitionskonjunktur auf dem Energiesektor. Es werde zu wenig in Forschung und Transport investiert. Finanzinvestoren sollten durch eine höhere Planungssicherheit motiviert werden, in die Energieinfrastruktur zu investieren.

Große Bedeutung maß der EU-Kommissar dem Energieträger Gas zu, weil es sei flexibel einsetzbar und deutlich umweltfreundlicher als Kohle und Öl sei und wesentlich länger zur Verfügung stehen werde als andere fossile Energieträger. Oettinger plädierte aber dafür, die bestehende Abhängigkeit von wenigen Gaslieferanten zu reduzieren, neue Gasleitungen zu bauen und Gaspartnerschaften mit Lieferländern wie Aserbeidschan einzugehen, um zu vermeiden, dass Russland zum Generalexporteur für Gas aus Asien nach Europa werde. Eine nachhaltige Energieversorgung für Europa ist wichtig für die europäische Industrie und für die Lebensqualität der Europäer, schloss EU-Energiekommissar Günther Oettinger.

Deutschland als Pionier der Energiewende für die EU

Die Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert, berichtete von dem Umdenkprozess in der Atompolitik, zu dem die Katastrophe in Japan in Deutschland geführt hat. Der aktuelle Ausstiegsplan in Deutschland sehe vor, alle Kernkraftwerke in Deutschland bis 2022 abzuschalten. Doch es gehe bei der Energiewende nicht nur um den Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch um den Ausstieg aus der Kohle, hielt Kemfert fest. In Deutschland werden über 40 % des Stroms aus Kohle gewonnen, rechnete die Expertin vor und befürchtete, dass mit dem Rückgang der Atomenergie der Kohleanteil am Strommix wieder auf über 50 % klettern könnte. Kohlekraftwerke passen aber nicht in das Konzept der nachhaltigen Energiewende: Sie produzieren deutlich mehr klimagefährdende Treibhausgase als andere Energieträger. Als Übergangslösung wären Gaskraftwerke deutlich besser geeignet. Sie sind nicht nur emissionsärmer, sondern auch besser mit den fluktuierenden erneuerbaren Energien kombinierbar, weil man Gasanlagen flexibel ein- und ausschalten kann.

Das Ziel der deutschen Bundesregierung, in den kommenden vier Jahrzehnten den Anteil der erneuerbaren Energien von heute 17 % auf 80 % zu erhöhen, ist technisch machbar. Allerdings müssen dazu gleichzeitig die Netze deutlich ausgebaut und vor allem deutlich mehr Stromspeicher geschaffen werden. Genauso wichtig wie das Angebot ist jedoch die Nachfrage. Je weniger Energie wir verbrauchen, desto weniger abhängig machen wir uns von den immer knapper und teurer werdenden fossilen Energien, analysierte die Expertin.

Die Energiewende ist also technisch machbar. Aber ist sie auch wirtschaftlich sinnvoll, fragte die Ökonomin. "Isoliert sich Deutschland dabei völlig? Droht eine Deindustrialisierung, müssen wir mit Blackouts und mit Strompreisexplosionen leben?" - Solchen Horrorvisionen, wie sie von interessierter Seite an die Wand gemalt werden, erteilte Claudia Kemfert eine klare Absage. Richtig sei vielmehr: Die Welt schaue manchmal skeptisch, meist jedoch mit großem Interesse auf Deutschland. Eine Deindustrialisierung wird es definitiv nicht geben, im Gegenteil. Gerade die wichtigen Zulieferindustrien der erneuerbaren Energien und der nachhaltigen Mobilität profitieren von der Energiewende. Auch Blackouts sind unwahrscheinlich, wenn ausreichend in Netze und fossile Kraftwerke investiert wird. Der Strompreis wird nur moderat steigen, da die Energiewende neben preistreibenden auch preissenkende Faktoren mit sich bringe.

Eine zentrale Frage bleibe laut Kemfert dennoch: "Wer zahlt diese Energiewende?" Die Anfangsinvestitionen der Energiewende werden sicherlich zum größten Teil von Unternehmen und kommunalen Energieversorgern getätigt werden, teilweise wird aber auch Finanzierung durch die öffentliche Hand notwendig sein. Wird der Anteil erneuerbarer Energien verdoppelt, müssen bis zu 122 Mrd. Euro in den kommenden 10 Jahren in diesen Sektor investiert werden, so die Schätzung des Bundesumweltministeriums. Die benötigten Fördermittel könnten, ebenso wie die zusätzlichen Ausgaben für die Energieforschung, aus dem Verkauf der CO2-Emissionsrechte erwirtschaftet werden. Für zusätzliche Gaskraftwerkskapazitäten von bis zu zehn Gigawatt müssen bis zu 15 Milliarden Euro investiert werden, und zwar von privaten Investoren wie Stadtwerken, sowie von Infrastruktur- und Energieunternehmen. In der Summe kommt man so auf Investitionen von knapp 200 Milliarden Euro in den kommenden 10 Jahren.

Diese Investitionen werden aber Wertschöpfung und Arbeitsplätze schaffen. Die deutsche Wirtschaft kann dabei vom Boom in erneuerbaren Energien profitieren, bei neuen Kraftwerken, bei der Steigerung der Energieeffizienz und bei nachhaltigen Gebäuden und Mobilitätsmodellen. Die Energiewende wird heute eingeleitet. Sie führt uns in eine nachhaltige Energieversorgung. Und sie bietet definitiv mehr Chancen als Risiken.

Ob Deutschland andere Länder, auch andere EU-Länder, überzeugen kann, auch diesen Weg einzuschlagen, wird davon abhängen, wie erfolgreich der Umstieg hin zu einer nachhaltigen Energiewende sein wird. Wenn es Deutschland schafft, den Anteil erneuerbarer Energien deutlich zu erhöhen und zugleich die Infrastruktur und Speicherung wirtschaftlich erfolgreich umzusetzen, werden andere Länder dem positiven Vorbild folgen, schloss Claudia Kemfert.

Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Homepage des Parlaments im Fotoalbum. (Schluss)