Parlamentskorrespondenz Nr. 274 vom 05.04.2013

EU braucht Mittelweg zwischen Defizitkontrolle und Wohlfahrtsstaat

AdR-Präsident Valcárcel Siso im Plenum des Bundesrats

Wien (PK) – Einen besonderen Gast konnten heute die Mitglieder des Bundesrats begrüßen. Der Präsident des Ausschusses der Regionen (AdR) Ramón Luis Valcárcel Siso gab im Plenum der Länderkammer eine Erklärung zum Thema "Die Rolle der Regionen in einem sich schnell wandelnden Europa" ab. Für Valcárcel Siso bedeutete dies eine Premiere, denn zum ersten Mal sprach er vor einem nationalen Parlament.

Solidarität ist ein Identitätsmerkmal Europas

Valcárcel Siso hielt ein eingehendes und emotionales Plädoyer für ein Europa der Regionen. Diese dürften keineswegs als Problem verstanden werden, wenn es darum geht, die EU aus der Krise zu führen, sagte er. Viel eher seien die Regionen die Lösung des Problems, da man dort näher bei den Menschen sei und genau wisse, wie und wo man am besten den Euro investiere und in welchen Bereichen Arbeitsplätze zu finden seien. Der Präsident des AdR hielt vor allem die hohe Arbeitslosigkeit als ein gefährliches Potential für die Zukunft Europas. Die beste Sozialpolitik sei die Schaffung von Arbeitsplätzen, sonst habe Europa keine Zukunft, appellierte er, denn das bringe Würde und Wohlstand. Die PolitikerInnen hätten die Verpflichtung, den Wohlfahrtsstaat weiter zu garantieren, es gelte, einen goldenen Mittelweg zwischen Defizitkontrolle und Wohlfahrtsstaat zu schaffen, forderte Valcárcel Siso.

Er zeigte sich überzeugt davon, dass Europa über die nötige Kraft und auch die Macht verfügt, die Probleme zu lösen, und zwar über den Mechanismus der Solidarität. Diese gelebte Solidarität sei Lebensweise, Ressource und Verpflichtung und somit Identitätsmerkmal der EU, so der flammende Appell des AdR-Präsidenten. Große Sorge bereitet Valcárcel Siso das Erstarken populistischer Parteien aufgrund der wachsenden Skepsis der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Es stelle sich die Frage, ob diese Parteien nach Überwindung der Krise auch noch bestehen, denn dann werde man ein Europa haben, das man nicht wolle. Valcárcel Siso rief daher die Bundesrätinnen und Bundesräte dazu auf, nicht nur den Euro zu retten, sondern vor allem auch die Menschen in Europa zu retten. In diesem Sinne sprach er sich explizit für mehr Herz in der Politik aus.

Valcárcel Siso beklagt "Governance-Defizit" in Europa

Sobald die wirtschaftlichen Grundlagen in Europa wieder ausgeglichen sind, müsse man eine Politik der stabilen, nachhaltigen und integrativen Wirtschaft mit selektiven Investitionen verfolgen, die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung garantiere, sagte er in weiterer Folge. Die "Strategie Europa 2020" sei dafür das beste Instrument, weil sie einen ausgewogenen Ansatz verfolge und der Tatsache Rechnung trage, dass Ziele flexibler zu gestalten sind. Die Strategie könne aber nur dann erfolgreich sein, wenn auch die regionalen Unterschiede anerkannt werden. In diesem Zusammenhang übte der Gast Kritik daran, dass die EU bei der Umsetzung der Strategie in Verzug geraten ist. Es bestehe ein "Governance-Defizit", analysierte er, da viele Regionen nicht aktiv an der Ausarbeitung nationaler Reformprogramme teilnehmen. Wenn sich das nicht ändere, so prophezeie er der "Strategie Europa 2020" das gleiche Schicksal wie der "Lissabon Strategie", warnte er und verlangte eindringlich, die Regionen einzubeziehen.

Der AdR-Präsident sah vor allem in der Partizipation die Schlüsselfrage zur Bewältigung der Krise und zur Wiederherstellung eines stabilen Europas, denn in den Regionen würden Qualität und Wirksamkeit von Entscheidungen sichtbar werden. Zentrale Politikfelder wie nachhaltiges Wachstum, sozialer Fortschritt und Integration seien nur dann zu realisieren, wenn die Legitimation sichergestellt und die Partizipation der regionalen Körperschaften sowie die demokratische Kontrolle gewährleistet seien. Er brach in diesem Zusammenhang eine Lanze für das Modell der Multi-Level-Governance. Gerade im Binnenmarkt gehe es darum, der Bedeutung der lokalen Aktivitäten in der Wirtschaft Rechnung zu tragen und die lokale mit der gesamteuropäischen Wirtschaft in Einklang zu bringen. 

Kritik an Neid, Geiz und mangelnden Visionen der politischen Klasse

Der AdR-Präsident ortete in Europa noch großen Reformbedarf und kritisierte scharf "Neid, Geiz und mangelnde Visionen" der politischen Klasse. Das sei der Grund dafür, dass es nicht gelungen ist, das Problem der lange Zeit herrschenden Tendenz in den Griff zu bekommen, schnelles Geld zu machen. "Wir müssen uns mehr auf die gemeinsame Politik konzentrieren, langfristig agieren und nicht nur auf einen kurzsichtigen politischen Nutzen zielen", appellierte Valcárcel Siso. In diesem Zusammenhang drängte er auf eine schnelle Verabschiedung des sogenannten "Two-Pack" zur Haushaltskontrolle und begrüßte die gemeinsame Bankenaufsicht, um den KMUs sowie für öffentliche Investitionen wieder das nötige Kapital zur Verfügung stellen zu können. Er unterstützte auch die beschlossene Jugendgarantie auf europäischer Ebene, die verhindere, dass eine verlorene Generation heranwächst. Der Plan könne aber nur gelingen, wenn dabei die Partizipation von Städten und Gemeinden gewährleistet wird, denn diese könnten am besten den Bedarf evaluieren. Valcárcel Siso hielt das gesamte Finanzsystem für reformbedürftig, was schwierig aber nicht unmöglich sei.

Wesentlich für die Zukunft Europas ist seiner Meinung nach zu verhindern, dass die Kluft zwischen Arm und Reich weiter aufgeht. Wir müssen den "Stier bei den Hörnern packen" und "an einem Strang ziehen", unterstrich er, und dabei hätten die Regionen eine große Aufgabe.

Europa sei eine "einzigartige und wunderbare Idee" und daran müssten alle Körperschaften mehr als bisher zusammen arbeiten, stellte er dezidiert fest. Es sei nämlich die Vielfalt, die Europa groß mache und dazu brauche es Toleranz und gegenseitige Achtung. Die Zusammenarbeit unter den Regionen und mit den Regionen dürfe an den EU-Außengrenzen nicht Halt machen, sondern müsse auch in die Nachbarschaft hinausgetragen werden, indem man vor allem kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit und Partizipation sucht.

Schennach: Wir dürfen nicht die Jugend verlieren

Auch Bundesrat Stefan Schennach (S/W) sah die Stärke Europas im Charakter und in der Identität der Regionen. Europa könne nur im Kontext mit den Regionen gefestigt werden, denn wir alle seien EuropäerInnen, zu Hause aber in den Regionen, merkte er an. Die Schaffung von Arbeitsplätzen und Innovationen finde in den Regionen statt und da liege der Schlüssel zur Bewältigung der Krise, sagte er. Schennach stimmte mit Präsident Valcárcel Siso überein, dass die soziale Dimension in Europa Kernpunkt für die Zukunft des Kontinents sei. Haushaltskonsolidierung und Bankensanierung stünden derzeit im Mittelpunkt, dabei laufe man aber Gefahr, die Jugend zu verlieren, warnte Schennach. Jugend müsse ein gemeinsames Anliegen sein, denn an ihr liege es, dass Europa nicht scheitert. Dabei hätten Städte und Regionen eine historische Verantwortung, die es aufzugreifen gelte und auf deren Grundlage auch die Säule der sozialen Union entstehen sollte.

Der SPÖ Bundesrat richtete im Hinblick auf die von den Kommunen und Regionen bereitgestellten sozialen Dienstleistungen für die BürgerInnen kritische Worte an die Kommission. Mit der Liberalisierung der Daseinsvorsorge und Destabilisierung müsse endlich Schluss sein, sagte Schennach und zeigte sich froh, dass man in dieser Frage im Ausschuss der Regionen einen wichtigen Partner hat.

Kneifel: Regionen helfen, Demokratie in Europa zu stärken

Ähnlich wie sein Vorredner Schennach, der die Entwicklung des Bundesrats zu einer "Europakammer" gezeichnet hatte, unterstrich Bundesrat Gottfried Kneifel (V/O), die Länderkammer übe eine wichtige Brückenfunktion zwischen den Regionen und den Brüsseler Institutionen aus. Regionen könnten Grenzen überwinden und flexibel und bürgernah Probleme lösen, konstatierte er. Sie helfen, die Demokratie in Europa zu stärken und seien ein wesentliches Rezept gegen übertriebene nationale Strömungen. Die Regionen zeichneten sich durch die Vielfalt der Traditionen, Sprachen, der Kultur und der Geschichte aus und brächten sich damit wertvoll in den Einigungsprozess ein.

Auch Kneifel ging auf die aktuelle Krisensituation in Europa ein, die geeignet sei, den Glauben und das Vertrauen an das europäische Konzept zu erschüttern. Die Politik sei daher aufgerufen, für das Projekt Europa zu werben und die Probleme zu lösen, wobei das Konzept des Föderalismus und Regionalismus einen großen Beitrag leisten könnte, zeigte er sich überzeugt. Es sei notwendig, regionale und lokale Kompetenzen in die europäische gemeinsame Arbeit einzubringen, hielt Kneifel fest. An der Haushaltsdisziplin führe kein Weg vorbei, aber es gehe in erster Linien um Sparen und Wachsen. Ein großes Problem ortete der Redner vor allem in der Regulierungswut von Brüsseler Institutionen.

Dörfler: Vitale Regionen und starke Nationalstaaten

In seiner ersten Rede als Bundesrat unterstrich Gerhard Dörfler (F/K) die Notwendigkeit vitaler Regionen und starker Nationalstaaten als eine unverzichtbare Basis für ein stabiles Europa. Als ein Beispiel einer funktionierenden regionalen Zusammenarbeit stellte der ehemalige Kärntner Landeshauptmann das Projekt "Euregio Senza Confini" vor, das aus der Olympiabewerbung entstanden ist und die Regionen Istrien, Veneto, Friaul und Kärnten verbindet. Es sei für ihn eine faszinierende Aufgabe, zu Nachbarn und Freunden Brücken zu bauen. Deshalb habe er auch ein Projekt mit Sarajevo initiiert, um die historische Belastung unter diesen Regionen abzubauen und die Nachbarschaft in eine neue Zukunft zu führen. Es gehe um die Toleranz, so Dörfler, der ein Plädoyer für die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen hielt.

Kerschbaum: Zu wenig Präventivmaßnahmen, um Krisen zu verhindern

Föderalismus sei wichtig und gut, es gebe aber auch europäische Probleme, die nicht auf regionaler Ebene zu lösen sind, machte Bundesrätin Elisabeth Kerschbaum (G/N) aufmerksam. Sie übte insbesondere Kritik daran, dass ihrer Ansicht nach derzeit zu wenig Präventivmaßnahmen gesetzt werden, um zukünftige Krisen zu verhindern.

Vor allem müsse auch der Steuerhinterziehung Einhalt geboten werden, denn das abgeflossene Geld fehle zur dringenden Bewältigung der Probleme. Kerschbaum sprach in diesem Zusammenhang die hohe Arbeitslosigkeit in Europa an und forderte einheitliche soziale Standards in der EU. Wenn die EU ein Friedensprojekt sei, dann müsse sie sich auch mit sozialen Belangen befassen, hielt sie fest. Es gelte aber auch, massive Umweltprobleme zu bewältigen und vor allem der Politikverdrossenheit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Lösungsansätze müssten teilweise aus den Regionen kommen, sagte Kerschbaum, Brüssel sei dabei gefordert, die Regionen auch anzuhören und in diesem Zusammenhang übe der Ausschuss der Regionen eine wichtige Funktion aus.

Ihr Fraktionskollege Marco Schreuder (G/W) griff das spezielle Problem der hohen Einkommensunterschiede innerhalb Europas auf, was zu großen Wanderungsbewegungen von ländlicher Bevölkerung in die urbanen Gebiete führe. Dort seien die Menschen Spekulanten ausgeliefert und würden ausgebeutet. Die betreffenden Bürgermeister hätten sich bislang vergeblich an die EU um Hilfe gewendet. Deshalb appellierte Schreuder an Präsident Valcárcel Siso, sich dieser Frage anzunehmen und eine diesbezügliche klare und harte politische Haltung einzunehmen. (Fortsetzung Bundesrat) jan

HINWEIS: Fotos finden Sie von diesem Besuch im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at.


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